Warum das Ende des Ersten Weltkriegs Europa keinen Frieden brachte
11. November 1918: Der Waffenstillstand beendet das Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Dennoch kehrt in weite Teile Europas kein Friede ein. Robert Gerwarth macht das Ausmaß der Konflikte deutlich und zeigt, warum das Schicksal der Besiegten der Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts ist. Denn die Brutalität des Ersten Weltkriegs ist in der kollektiven Erinnerung Europas fest verankert. Fast völlig vergessen ist hingegen das Leid, das die zahlreichen (Bürger-)Kriege, Vertreibungen, Pogrome und gewaltsamen Auseinandersetzungen nach Ende des Ersten Weltkriegs über weite Teile des Kontinents brachten.
11. November 1918: Der Waffenstillstand beendet das Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Dennoch kehrt in weite Teile Europas kein Friede ein. Robert Gerwarth macht das Ausmaß der Konflikte deutlich und zeigt, warum das Schicksal der Besiegten der Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts ist. Denn die Brutalität des Ersten Weltkriegs ist in der kollektiven Erinnerung Europas fest verankert. Fast völlig vergessen ist hingegen das Leid, das die zahlreichen (Bürger-)Kriege, Vertreibungen, Pogrome und gewaltsamen Auseinandersetzungen nach Ende des Ersten Weltkriegs über weite Teile des Kontinents brachten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.02.2017Höllenorgien
Robert Gerwarths Buch „Die Besiegten“ erklärt, warum das Schlachten nach dem Ersten Weltkrieg weiterging
Nach dem Waffenstillstand begann 1918 eine neue Ära des Schlachtens, der Kriege, Revolutionen, Pogrome, Vertreibungen. Während in den Pariser Vorortverträgen die Satzungen des erwünschten Friedens verordnet wurden, war Europa nach dem Urteil des Historikers Robert Gerwarth „die mit Abstand gewalttätigste Region der Welt“. Mehr als vier Millionen Menschen starben in den bewaffneten Konflikten Nachkriegseuropas, aber diese Toten haben längst nicht so viel Aufmerksamkeit gefunden wie die Schlachten des Ersten Weltkriegs. Winston Churchill kommentierte damals harsch und herablassend: „Wenn der Krieg der Giganten vorbei ist, beginnen die Kriege der Pygmäen.“
Die „Pygmäen“, das waren vor allem die Staaten, die aus den zerfallenden Großreichen hervorgingen, dem Habsburgischen, dem Osmanischen wie dem Zarenreich. Von deren Untergang und der blutigen Entstehung neuer, um Homogenität kämpfender Vaterländer handelt Robert Gewarths Buch „Die Besiegten“. Unter dem Titel „The Vanquished. Why the First World War Failed to End“ ist es im vergangenen Jahr in London erschienen. Dieses gesamteuropäische Panorama des Umbruchs, Kriegsende und Kriegsbeginn in einem, besticht zunächst durch Kürze. 340 Seiten Text sind nicht zu viel für die Jahre zwischen Lenins legendärer Reise nach Russland und dem Frieden von Lausanne zur Beendigung des Griechisch-Türkischen Krieges.
Gerwarth, der in Dublin lehrt, verknüpft geschickt Detailschilderungen und Porträts der Handelnden mit Analyse. Er will zeigen, dass die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne genaue Kenntnis der Zerfalls- und Staatenbildungskriege nach dem Ende des Großen Krieges nicht zu verstehen ist. Die schockierende Verrohung der Nachkriegsgesellschaften sei nicht oder doch nicht in erster Linie eine Folge der Fronterfahrungen in den Jahren 1914 - 1918. So hatte George Mosse die Brutalisierung der deutschen Gesellschaft erklärt. Folgenreicher aber war, so Gerwarth, die „Art und Weise, wie dieser Krieg für die Verliererstaaten zu Ende ging: mit Niederlagen, dem Zusammenbruch ihrer Großreiche und Revolutionswirren.“
Dies zu sagen, bedeutet nicht unbedingt, die alten Vielvölkerreiche zu idealisieren, wie es bereits in den Zwanzigerjahren Mode wurde. Einzugestehen wäre allerdings gegen die schwarzen Legenden der Nationalisten, dass der Zerfall der Reiche wie die Revolutionen nicht unvermeidlich waren und hauptsächlich durch die Niederlagen im Krieg vorangetrieben wurden. Neue Staaten entstanden: Finnland, Estland, Litauen, Lettland, Polen, die Tschechoslowakei, Deutsch-Österreich, Ungarn, Jugoslawien, die Türkei; im Nahen Osten wurden weitere von den Kolonialmächten „erfunden“.
