Die Idee des musikalischen Kunstwerks bildet den Fluchtpunkt, der den Bereich der Musik in seinem ästhetischen Eigensinn erschließt. Selbst jene musikalischen Formen, die keine Werkgestalt besitzen wollen, stehen, sofern sie überhaupt Kunst zu sein beanspruchen, noch in Beziehung zu ihr. Gunnar Hindrichs widmet sich in seinem faszinierenden Buch der Artikulation dieser Idee. In enger Tuchfühlung sowohl mit der europäischen Musik von der Gregorianik bis zum Komplexismus als auch mit der philosophischen Ästhetik und Metaphysik entwickelt er sechs Grundbegriffe, die das musikalische Kunstwerk ausmachen: Material, Klang, Zeit, Raum, Sinn und Gedanke. Zusammen ergeben sie eine Ontologie des Musikwerks aus der Perspektive der ästhetischen Vernunft.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit Gunnar Hindrichs "Autonomie des Klangs" hat Rezensent Günter Figal ein Ausnahmebuch gelesen. Allein Hindrichs Ansatz, die Musik auf ihre Eigengesetzlichkeit hin zu untersuchen, hat den Kritiker tief beeindruckt. Er lernt von dem Professor für Philosophie, der im Wesentlichen europäische Musik von Monteverdi und Bach bis Spahlinger und Mahnkopf untersucht, dass die Kunst ihre Wahrheit nicht im Scheitern ihrer "tonsystematischen Ordnung" erweisen muss und Epochenumbrüche eher flach zu betrachten seien. Brillant, wie Hindrichs gelassen, aber umsichtig die "Ontologie" der Musik beschreibt und sich schließlich dem "musikalischen Gedanken" nähert, meint der Rezensent, der auch seinem Ansatz, die "phänomenologische Herangehensweise" zu verwerfen, gut folgen kann. Nicht zuletzt gerät Figal dieses lehrreiche und originär philosophische Buch auch zur Suche nach dem "verlorenen Klang".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2014Manche komponieren eben nur Klänge und keine Musik
Hier geht es ums Ganze: Gunnar Hindrichs entwirft eine neue Philosophie der Tonkunst im Fahrwasser Adornos
Die Frage, ob es eigentlich einer (neuen) Philosophie der Musik bedürfe, entkräftet sich selbst. Denn die Musik gilt seit der Antike als eine besondere Herausforderung an den denkenden Menschen, und hieran hat sich auch nichts geändert in Zeiten, in denen man systemischen Entwürfen skeptisch gegenübersteht. Im Gegenteil, in den vergangenen Jahren ist sogar ein gesteigertes Interesse daran zu beobachten, die Musik "an sich" in den Blick zu nehmen.
Das Buch von Gunnar Hindrichs, der im Untertitel den unbestimmten Artikel "einer" Philosophie der Musik geltend macht, fügt sich dieser Tendenz, einerseits. Andererseits geht es doch in einer unerwarteten Deutlichkeit um das Ganze, es geht also um nicht weniger als um "eine ästhetische Musikontologie". Der Verfasser stört sich an der Dichotomie zwischen theoretischer Vernunft und bloßer Verstehenslehre, die alle Philosophien der Musik durchziehe. Dagegen setzt er die Überzeugung, dass "Musik der Vollzug ästhetischer Vernunft" sei.
Damit ist die Tonlage seines Buches gesetzt. Nach einer Einleitung werden sechs ungefähr gleichgewichtige Grundbegriffe bestimmt und axiomatisch durchdekliniert: Material, Klang, Zeit, Raum, Sinn und, Schönberg folgend, Gedanke. Bezugsebene ist das autonome musikalische Kunstwerk "als der Idealtyp des europäischen Musikverständnisses". Das Kunstwerk als "ein Seiendes, das erklingt", bildet also den Kern seiner Ontologie.
Zweifellos verfährt Hindrichs in seiner Auffaltung des Musikbegriffs scharfsinnig, getragen vom Bedürfnis, den Dingen eine größtmögliche Präzision zu verleihen. Das Unbehagen, das sich bei der Lektüre dennoch einstellt, liegt daher weniger im nicht auf das Diskursive zielenden Ton als in der Art der Gegenstandssicherung. Selbstverständlich legen Titel und Terminologie eine Auseinandersetzung mit Adorno nahe, die das Buch wie ein roter Faden durchzieht. Damit allerdings beginnen die Schwierigkeiten.
