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Von der Ironie unartiger Kinder: Jean Staffords einflussreicher Roman "Die Berglöwin" erscheint neu übersetzt
"Molly war nicht nur hässlich, sie hatte etwas Hausgemachtes an sich, sie sah aus, als wäre sie von einer unerfahrenen Hand zusammengesetzt." Sie schreibt Briefe an Präsident Hoover, in denen sie barsch eine Schreibmaschine für sich fordert, aber sie glaubt nicht an das Glück und kann sich selbst nur als "lange Holzkiste mit Geist darin" vorstellen. Molly ist der Typ Mädchen, den niemand mag, nicht einmal die eigene Mutter: unansehnlich, unbeholfen und unartig, schroff und sarkastisch, überschlau, snobistisch und gefühlskalt. Kurz: eine vorlaute, achtjährige Nervensäge ohne mildernde kindliche Unschuld oder mädchenhafte Anmut. Ralph, ihr zwei Jahre älterer Bruder, ist der Einzige, der seine wunderliche Schwester - meistens - versteht und verteidigt, aber er ist ein Junge, und auch seine Geduld ist endlich.
Jean Stafford schildert in ihrem 1947 erschienenen Roman "Die Berglöwin", wie die beiden Geschwister sich in einer Festung aus Trotz, Angst, Liebe und Hass verschanzen, wie sie sich aneinander klammern und langsam auseinanderleben, als Ralph zum Mann und Molly zur selbstzerstörerischen Dichterin reift. Es ist, wie es Katryn Davis im Vorwort zur amerikanischen Neuausgabe 2010 ausdrückte, "eine Geschichte von der Unmöglichkeit, erwachsen zu werden, und der Unmöglichkeit, ein Kind zu bleiben". Oder, wie es Jürgen Dormagen jetzt in seinem Nachwort zur deutschen Neuübersetzung formuliert: Staffords Roman zweier unglücklich ineinander verhakter Kindheiten sei ein unsentimentales "Erwachsenenbuch, kein sich freundlich hinabbeugender Coming-of-Age-Roman".
Molly ist klein, aber hart und grimmig entschlossen, eines jener ungehorsamen Kinder zu bleiben, die in jeder harmoniebedürftigen Familie unangenehm auffallen, auch im damals immer noch ziemlich rauhen Wilden Westen der zwanziger Jahre. Wenn die langweiligen Tanten zu Besuch kommen, wenn Pastor Follansbee mit bräsiger Bildungshuberei nervt und seine Frau mit gouvernantenhaften Belehrungen, platzt Molly mit ihrem frühreifen Snobismus, unschicklichen Gedanken und verbotenen Wörtern heraus, die so peinlich wie ihr Nasenbluten sind. Die Mutter hält sehr auf Anstand, Würde und Konvention, aber ihr vornehmes Getue kann die stachelige Molly weder täuschen noch schrecken. Nur Ralph und der fröhlich-ungehobelte, weitgereiste Großvater Kenyon können das unmögliche Mädchen leiden, aber die geschwisterliche Symbiose ist labil, und der Großvater stirbt bald.
Nach seinem Tod werden die beiden jüngeren Kinder auf die Ranch seines Sohns, einer "bescheidenen Ausgabe" des imposanten Alten, abgeschoben, während die Mutter mit den zwei ältesten Töchtern auf Weltreise geht. Das unangenehme Bewusstsein, zurückgesetzt und alleingelassen, zu Gentleman und Dame dressiert zu werden, könnte Ralph und Molly noch enger zusammenschweißen. Aber auf der Farm in den Rocky Mountains, unter grobianischen Cowboys, Rinderzüchtern und Pumas, wird aus geschwisterlicher Nähe und bedingungslosem Vertrauen erst Fremdheit und schließlich fast so etwas wie Hass. Ralph orientiert sich an seinem kauzigen Onkel, der ihm die Angst vor dem Schießen, Reiten, Besamen und Kalben nimmt, und ist auch nicht länger unempfänglich für die herben Reize von Kusine Winifred. Molly muss ihren Bruder schweren Herzens auf die "Liste der Unverzeihlichen" setzen, wo schon fast alle Verwandten und Bekannten (und am Ende auch sie selbst) stehen. Die hexenhafte alte schwarze Köchin seufzt halb verächtlich, halb mitfühlend: "O mein Gott! Das arme kleine bisschen weißer Abschaum."
Jean Stafford, 1915 in Covina nahe Los Angeles geboren und in Colorado Springs, Texas, aufgewachsen, gehörte selbst zum white trash und trug einige Züge ihrer Heldin. "Ich war so sehr Molly, dass ich schließlich ihr Buch schreiben musste", sagte sie einmal. Sie war "Goldlöckchen", die Berglöwin in einer Männerwelt der Pferde- und Waffennarren, aber sie fiel auch durch hässliche Wahrheiten und Gedichte auf, die kaum jemand verstand. Stafford bewunderte Henry James und Mark Twain, aber eigentlich entsprach sie mit ihrem unsteten Leben - Alkohol, Depressionen, drei Ehen, darunter eine sehr schwierige mit Robert Lowell - und ihrer kühlen, distanzierten Erzählsprache eher der europäischen Moderne jener Jahre. Ihre drei Romane, allen voran die "Berglöwin", wurden von der Kritik gefeiert, für ihre Erzählungen im "New Yorker" bekam sie 1970 den Pulitzer-Preis; aber in Europa blieb Stafford weitgehend unbekannt.
Jetzt, sechzig Jahre nach der ersten Übertragung ins Deutsche, ist "The Mountain Lion" von Adelheid und Jürgen Dormagen neu übersetzt worden. Zu entdecken ist ein Werk, das seinerzeit nicht einmal zu Unrecht als "Wildwestroman" angekündigt wurde und doch viel mehr ist: eine Hymne auf die "verflixt verwegene Schönheit" der Berge, eine Erinnerung an den Geschmack von Prachthimbeermarmelade und Indianerreis und den "säuerlichen Geruch von ledernen Hosenträgern", und ein Kindheitsroman, der Kinder nicht als Opfer erwachsener Unempfindlichkeit verniedlicht, sondern als selbständig denkende und fühlende Individuen ernst nimmt. "Das Wichtigste beim Schreiben ist die Ironie", schrieb Stafford einmal, "und wir finden Ironie ganz deutlich bei Kindern. Gerade die Unschuld von Kindern ist Ironie."
MARTIN HALTER
Jean Stafford: "Die Berglöwin". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Adelheid und Jürgen Dormagen. Dörlemann Verlag, Zürich 2020.
352 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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