Gerwarth unterscheidet drei Konflikttypen. Zwischenstaatliche Kriege wie der polnisch-sowjetische, der griechisch-türkische oder der Einmarsch der Rumänen in Ungarn wurden oft geführt durch gerade gebildete nationale Streitkräfte. Bürgerkriege verheerten Finnland, das ein Prozent seiner Bevölkerung verlor, Ungarn, Irland, Russland, die Ukraine und weite Teile des einstigen Zarenreichs. Diese Bürgerkriege folgten meist auf nationale oder sozial motivierte Revolutionen.
Oft überlagerten sich die Konflikttypen. Gemeinsam war ihnen eine brutaler Extremismus. Dem Gegner sollte nicht, wie in den Schlachten des Ersten Weltkriegs, der eigene Wille unter Einsatz aller Mittel aufgezwungen werden. Sie sollten schlicht verschwinden, vernichtet werden. „Genozidale Logik“ setzte sich durch. Winston Churchill hat die Zerstörung Smyrnas eine „Höllenorgie“ genannt. Leichtfertig, vom britischen Premier David lloyd George ermuntert, landete 1919 ein griechisches Heer in der kleinasiatischen Stadt. 1922 wurde sie von kemalistischen Truppen erobert. Die Griechen hatten vorher gegen Muslime gewütet, nun riss man dem Erzbischof Chrysostomos die Barthaare aus, schnitt ihm Ohren, Nase, Hände ab, stach ihm die Augen aus und ließ ihn verbluten. Etwa 30 000 Griechen und Armenier wurden innerhalb von zwei Wochen ermordet. Und Höllenorgien wie diese fanden an vielen Orten Europas statt.
Vom Terror der Paramilitärs, die sich nach dem Ende der Räterepublik in Ungarn austobten, berichtet Gerwarth über einen, der die abgeschnittenen Ohren seiner jüdischen Opfer als Glücksbringer sammelte und einen anderen, der sich mit ausgezeichnetem Appetit an den Tisch setzte, weil er am Nachmittag, wie er sagte, einen Juden bei lebendigem Leib in einer Lokomotive verbrannt habe. In den Bürgerkriegen nach der Machtergreifung und dem demonstrativen Terror der Bolschewiki entstand rasch die enge Verbindung von Bolschewikenfurcht und Antisemitismus. Sie zeichnete die rechten Extremisten, Freikorpsleute, Faschisten aus, gab ihrem Aktionismus eine Richtung.
Wie verhängnisvoll die von den Siegern diktierten Friedensverträge auf die Gesellschaft der Besiegten, auf die deutsche Republik, auf Österreich, auf Ungarn wirkte, ist oft beschrieben worden. Gerwarth weist zu Recht darauf hin, wie gering der Spielraum der siegreichen Politiker war, deren Nationen eine Bestrafung des Feindes und Gewinne für sich einforderten. Das Verlangen der Mittelmächte nach einem „gerechten Frieden“ musste den Alliierten verlogen erscheinen, nachdem doch kurz zuvor die Mittelmächte Russland und Rumänien in den Verträgen von Brest-Litowsk und Bukarest drakonische Bedingungen aufgezwungen hatten. Nun fühlten sich die Besiegten nicht allein durch die Pariser Vorortverträge, Schuldzuschreibung, Reparationen, Rüstungsbeschränkungen, gedemütigt. Sie warfen den Alliierten Heuchelei vor, da ihnen, wie sie glaubten, das feierlich beschworene Selbstbestimmungsrecht der Völker vorenthalten blieb. Die Frage der Minderheitenrechte und Pläne der „Entmischung“ blieben auf der Tagesordnung.