Obwohl Hindrichs die Kritik an Adornos Material- und Werkbegriff bedenkt - wenn auch etwas verblüffend einzig unter Berufung auf Erich Doflein -, so will er doch nicht von ihr lassen. Und damit auch nicht von einem auf lineare Entfaltung zielenden Musikbegriff. So geht es also am Ende nicht um "die" Musik, sondern um "eine" Musik, und zwar um eine ganz bestimmte Musik unter einem ganz bestimmten Blickwinkel. Wer für eine Lagebestimmung der "Musik unserer Zeit" Claus-Steffen Mahnkopf bemüht, der verfällt zwar notwendig auf die Namen Lachenmann und Spahlinger, Ferneyhough, Xenakis und Grisey. Doch wird damit, in diesem der deutschen Wirklichkeit verpflichteten Kanon, die Perspektive allzu leichtfertig verengt. Der Begriff des Kunstwerks, den Hindrichs entwickelt, betrifft nur einen klar begrenzten Ausschnitt aus der musikalischen Wirklichkeit.
Die gelegentlichen Ausflüge in die Geschichte, die das Buch durchziehen, wirken daher eigenwillig. Wer die Tatsache, dass der polyphone Kirchenmusik-Stil der Spätrenaissance und der deklamatorische Opernstil Monteverdis ("Seconda prattica") in derselben Epoche und beim selben Komponisten existierten, als "Gleichzeitigkeit von musikalisch Ungleichzeitigem" bezeichnet, kann das nur geschichtsphilosophisch, nicht aber im Rückgriff auf Monteverdi begründen. Oder: Ob man Mensuralmusik tatsächlich als "Darstellung aufgehobener Zeit" beschreiben kann, erscheint deswegen fragwürdig, weil die Theoretiker des vierzehnten Jahrhunderts gerade vom Gegenteil überzeugt waren.
So gewinnt die Argumentation ihre Plausibilität allein aus der Ordnung der Dinge im Blick auf einen ganz besonderen Musikbegriff. Gegenpositionen werden, sofern ausdrücklich erwähnt, mit leichter Hand weggewischt: Die Postmoderne sei eine "schlechte Restauration musikalischer Mittel"; Ernst Kurths gestaltpsychologische Begründung tonaler Fortschreitung gilt als "verfehlt"; der in jüngerer Zeit wiederentdeckte Vladimir Jankélévitch, der gegen sich gegen eine Verengung der Musik auf logische Materialentfaltung wandte, wird in einer Fußnote zum fehlgeleiteten Nietzsche-Epigonen.
In der Konzentration auf einen Musikbegriff, der von den Protagonisten bestimmter Nachkriegsavantgarden nicht ohne Absolutheitsanspruch zugespitzt wurde, verrutschen die Perspektiven - auch deswegen, weil gerade die Parameter von Material, Logik und Sinn hier eine auf Exklusivität zielende Dogmatik angenommen haben. Die Voraussetzungen dafür gründen im achtzehnten Jahrhundert, sie wurden in der Auseinandersetzung mit Hegel gebildet und geschärft.
Gerade deswegen verhalten sich jene Phänomene sperrig, die dieser Tradition bewusst ausweichen oder unbewusst gegen sie opponieren. Die Reihe der Kronzeugen ist lang, sie reicht von Bruckner über Ravel, Sibelius, Strauss, Hindemith und Schostakowitsch bis zu Dutilleux, Zimmermann, Ligeti, Schnittke oder Penderecki. Das Festhalten an einem Musikbegriff der in historischen Fortschritten sich bewegenden "Logik des Materials" erweist sich somit als schwierig, weil dieser Begriff inzwischen selbst historisch geworden ist - und weil die eigenwillige Scheidung der Dinge in Musik und in Klangformationen, die irgendwie nicht recht dazugehören, als willkürlich und, bei größer werdendem zeitlichem Abstand, als befremdlich erscheinen muss.
Es gibt in jüngerer Zeit Entwürfe, die darauf zu reagieren versuchen, Karol Bergers "Theory of Art" zum Beispiel. Doch führen diese nicht zu Korrekturen der Materialästhetik, sondern zu ihrer Aufhebung. Hindrichs diskutiert solche Tendenzen nicht, weil sie einige seiner Grundannahmen erschüttern würden. Man muss angesichts der gegenwärtigen Pluralität der musikalischen Erscheinungen gewiss nicht der Auflösung in eine diffuse musikalische Klangwissenschaft das Wort reden.
