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Ausweitung der Wohnzone: Elisabeth von Thadden über Distanzierungstechniken
Wenn es weg ist, werden wir nervös, ist der Dauerkontakt mit seiner Kunststoffoberfläche nicht gewährleistet, fehlt uns etwas, ist die Kommunikation unterbrochen, nagt es an unserem Selbstwert: Längst ist das Smartphone Teil unseres Ichs geworden, unseres Seelenlebens, aber auch unseres Körpers. Wer heute über Berührungen spricht, kommt also nicht umhin, die digitale Zone zu betreten, in der sich das Gefühlsleben in physischer Distanz zum Gegenüber verwirklicht. Das prägt auch die Erkundungen der Journalistin Elisabeth von Thadden, die der "berührungslosen Gesellschaft" auf den Grund zu gehen versucht. Dabei nähert sie sich dem Thema mittels einer Synthese aus Soziologie und Emotionsforschung, journalistischer Szenenbeschreibungen sowie Gesprächen mit Experten.
Was passiert mit uns in dieser "flachen, glatten Welt"? "Wir veröden. Wir verrotten", sagt der Tastsinnforscher Martin Grunwald zu der Autorin. So sehr gleiche das Gerät inzwischen einem eigenen Körperteil, schreibt von Thadden, dass seine Berührung einer Selbstberührung gleichkomme, einer "Vergewisserung, dass man lebt". Wie aber ist das möglich, wenn die digitale Kommunikation gleichzeitig eine Distanz erzeugt, die das Gegenüber körperlich nicht mehr erfahrbar macht?
Als lebensnotwendig beschreibt von Thadden körperliche Berührungen, insbesondere bei Kindern. Aber auch Erwachsene hätten "Hauthunger", die Bildschirmoberflächen seien ein "Substitut für die menschliche Haut, glatt und kühl, ein Kompromiss zwischen lebendig und tot", und sie erzeugten gleichzeitig "über die räumliche Ferne hinweg eine Nähe", die auf die Nutzer physisch wirke. Doch in der digitalen Welt obsiege das Kontrollbedürfnis über das Unverfügbare, das jeder menschlichen Beziehung eigen sei. Wo "Offliner" vor allem unter jüngeren Generationen kaum noch existent sind, wie erst kürzlich eine Studie des Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet belegt hat, wird "Online" zur Innenwelt. In den Schilderungen von Thaddens korrespondiert diese digitale Okkupation der Seele mit einer Flucht vor Widerständen.
Einen entscheidenden Einfluss auf das Meiden körperlichen Kontakts hat von Thadden zufolge, und das gehört zu den stärksten Befunden ihrer Analyse, die stetige Zunahme des individuellen Wohnraums. Seit Jahrzehnten nehme in Deutschland die Wohnfläche, die jeder für sich allein beanspruche, kontinuierlich zu; bei 45 Quadratmetern pro Kopf seien wir mittlerweile angekommen. In Anlehnung an Georg Simmel beschreibt von Thadden "die städtische Reizdichte der flüchtigen Berührungen im Vorübergehen, die Distanz unweigerlich hervorruft". Die rasante Ausweitung des Wohnraums mache "endlich freiwilligen Abstand zum Nächsten möglich".
Doch diese Freiheit hat ihren Preis. Bruchlinien der Berührung markiert von Thadden dort, wo die gewachsene Autonomie einer Angst vor Verletzung weicht. Nirgends sei die Angst größer als dort, wo besonders viel Platz ist. Wer sich zurückzieht, um nicht verletzt zu werden, ist demnach nicht frei, sondern einsam. Die Autorin beschreibt die wachsende Abschottung als eine Folge verfügbarer Technologien, "Ohrstöpsel eingesetzt, Blick aufs Smartphone gesenkt, unstörbar". Die berührungslose Gesellschaft, "das gejagte Selbst", ist gefangen im Widerspruch zwischen dem befreienden Abstand zum Nächsten und dem Bedürfnis nach Zuwendung und körperlicher Nähe.
Für besonders problematisch hält von Thadden diese Ambivalenz im Bereich der Pflege, die durch den Anstieg der Single-Haushalte und der alternden Bevölkerung herausgefordert sei. Am Umgang mit Millionen Pflegebedürftigen werde sich zeigen, "ob es gelingt, die Verletzlichkeit der Gebrechlichsten nicht zu missbrauchen, sondern zu respektieren und ihnen doch nahe zu kommen".
Die leicht geschriebenen Überlegungen von Thaddens regen zum Nachdenken an, überzeugen in methodischer Hinsicht jedoch nicht immer. Die journalistischen Szenenbeschreibungen, die etwa Auskunft über den Ort und Zeitpunkt der Gespräche oder das Aussehen der Gesprächspartner geben, haben in Reportagen ihren Platz, fügen sich aber nicht gut in den Text, der zugleich eine Gesellschaftsanalyse sein will. Die Analyse stößt dort auf Grenzen, wo sie sich in der Wiedergabe der befragten Experten erschöpft, die ohne wissenschaftliche Vertiefung oberflächlich bleiben muss. Und doch erliegt die Autorin nicht Kurzschlüssen, etwa der Annahme, dass Einsamkeit zwangsläufig aus dem Alleinsein resultiere. Wie wir einen Weg aus der berührungslosen Gesellschaft finden, wird sich erst noch zeigen müssen. Was dabei auf dem Spiel steht, hat von Thadden eindrücklich gezeigt.
HANNAH BETHKE
Elisabeth von Thadden: "Die berührungslose
Gesellschaft".
C. H. Beck Verlag, München 2018. 205 S., br., 16,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Berliner Zeitung, Barbara Weitzel
"Von Thadden skizziert die Zerrissenheit des postmodernen Menschen, der sich zwar nach Nähe sehnt und sie braucht, Verletzlichkeit aber vermeiden will."
Emotion
"Ein Anreger für leib- und geistbetonte, haptische und psychische Nahbarkeit."
socialnet.de, Jos Schnurer
"Ein sehr kluges Buch."
Deutschlandfunk, Susanne Billig
"Ein gescheites Porträt, das allen, die über Einsamkeit nachdenken, viel Wissenswertes beschert."
zeitzeichen
"Ein kluger, höchst lebendiger Essay."
Spiegel Online, Elke Schmitter
"Elisabeth von Thaddens Analyse (...) strotzt nicht nur vor klugen Gedanken, sondern auch vor Sinnlichkeit - und ist ein Plädoyer für diese."
WELT am Sonntag, Barbara Weitzel
"Grandioser Parforceritt (...) Ein Plädoyer für Kontakt - mit Takt."
ZEIT Wissen, Stefanie Maeck
"Eine (...) unterhaltsame, wenn auch nachdenklich stimmende Lektüre."
der Freitag, Marlen Hobrack
"Wer sich für die Natur unseres Kontaktverhaltens interessiert, wer über Einsamkeit und die Frage, was Nähe wirklich ist, nachdenken will, wird in diesem Buch viele Anregungen zum Weiter-Denken finden."
Süddeutsche Zeitung, Meredith Haaf