Einem gelang es, einen demütigenden Friedensvertrag zu korrigieren und eine ethnische Säuberung durchzuführen: Mustafa Kemal, dem Vater der modernen Türkei. Hitler erzählte später, dass er wie auch Mussolini, in Kemal ihren Lehrmeister bewundert hätten. Stefan Ihrig hat 2014 die Rolle Atatürks in der NS-Ideologie untersucht. Gerwarth verweist darauf; vor dem Nachkriegspanorama, das er ausbreitet, überrascht dies kaum noch. Es ist zugleich ein Vorkriegspanorama, der Zweite Weltkrieg erscheint darin keineswegs zwangsläufig, nicht unvermeidlich, aber, wie Gerwarth schreibt, „letztlich folgerichtig“. Der strategische Einsatz von Terror, die Entmenschlichung des Gegners, die „genozidale Logik“ waren in den Jahren des europäischen Bürgerkriegs 1917 - 1923 erlernt worden.
Ein Bild dieser Epoche konnte man jüngst auch in dem abschließenden Kapitel von Jörn Leonhards Monumentalgeschichte „Die Büchse der Pandora“ oder in Ian Kershaws großem Werk „Höllensturz“ gewinnen. Robert Gerwarths Buch über den Krieg, der nicht aufhörte, provoziert – zum Glück – allerhand Fragen. Wie Kriegserfahrung, Kriegsbilder und das Erlebnis der Niederlage zusammenwirkten, wüsste man gern genauer. Wann und wie gelang es, der Gewalt Einhalt zu gebieten? Etwa in der Tschechoslowakei Masaryks, der zwar anfangs rigide gegen die deutsche Minderheit vorging, aber dann doch eine für die Zeit erstaunlich stabile Demokratie anführte?
2014 haben die Europäer ausgiebig an die „Urkatastrophe“ erinnert. Wie aber wird im kommenden Jahr über 1918/19 gesprochen? Können die sehr verschiedenen Geschichtsbilder und Erinnerungen koexistieren? Wo liegen Gemeinsamkeiten? Wer sich dafür interessiert, kommt an Robert Gerwarths beeindruckender Darstellung nicht vorbei.
JENS BISKY
Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Aus dem Englischen von Alexander Weber. Siedler Verlag, München 2017. 428 Seiten, 29,99 Euro. E-Book 23,99 Euro.
Erst aus dem Zerfall alter und
der Entstehung neuer Staaten ist
das 20. Jahrhundert zu verstehen
2014 haben die Europäer an die
Urkatastrophe erinnert. Wie aber
wird die Zeit nach 1918 bewertet?
„Genozidale Logik“: Das brennende Smyrna (heute Izmir) 1922.
Foto: Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Robert Gerwarths Buch „Die Besiegten“ erklärt, warum das Schlachten nach dem Ersten Weltkrieg weiterging
Nach dem Waffenstillstand begann 1918 eine neue Ära des Schlachtens, der Kriege, Revolutionen, Pogrome, Vertreibungen. Während in den Pariser Vorortverträgen die Satzungen des erwünschten Friedens verordnet wurden, war Europa nach dem Urteil des Historikers Robert Gerwarth „die mit Abstand gewalttätigste Region der Welt“. Mehr als vier Millionen Menschen starben in den bewaffneten Konflikten Nachkriegseuropas, aber diese Toten haben längst nicht so viel Aufmerksamkeit gefunden wie die Schlachten des Ersten Weltkriegs. Winston Churchill kommentierte damals harsch und herablassend: „Wenn der Krieg der Giganten vorbei ist, beginnen die Kriege der Pygmäen.“
Die „Pygmäen“, das waren vor allem die Staaten, die aus den zerfallenden Großreichen hervorgingen, dem Habsburgischen, dem Osmanischen wie dem Zarenreich. Von deren Untergang und der blutigen Entstehung neuer, um Homogenität kämpfender Vaterländer handelt Robert Gewarths Buch „Die Besiegten“. Unter dem Titel „The Vanquished. Why the First World War Failed to End“ ist es im vergangenen Jahr in London erschienen. Dieses gesamteuropäische Panorama des Umbruchs, Kriegsende und Kriegsbeginn in einem, besticht zunächst durch Kürze. 340 Seiten Text sind nicht zu viel für die Jahre zwischen Lenins legendärer Reise nach Russland und dem Frieden von Lausanne zur Beendigung des Griechisch-Türkischen Krieges.