Es bleibt jedoch der irritierende Eindruck, hier werde nochmals von der Philosophie aus festgeschrieben, was Musik ist. Hindrichs bemüht dazu am Ende sogar das Modell des vierfachen Schriftsinns und unternimmt schließlich gar Ausflüge in die Theologie. Die Selbsttäuschung, damit "die" Musik zu erfassen, hat inzwischen eine lange wissenschaftliche Tradition. Im ebenso präzise wie lakonisch formulierten Buch von Gunnar Hindrichs, das am Ende doch nur "die" Philosophie "einer" Musik ist, erfährt diese Haltung nochmals eine Konkretion, die unterdessen wie ein Denkmal ihrer selbst wirkt.
LAURENZ LÜTTEKEN
Gunnar Hindrichs: "Die Autonomie des Klangs". Eine Philosophie der Musik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 272 S., br., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier geht es ums Ganze: Gunnar Hindrichs entwirft eine neue Philosophie der Tonkunst im Fahrwasser Adornos
Die Frage, ob es eigentlich einer (neuen) Philosophie der Musik bedürfe, entkräftet sich selbst. Denn die Musik gilt seit der Antike als eine besondere Herausforderung an den denkenden Menschen, und hieran hat sich auch nichts geändert in Zeiten, in denen man systemischen Entwürfen skeptisch gegenübersteht. Im Gegenteil, in den vergangenen Jahren ist sogar ein gesteigertes Interesse daran zu beobachten, die Musik "an sich" in den Blick zu nehmen.
Das Buch von Gunnar Hindrichs, der im Untertitel den unbestimmten Artikel "einer" Philosophie der Musik geltend macht, fügt sich dieser Tendenz, einerseits. Andererseits geht es doch in einer unerwarteten Deutlichkeit um das Ganze, es geht also um nicht weniger als um "eine ästhetische Musikontologie". Der Verfasser stört sich an der Dichotomie zwischen theoretischer Vernunft und bloßer Verstehenslehre, die alle Philosophien der Musik durchziehe. Dagegen setzt er die Überzeugung, dass "Musik der Vollzug ästhetischer Vernunft" sei.
Damit ist die Tonlage seines Buches gesetzt. Nach einer Einleitung werden sechs ungefähr gleichgewichtige Grundbegriffe bestimmt und axiomatisch durchdekliniert: Material, Klang, Zeit, Raum, Sinn und, Schönberg folgend, Gedanke. Bezugsebene ist das autonome musikalische Kunstwerk "als der Idealtyp des europäischen Musikverständnisses". Das Kunstwerk als "ein Seiendes, das erklingt", bildet also den Kern seiner Ontologie.
Zweifellos verfährt Hindrichs in seiner Auffaltung des Musikbegriffs scharfsinnig, getragen vom Bedürfnis, den Dingen eine größtmögliche Präzision zu verleihen. Das Unbehagen, das sich bei der Lektüre dennoch einstellt, liegt daher weniger im nicht auf das Diskursive zielenden Ton als in der Art der Gegenstandssicherung. Selbstverständlich legen Titel und Terminologie eine Auseinandersetzung mit Adorno nahe, die das Buch wie ein roter Faden durchzieht. Damit allerdings beginnen die Schwierigkeiten.
Obwohl Hindrichs die Kritik an Adornos Material- und Werkbegriff bedenkt - wenn auch etwas verblüffend einzig unter Berufung auf Erich Doflein -, so will er doch nicht von ihr lassen. Und damit auch nicht von einem auf lineare Entfaltung zielenden Musikbegriff. So geht es also am Ende nicht um "die" Musik, sondern um "eine" Musik, und zwar um eine ganz bestimmte Musik unter einem ganz bestimmten Blickwinkel. Wer für eine Lagebestimmung der "Musik unserer Zeit" Claus-Steffen Mahnkopf bemüht, der verfällt zwar notwendig auf die Namen Lachenmann und Spahlinger, Ferneyhough, Xenakis und Grisey. Doch wird damit, in diesem der deutschen Wirklichkeit verpflichteten Kanon, die Perspektive allzu leichtfertig verengt. Der Begriff des Kunstwerks, den Hindrichs entwickelt, betrifft nur einen klar begrenzten Ausschnitt aus der musikalischen Wirklichkeit.
