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Im September 1935 richtet Isaiah Berlin an seine Briefpartnerin Elizabeth Bowen eine Frage, von der, da sie am Ende eines langen Briefes steht, in welchem Politisches, Ästhetisches, Amouröses und Philosophisches gleichermaßen parlando berührt werden, seltsam in der Schwebe bleibt, worauf sie sich eigentlich bezieht: "Hast Du jemals in einer Atmosphäre gelebt, in der alles, was Du sagst & tust symbolisch, zeichenhaft wichtig, furchtbar ernst und entscheidend ist?"
Die Frage hat, wie derartige Äußerungen bei Berlin immer, beträchtlichen rhetorischen Schwung und klingt erhaben existentiell - bis man sich klarmacht, daß sie ziemlich genau die Lebenssituation von Leuten beschreibt, die tun und lassen, sagen und verschweigen können, was sie wollen, und doch immer zu spüren bekommen werden, daß sie nicht zu "den Leuten" zählen, die "hier leben" und "hier hingehören". So fühlt sich Rassismus an, zum Beispiel für Deutsche, die keine Deutschen sein sollen: hier geborene, nie woanders ansässige, dennoch ständig abgefragte, taxierte, rassifizierte Menschen. Ihre Existenz müßte dem liberalen, demokratischen, modernen Bewußtsein ein besonderes Ärgernis, ja eine Schmach sein.
Mark Terkessidis, dessen Monographie ("Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive". Transcript Verlag, Bielefeld 2004. 226 S., br., 23,80 [Euro]) sich mit dieser Bevölkerungsgruppe und ihren diskursiven Selbstverteidigungsmöglichkeiten auseinandersetzt, hat unlängst in einem Artikel für die "tageszeitung" darauf hingewiesen, daß beliebige symbolpolitische Provokationen der NPD verläßlich mehr Debatte und Bestürzung auslösen als der Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft für zahllose hier lebende Menschen infolge einer soeben durchgesetzten unzulänglichen Reform einschlägigen Rechts. Dieses Mißverhältnis hat System: Um das darzulegen und zu analysieren, ist Terkessidis' Monographie geschrieben worden.
Der Autor, der zuvor schon mit Überlegungen zur Aktualität des "Kulturkampf"-Schemas und dem Entwurf einer "Psychologie des Rassismus" hervorgetreten ist, verbietet sich, wann immer er über solche Themen schreibt, die hierzulande bei derlei Themen sehr beliebte induktiv-handwerkelnde Sozialarbeitertaktik, sich den Gegenstand primär statistisch, fragebogen-empirisch oder karitativ-moralisch zu erschließen. Er fängt daher seine Studie mit einer Begriffskritik an, die neben aufschlußreichen bibliometrischen Beobachtungen über das An- und Abschwellen von Rassismusliteratur je nach sozialem Klima und Gesetzeslage vor allem terminologische Formeln wie die "Ausländer-" und "Fremdenfeindlichkeit" als Momente einer Dynamik angestrengter Normalisierungsversuche entschlüsselt. Es sind Begriffe, die oft sozusagen Fangfragen an Betroffene stellen, bei denen gar keine anderen als problematische Antworten herauskommen können - wie sollen "Fremdheit" oder "Ausländersein" sich als Beschreibungen des Lebens von Leuten, die hier geboren sind, anders denn in rassistischem Sinne eignen?
Die Erfahrung solcher Leute steht, nach der Begriffskritik, dann im zweiten Teil des Buches im Mittelpunkt. Hier werden in so noch nicht vorgekommener Übersichtlichkeit jene Alltagssituationen und rhetorisch-psychologischen Verhaltensprogramme inventarisiert, die das eben nicht spektakuläre, eben nicht von Brandschatzung und Mord gekennzeichnete, sondern ganz normale, alltägliche, banale rassistische Geschehen steuern: Wie es ist, wenn man ständig darauf verwiesen wird, woanders hinzugehören, was es bedeutet, wenn einem die eigenen Äußerungen und Taten nicht mehr individuell zugerechnet werden, sondern exemplarisch für "das südländische Temperament" oder die "asiatische Höflichkeit" stehen sollen.
Zwar ließen sich auch ein paar kleine Einwände gegen die Überzeugtheit des Autors von der sozialen Singularität seines Gegenstandes erheben; die ist aber wohl eine Konsequenz der notwendigen Kurzsichtigkeit des Wissenschaftlers. Mehrfach begegnet man im Buch der Behauptung, die Existenz von Klassenschranken oder sexistischer Benachteiligung sei in Deutschland heute anders als die des alltäglichen Rassismus praktisch unumstritten. Das ist eine These, die man dem Verfasser vielleicht rasch abgewöhnen könnte, wenn er einmal eine Woche in einem Mediengroßbetrieb oder an einer naturwissenschaftlichen Universitätsfakultät verbringen müßte, wo man von der Armut oder vom Sexismus hauptsächlich weiß, daß die Achtundsechziger und Alice Schwarzer sich das ausgedacht haben.
Immerhin aber hat die heuristische Vorannahme, es mit einem gegenüber anderen vergleichbaren Problemen zu stark auf spektakuläre Einzelkatastrophen wie etwa Skinhead-Verbrechen hin orientierten Diskussionskomplex zu tun zu haben, ein Buch hervorgebracht, wie es normalerweise hierzulande erst aus dem Französischen oder Englischen übersetzt werden muß, damit man darüber diskutieren kann. Die Perspektive der jungen Hiergeborenen, die am Ende der Studie angedeutet wird, sieht so aus: Es geht um das gezielt politisierte Instrumentalisieren der rassistischen Alltagssituationen zur Gewinnung eines diskursiven Wissens über Rassismus, wie es für den Abwehrkampf nützlich ist.
Wem diese Perspektive zu defensiv oder zu partikularistisch ist, der wird sich eben mit seinen deutschen Landsleuten streiten müssen, um sie zu zwingen, den betreffenden Menschen eine schönere und universalere Aussicht zu eröffnen als diejenige darauf, sich im banalen Alltag so oft und so gut es eben geht zu wehren.
DIETMAR DATH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Wolfram Stender, Migration und Soziale Arbeit, 3/4_(2006) 19991230