Gerwarth, der in Dublin lehrt, verknüpft geschickt Detailschilderungen und Porträts der Handelnden mit Analyse. Er will zeigen, dass die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne genaue Kenntnis der Zerfalls- und Staatenbildungskriege nach dem Ende des Großen Krieges nicht zu verstehen ist. Die schockierende Verrohung der Nachkriegsgesellschaften sei nicht oder doch nicht in erster Linie eine Folge der Fronterfahrungen in den Jahren 1914 - 1918. So hatte George Mosse die Brutalisierung der deutschen Gesellschaft erklärt. Folgenreicher aber war, so Gerwarth, die „Art und Weise, wie dieser Krieg für die Verliererstaaten zu Ende ging: mit Niederlagen, dem Zusammenbruch ihrer Großreiche und Revolutionswirren.“
Dies zu sagen, bedeutet nicht unbedingt, die alten Vielvölkerreiche zu idealisieren, wie es bereits in den Zwanzigerjahren Mode wurde. Einzugestehen wäre allerdings gegen die schwarzen Legenden der Nationalisten, dass der Zerfall der Reiche wie die Revolutionen nicht unvermeidlich waren und hauptsächlich durch die Niederlagen im Krieg vorangetrieben wurden. Neue Staaten entstanden: Finnland, Estland, Litauen, Lettland, Polen, die Tschechoslowakei, Deutsch-Österreich, Ungarn, Jugoslawien, die Türkei; im Nahen Osten wurden weitere von den Kolonialmächten „erfunden“.
Gerwarth unterscheidet drei Konflikttypen. Zwischenstaatliche Kriege wie der polnisch-sowjetische, der griechisch-türkische oder der Einmarsch der Rumänen in Ungarn wurden oft geführt durch gerade gebildete nationale Streitkräfte. Bürgerkriege verheerten Finnland, das ein Prozent seiner Bevölkerung verlor, Ungarn, Irland, Russland, die Ukraine und weite Teile des einstigen Zarenreichs. Diese Bürgerkriege folgten meist auf nationale oder sozial motivierte Revolutionen.
Oft überlagerten sich die Konflikttypen. Gemeinsam war ihnen eine brutaler Extremismus. Dem Gegner sollte nicht, wie in den Schlachten des Ersten Weltkriegs, der eigene Wille unter Einsatz aller Mittel aufgezwungen werden. Sie sollten schlicht verschwinden, vernichtet werden. „Genozidale Logik“ setzte sich durch. Winston Churchill hat die Zerstörung Smyrnas eine „Höllenorgie“ genannt. Leichtfertig, vom britischen Premier David lloyd George ermuntert, landete 1919 ein griechisches Heer in der kleinasiatischen Stadt. 1922 wurde sie von kemalistischen Truppen erobert. Die Griechen hatten vorher gegen Muslime gewütet, nun riss man dem Erzbischof Chrysostomos die Barthaare aus, schnitt ihm Ohren, Nase, Hände ab, stach ihm die Augen aus und ließ ihn verbluten. Etwa 30 000 Griechen und Armenier wurden innerhalb von zwei Wochen ermordet. Und Höllenorgien wie diese fanden an vielen Orten Europas statt.
Vom Terror der Paramilitärs, die sich nach dem Ende der Räterepublik in Ungarn austobten, berichtet Gerwarth über einen, der die abgeschnittenen Ohren seiner jüdischen Opfer als Glücksbringer sammelte und einen anderen, der sich mit ausgezeichnetem Appetit an den Tisch setzte, weil er am Nachmittag, wie er sagte, einen Juden bei lebendigem Leib in einer Lokomotive verbrannt habe. In den Bürgerkriegen nach der Machtergreifung und dem demonstrativen Terror der Bolschewiki entstand rasch die enge Verbindung von Bolschewikenfurcht und Antisemitismus. Sie zeichnete die rechten Extremisten, Freikorpsleute, Faschisten aus, gab ihrem Aktionismus eine Richtung.