Die gelegentlichen Ausflüge in die Geschichte, die das Buch durchziehen, wirken daher eigenwillig. Wer die Tatsache, dass der polyphone Kirchenmusik-Stil der Spätrenaissance und der deklamatorische Opernstil Monteverdis ("Seconda prattica") in derselben Epoche und beim selben Komponisten existierten, als "Gleichzeitigkeit von musikalisch Ungleichzeitigem" bezeichnet, kann das nur geschichtsphilosophisch, nicht aber im Rückgriff auf Monteverdi begründen. Oder: Ob man Mensuralmusik tatsächlich als "Darstellung aufgehobener Zeit" beschreiben kann, erscheint deswegen fragwürdig, weil die Theoretiker des vierzehnten Jahrhunderts gerade vom Gegenteil überzeugt waren.
So gewinnt die Argumentation ihre Plausibilität allein aus der Ordnung der Dinge im Blick auf einen ganz besonderen Musikbegriff. Gegenpositionen werden, sofern ausdrücklich erwähnt, mit leichter Hand weggewischt: Die Postmoderne sei eine "schlechte Restauration musikalischer Mittel"; Ernst Kurths gestaltpsychologische Begründung tonaler Fortschreitung gilt als "verfehlt"; der in jüngerer Zeit wiederentdeckte Vladimir Jankélévitch, der gegen sich gegen eine Verengung der Musik auf logische Materialentfaltung wandte, wird in einer Fußnote zum fehlgeleiteten Nietzsche-Epigonen.
In der Konzentration auf einen Musikbegriff, der von den Protagonisten bestimmter Nachkriegsavantgarden nicht ohne Absolutheitsanspruch zugespitzt wurde, verrutschen die Perspektiven - auch deswegen, weil gerade die Parameter von Material, Logik und Sinn hier eine auf Exklusivität zielende Dogmatik angenommen haben. Die Voraussetzungen dafür gründen im achtzehnten Jahrhundert, sie wurden in der Auseinandersetzung mit Hegel gebildet und geschärft.
Gerade deswegen verhalten sich jene Phänomene sperrig, die dieser Tradition bewusst ausweichen oder unbewusst gegen sie opponieren. Die Reihe der Kronzeugen ist lang, sie reicht von Bruckner über Ravel, Sibelius, Strauss, Hindemith und Schostakowitsch bis zu Dutilleux, Zimmermann, Ligeti, Schnittke oder Penderecki. Das Festhalten an einem Musikbegriff der in historischen Fortschritten sich bewegenden "Logik des Materials" erweist sich somit als schwierig, weil dieser Begriff inzwischen selbst historisch geworden ist - und weil die eigenwillige Scheidung der Dinge in Musik und in Klangformationen, die irgendwie nicht recht dazugehören, als willkürlich und, bei größer werdendem zeitlichem Abstand, als befremdlich erscheinen muss.
Es gibt in jüngerer Zeit Entwürfe, die darauf zu reagieren versuchen, Karol Bergers "Theory of Art" zum Beispiel. Doch führen diese nicht zu Korrekturen der Materialästhetik, sondern zu ihrer Aufhebung. Hindrichs diskutiert solche Tendenzen nicht, weil sie einige seiner Grundannahmen erschüttern würden. Man muss angesichts der gegenwärtigen Pluralität der musikalischen Erscheinungen gewiss nicht der Auflösung in eine diffuse musikalische Klangwissenschaft das Wort reden.
Es bleibt jedoch der irritierende Eindruck, hier werde nochmals von der Philosophie aus festgeschrieben, was Musik ist. Hindrichs bemüht dazu am Ende sogar das Modell des vierfachen Schriftsinns und unternimmt schließlich gar Ausflüge in die Theologie. Die Selbsttäuschung, damit "die" Musik zu erfassen, hat inzwischen eine lange wissenschaftliche Tradition. Im ebenso präzise wie lakonisch formulierten Buch von Gunnar Hindrichs, das am Ende doch nur "die" Philosophie "einer" Musik ist, erfährt diese Haltung nochmals eine Konkretion, die unterdessen wie ein Denkmal ihrer selbst wirkt.
LAURENZ LÜTTEKEN
Gunnar Hindrichs: "Die Autonomie des Klangs". Eine Philosophie der Musik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 272 S., br., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Bücher zur Kunst, die so originär philosophisch und zugleich so kundig in der behandelten Sache wie das vorliegende sind, gibt es gegenwärtig nicht viele.« Günter Figal Neue Zürcher Zeitung 20150105