Wie verhängnisvoll die von den Siegern diktierten Friedensverträge auf die Gesellschaft der Besiegten, auf die deutsche Republik, auf Österreich, auf Ungarn wirkte, ist oft beschrieben worden. Gerwarth weist zu Recht darauf hin, wie gering der Spielraum der siegreichen Politiker war, deren Nationen eine Bestrafung des Feindes und Gewinne für sich einforderten. Das Verlangen der Mittelmächte nach einem „gerechten Frieden“ musste den Alliierten verlogen erscheinen, nachdem doch kurz zuvor die Mittelmächte Russland und Rumänien in den Verträgen von Brest-Litowsk und Bukarest drakonische Bedingungen aufgezwungen hatten. Nun fühlten sich die Besiegten nicht allein durch die Pariser Vorortverträge, Schuldzuschreibung, Reparationen, Rüstungsbeschränkungen, gedemütigt. Sie warfen den Alliierten Heuchelei vor, da ihnen, wie sie glaubten, das feierlich beschworene Selbstbestimmungsrecht der Völker vorenthalten blieb. Die Frage der Minderheitenrechte und Pläne der „Entmischung“ blieben auf der Tagesordnung.
Einem gelang es, einen demütigenden Friedensvertrag zu korrigieren und eine ethnische Säuberung durchzuführen: Mustafa Kemal, dem Vater der modernen Türkei. Hitler erzählte später, dass er wie auch Mussolini, in Kemal ihren Lehrmeister bewundert hätten. Stefan Ihrig hat 2014 die Rolle Atatürks in der NS-Ideologie untersucht. Gerwarth verweist darauf; vor dem Nachkriegspanorama, das er ausbreitet, überrascht dies kaum noch. Es ist zugleich ein Vorkriegspanorama, der Zweite Weltkrieg erscheint darin keineswegs zwangsläufig, nicht unvermeidlich, aber, wie Gerwarth schreibt, „letztlich folgerichtig“. Der strategische Einsatz von Terror, die Entmenschlichung des Gegners, die „genozidale Logik“ waren in den Jahren des europäischen Bürgerkriegs 1917 - 1923 erlernt worden.
Ein Bild dieser Epoche konnte man jüngst auch in dem abschließenden Kapitel von Jörn Leonhards Monumentalgeschichte „Die Büchse der Pandora“ oder in Ian Kershaws großem Werk „Höllensturz“ gewinnen. Robert Gerwarths Buch über den Krieg, der nicht aufhörte, provoziert – zum Glück – allerhand Fragen. Wie Kriegserfahrung, Kriegsbilder und das Erlebnis der Niederlage zusammenwirkten, wüsste man gern genauer. Wann und wie gelang es, der Gewalt Einhalt zu gebieten? Etwa in der Tschechoslowakei Masaryks, der zwar anfangs rigide gegen die deutsche Minderheit vorging, aber dann doch eine für die Zeit erstaunlich stabile Demokratie anführte?
2014 haben die Europäer ausgiebig an die „Urkatastrophe“ erinnert. Wie aber wird im kommenden Jahr über 1918/19 gesprochen? Können die sehr verschiedenen Geschichtsbilder und Erinnerungen koexistieren? Wo liegen Gemeinsamkeiten? Wer sich dafür interessiert, kommt an Robert Gerwarths beeindruckender Darstellung nicht vorbei.
JENS BISKY
Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Aus dem Englischen von Alexander Weber. Siedler Verlag, München 2017. 428 Seiten, 29,99 Euro. E-Book 23,99 Euro.
Erst aus dem Zerfall alter und
der Entstehung neuer Staaten ist
das 20. Jahrhundert zu verstehen
2014 haben die Europäer an die
Urkatastrophe erinnert. Wie aber
wird die Zeit nach 1918 bewertet?
„Genozidale Logik“: Das brennende Smyrna (heute Izmir) 1922.
Foto: Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2017Wenn das Recht der Gewalt weicht
Robert Gerwarth blickt auf das Ende des Ersten Weltkrieges und auf die Nachkriegsordnung
Liebhaber sadistischer Gewaltorgien werden nicht enttäuscht sein von diesem Buch. Mit hingebungsvoller Detailfreude schwelgt Robert Gerwarth in den bolschewistischen wie den Freikorps-Exzessen am Ende des Ersten Weltkrieges. Auch erlauben seine "Besiegten" dem Leser keine Zweifel, dass Türken und Griechen im Umgang miteinander alles andere als vielversprechende Messdiener waren. Der historische Erkenntniswert ergibt sich allenfalls indirekt. Offenbar passiert eine neue Generation die historischen Seminare. Ihre Geschichtsschreibung scheint doch recht stark im Schatten der Gewaltvideowelle und des heutzutage im Fernsehen üblichen Gewaltangebots zu blühen. Anders lässt sich diese Schwelgerei nicht wirklich erklären.
Die extensive Ausbreitung von Blut und Quälerei geht häufiger zu Lasten der Genauigkeit an anderer Stelle, als das üblich gewordene Maß an poetic licence erlaubt. So erfolgte die italienische Offensive im Herbst 1918 nicht, um Italiens Position bei den Friedensverhandlungen aufzubessern. Vielmehr brauchte das italienische Kommando intensive Aufmunterung, um sich überhaupt zur als verfrüht befürchteten Offensive aufzuraffen und damit im Sinne der alliierten Gesamtstrategie den angestrebten konzentrischen Druck auf Deutschland zu komplettieren. Dies, um der deutschen Heeresleitung den Vorteil der inneren Linie zu nehmen und damit die Möglichkeit, schnell Reserven an die Brennpunkte zu verschieben. Hier hätte es dem Autor zum Vorteil gereicht, die Memoiren Wilhelm Groeners zu lesen. Groener war als Nachfolger von Erich Ludendorff der letzte Generalquartiermeister der kaiserlichen Armee und ihr faktischer Generalstabschef.
Im Grunde hätte das Buch anstelle der "Besiegten" den Titel "Die Gewalttätigen" verdient. Kernthema ist eine Generation, die ein Cicero-Wort umkehrte: "Cedant arma togae concedat laurea laudi". Nicht die Waffen wichen dem Recht. Vielmehr wich das Recht der Gewalt. Es war eine junge Generation unterbeschäftigter Ignoranten auf der verzweifelten Suche nach einer schnellen Karriere. Sie kannte aus den Schützengräben gar nichts anderes als die Gewalt. Nach dem Kriege war sie für eine Veteranenversorgung zu jung, aber die Staaten allenthalben finanziell zu überfordert, um sie in der Verwaltung unterzubringen. In der Aggressivität dieser jungen Generation gegen die etablierten politischen Kräfte - in Rom nicht viel anders als in Berlin und andernorts - steckte neben der Suche nach Einkommen auch ein Generationenkonflikt. Dies wird gerne übersehen.
Die Pariser Friedensverträge waren noch das Werk einer Generation, die dem Recht vertraute, eingeschlossen das Recht zur Anpassung, immer gemäß dem Wort des Ministerpräsidenten Georges Clemenceau vor dem französischen Parlament: "Die Verträge sind das, was man daraus macht." Sie waren nie statisch. So hat sie einzig die ignorante Gewaltgeneration interpretiert und sich damit politisch profiliert. Die Friedensverträge waren gemacht für eine Generation, die das Recht respektierte. Und die bereit war, das kollektive Friedensinstrument des Völkerbunds zu nutzen und weiterzuentwickeln.
Zu den schönen Seiten dieses Buches zählt der Hinweis auf die wertvolle Arbeit des (viel belächelten) Völkerbunds bei der Linderung des Flüchtlingselends, der Gesundheitsversorgung oder etwa des Arbeitsrechts. Da der Autor auch den Finanzkrach von 1929 und die nachfolgende Depression behandelt, sei kurz darauf hingewiesen, dass sich noch kein Land aus einer Depression herausgespart hat. Dies nicht erkannt zu haben war die große Schwäche der überforderten Politikergeneration der Weimarer Republik wie des vorfaschistischen Italiens. Die gewalttätigen Ignoranten kannten in ihrem Voluntarismus keine Skrupel, sich über alle ökonomischen Theorien hinwegzusetzen, um Arbeit und Brot zu beschaffen.
Auch dies zeigt sich bei Gerwarths Blick auf die Verlierer von St. Petersburg über Budapest und Wien bis nach Berlin und das Italien der vittoria mutilata (in der Praxis das um seine Siegesfrüchte betrogene Volk): Der schiere Hunger trieb alle Unruhen, Aufstände und Revolutionen. Das Leben war schon armselig genug gewesen. Jetzt wurde es unmöglich.
Gerwarth betont den Antisemitismus als Reaktion auf jüdische Revolutionäre. Darüber geht aber unter, dass die auf Anregung der Obersten Heeresleitung und mit dem Geld der deutschen Schwerindustrie 1917 gegründete Vaterlandspartei bereits einen vehementen, bis dahin im öffentlichen Leben nie gekannten Antisemitismus pflegte. Da lag aber nicht einmal der Hauch einer Revolution in der Luft.
Einige Beurteilungen erfolgen etwas leichtfertig, etwa: "Es war gewiss kein Zufall, dass Österreicher - gemessen an der Größe des Landes - unter den Vollstreckern des Holocaust stark überrepräsentiert waren." Wenn dieser Satz schon hätte geschrieben werden müssen, hätte man sich eine sorgfältigere Begründung gewünscht als den Hinweis auf Kaltenbrunner, Globocnik "oder den in Österreich sozialisierten Adolf Eichmann". Eichmann war ein Rheinländer. Die organisierte Massenvernichtung auch nur halbwegs als österreichische Spezialität zu kategorisieren, scheint doch etwas abwegig.
Schließlich neigt Gerwarth zu missverständlicher Begriffsbildung: Eine "konstitutionelle Monarchie mit eingeschränkter parlamentarischer Mitbestimmung" (die Rede ist von Deutschland) ist eben keine "konstitutionelle" Monarchie - schon gar nicht, wenn im weitaus größten Staat, nämlich Preußen, das Drei-Klassen-Wahlrecht für die Konzentration der Macht in den Händen einer kleinen Oberschicht sorgte, die dank der preußischen Dominanz faktisch ganz Deutschland gängelte.
IGNAZ MILLER
Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Siedler Verlag, München 2017. 480 S., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Robert Gerwarth blickt auf das Ende des Ersten Weltkrieges und auf die Nachkriegsordnung
Liebhaber sadistischer Gewaltorgien werden nicht enttäuscht sein von diesem Buch. Mit hingebungsvoller Detailfreude schwelgt Robert Gerwarth in den bolschewistischen wie den Freikorps-Exzessen am Ende des Ersten Weltkrieges. Auch erlauben seine "Besiegten" dem Leser keine Zweifel, dass Türken und Griechen im Umgang miteinander alles andere als vielversprechende Messdiener waren. Der historische Erkenntniswert ergibt sich allenfalls indirekt. Offenbar passiert eine neue Generation die historischen Seminare. Ihre Geschichtsschreibung scheint doch recht stark im Schatten der Gewaltvideowelle und des heutzutage im Fernsehen üblichen Gewaltangebots zu blühen. Anders lässt sich diese Schwelgerei nicht wirklich erklären.
Die extensive Ausbreitung von Blut und Quälerei geht häufiger zu Lasten der Genauigkeit an anderer Stelle, als das üblich gewordene Maß an poetic licence erlaubt. So erfolgte die italienische Offensive im Herbst 1918 nicht, um Italiens Position bei den Friedensverhandlungen aufzubessern. Vielmehr brauchte das italienische Kommando intensive Aufmunterung, um sich überhaupt zur als verfrüht befürchteten Offensive aufzuraffen und damit im Sinne der alliierten Gesamtstrategie den angestrebten konzentrischen Druck auf Deutschland zu komplettieren. Dies, um der deutschen Heeresleitung den Vorteil der inneren Linie zu nehmen und damit die Möglichkeit, schnell Reserven an die Brennpunkte zu verschieben. Hier hätte es dem Autor zum Vorteil gereicht, die Memoiren Wilhelm Groeners zu lesen. Groener war als Nachfolger von Erich Ludendorff der letzte Generalquartiermeister der kaiserlichen Armee und ihr faktischer Generalstabschef.
Im Grunde hätte das Buch anstelle der "Besiegten" den Titel "Die Gewalttätigen" verdient. Kernthema ist eine Generation, die ein Cicero-Wort umkehrte: "Cedant arma togae concedat laurea laudi". Nicht die Waffen wichen dem Recht. Vielmehr wich das Recht der Gewalt. Es war eine junge Generation unterbeschäftigter Ignoranten auf der verzweifelten Suche nach einer schnellen Karriere. Sie kannte aus den Schützengräben gar nichts anderes als die Gewalt. Nach dem Kriege war sie für eine Veteranenversorgung zu jung, aber die Staaten allenthalben finanziell zu überfordert, um sie in der Verwaltung unterzubringen. In der Aggressivität dieser jungen Generation gegen die etablierten politischen Kräfte - in Rom nicht viel anders als in Berlin und andernorts - steckte neben der Suche nach Einkommen auch ein Generationenkonflikt. Dies wird gerne übersehen.
Die Pariser Friedensverträge waren noch das Werk einer Generation, die dem Recht vertraute, eingeschlossen das Recht zur Anpassung, immer gemäß dem Wort des Ministerpräsidenten Georges Clemenceau vor dem französischen Parlament: "Die Verträge sind das, was man daraus macht." Sie waren nie statisch. So hat sie einzig die ignorante Gewaltgeneration interpretiert und sich damit politisch profiliert. Die Friedensverträge waren gemacht für eine Generation, die das Recht respektierte. Und die bereit war, das kollektive Friedensinstrument des Völkerbunds zu nutzen und weiterzuentwickeln.
Zu den schönen Seiten dieses Buches zählt der Hinweis auf die wertvolle Arbeit des (viel belächelten) Völkerbunds bei der Linderung des Flüchtlingselends, der Gesundheitsversorgung oder etwa des Arbeitsrechts. Da der Autor auch den Finanzkrach von 1929 und die nachfolgende Depression behandelt, sei kurz darauf hingewiesen, dass sich noch kein Land aus einer Depression herausgespart hat. Dies nicht erkannt zu haben war die große Schwäche der überforderten Politikergeneration der Weimarer Republik wie des vorfaschistischen Italiens. Die gewalttätigen Ignoranten kannten in ihrem Voluntarismus keine Skrupel, sich über alle ökonomischen Theorien hinwegzusetzen, um Arbeit und Brot zu beschaffen.
Auch dies zeigt sich bei Gerwarths Blick auf die Verlierer von St. Petersburg über Budapest und Wien bis nach Berlin und das Italien der vittoria mutilata (in der Praxis das um seine Siegesfrüchte betrogene Volk): Der schiere Hunger trieb alle Unruhen, Aufstände und Revolutionen. Das Leben war schon armselig genug gewesen. Jetzt wurde es unmöglich.
Gerwarth betont den Antisemitismus als Reaktion auf jüdische Revolutionäre. Darüber geht aber unter, dass die auf Anregung der Obersten Heeresleitung und mit dem Geld der deutschen Schwerindustrie 1917 gegründete Vaterlandspartei bereits einen vehementen, bis dahin im öffentlichen Leben nie gekannten Antisemitismus pflegte. Da lag aber nicht einmal der Hauch einer Revolution in der Luft.
Einige Beurteilungen erfolgen etwas leichtfertig, etwa: "Es war gewiss kein Zufall, dass Österreicher - gemessen an der Größe des Landes - unter den Vollstreckern des Holocaust stark überrepräsentiert waren." Wenn dieser Satz schon hätte geschrieben werden müssen, hätte man sich eine sorgfältigere Begründung gewünscht als den Hinweis auf Kaltenbrunner, Globocnik "oder den in Österreich sozialisierten Adolf Eichmann". Eichmann war ein Rheinländer. Die organisierte Massenvernichtung auch nur halbwegs als österreichische Spezialität zu kategorisieren, scheint doch etwas abwegig.
Schließlich neigt Gerwarth zu missverständlicher Begriffsbildung: Eine "konstitutionelle Monarchie mit eingeschränkter parlamentarischer Mitbestimmung" (die Rede ist von Deutschland) ist eben keine "konstitutionelle" Monarchie - schon gar nicht, wenn im weitaus größten Staat, nämlich Preußen, das Drei-Klassen-Wahlrecht für die Konzentration der Macht in den Händen einer kleinen Oberschicht sorgte, die dank der preußischen Dominanz faktisch ganz Deutschland gängelte.
IGNAZ MILLER
Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Siedler Verlag, München 2017. 480 S., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wie wird im kommenden Jahr über 1918/19 gesprochen? (...) Wer sich dafür interessiert, kommt an Robert Gerwarths beeindruckender Darstellung nicht vorbei.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung