Nach Kant liegt der Zweck der menschlichen Existenz in der Moral und damit der Freiheit, auf sie richtet sich unser gesamtes Vernunftinteresse. Aus diesem gut bezeugten Zentrum werden in der vorliegenden Untersuchung die kopernikanische Wende, die Geschichtsphilosophie und vor allem die drei Kritiken interpretiert; dass die Kritik der reinen Vernunft sich als republikanischer Gerichtshof artikuliert, ist in der Leitidee der moralischen Bestimmung des Menschen begründet. Kants Wirkung beruhte auf dem Freiheitspathos, mit dem er sich gegen die Bevormundung durch die Despoten und eine scholastisch verwaltete Metaphysik stellte. Im letzten Kapitel, »Die Vierte Kritik«, werden Äußerungen untersucht, gemäß denen eine neue Kritik der reinen Vernunft die drei Kritiken der Vernunft bzw. des Verstandes (1781), der Urteilskraft (1790) und der praktischen Vernunft (1788) in ihrer Vollständigkeit begründen sollte; es wird gezeigt, dass dieses Projekt Kant notwendig schien, aber zugleich nicht durchführbar war.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2007Frische Blicke, kräftige Pinselstriche
Einer der wichtigsten Kant-Kenner unserer Zeit, Reinhard Brandt, legt die Summe seiner Beschäftigung mit dem Königsberger Meister vor. Man liest Brandts Buch mit Gewinn und Vergnügen.
Kants Kritik der reinen Vernunft, nach Schopenhauer "das wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden", liest man noch immer vornehmlich erkenntnistheoretisch. In Wahrheit ist es eine Art von Enzyklopädie philosophischer Wissenschaften, der er letztlich auf eine Fundamentalphilosophie im Zeitalter der Naturwissenschaften ankommt. Diese kulminiert im Endzweck des Menschen, in seiner Bestimmung zur Moral. Und diese, zeigt Kant in der Geschichtsphilosophie, trifft nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern zusätzlich auf die gesamte Menschheit zu.
Schon die erste Kritik macht für das Programm der moralischen Bestimmung des Menschen den fulminanten Anfang, den Kant sogar für die Vollendung seines kritischen Geschäfts hält. Später setzt er aber seine Überlegungen in einer zweiten, wieder später in einer dritten Kritik fort, dort allerdings nur im zweiten Teil. Denn die These vom Menschen als dem Endzweck der Schöpfung, allerdings "nur als Subjekt der Moralität", vertritt Kant nur in der Kritik der teleologischen Urteilskraft. Im ersten Teil dagegen, in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, spielt die Moral zwar eine Rolle, aber keine so prominente.
Dass im Gegensatz zum weitverbreiteten, "orthodoxen" Verständnis nicht erst die Kritik der praktischen Vernunft, sondern schon die Kritik der reinen Vernunft letztlich auf die Moral, einschließlich einer Moraltheologie, zielt, hat der Rezensent vor einigen Jahren die "heterodoxe", sogar "häretische Lesart" genannt. Ohne sich auf den Ausdruck zu beziehen, folgt ihm Reinhard Brandt, einer der bedeutenden Kant-Kenner unserer Zeit, in der Sache, freilich auf anderem Weg, in einem stärker philosophiegeschichtlichen Vorgehen. Mit ihm scheint der Marburger Philosoph eine Summe seiner Beschäftigung mit dem Königsberger Meister vorlegen zu wollen.
Im Gedanken der Moral als Endzweck der menschlichen Existenz sieht Brandt die Grundthese des gesamten Denkens von Kant, der sich damit an die Spitze einer Modernisierung der deutschen Philosophie stelle. Denn die schwerfällige Gelehrtenmetaphysik von Christian Wolff und seinen Schülern mit der statischen, objektiven und ontologischen Frage "Was ist der Mensch?" werde durch die dynamische subjektbezogene Frage nach der praktischen Bestimmung des Menschen abgelöst.
Brandts Interpretationsvorschlag kann durchaus überzeugen. Freilich überschärft er den Gegensatz von Essenz und Existenz. Wenn "wir uns gemäß unserer Natur von der Natur emanzipieren" sollen und dabei eine Selbstnobilitierung vornehmen, dann verwendet Brandt in diesem Zitat nicht bloß zwei grundverschiedene Naturbegriffe; dort geht es nämlich um die Vernunftnatur des Menschen, hier um seine sinnliche Natur. Bei einer dynamischen Begrifflichkeit lässt sich nämlich die zur Emanzipation von der sinnlichen Natur aufgerufene Vernunftnatur als die Essenz des Menschen bestimmen.
Methodisch an der "Rekonstruktion der Auseinandersetzungen" interessiert, "aus denen die Schriften, Vorlesungen und Notizen Kants entstanden", verortet Brandt Kants Frage nach der Bestimmung des Menschen in der damaligen Debatte. Neu angestoßen hatte sie der evangelische Theologe Johann Joachim Spalding mit der Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748), einer kleinen Schrift, die nach Brandt den Rang einer Programmschrift der zweiten Phase in der deutschen Aufklärung erreiche. Aber erst Kant bette die zunächst nur populärphilosophische Überlegung in höchst gelehrte - und zu ergänzen: fundamentalphilosophische - Untersuchungen ein. Und nur so gelinge es, eine "ungeklärte Naturbestimmung in eine luzide Vernunftbestimmung" zu verwandeln.
Sehr schön arbeitet Brandt den stoischen Ursprung heraus, dem zufolge "die Bestimmung des Menschen eingebettet ist in die Vorstellung einer göttlichen, zweckmäßig eingerichteten Allnatur, der zu folgen der Mensch berufen ist". Mit der Behauptung, seine Einsicht in die Verdrängung des Platonismus und Aristotelismus durch den Neostoizismus belaufe sich auf "eine Revision der bisherigen Sicht der Aufklärung", greift er allerdings zu hoch, denn fairerweise hebt er auch die antistoischen Elemente in der Kantischen Philosophie hervor, womit er die Revision relativiert. Und vor allem spielt im bisherigen Verständnis der Aufklärung die These, sie sei stark vom Platonismus und Aristotelismus geprägt, keine überragende Rolle. Im Übrigen mag der klassische Neuplatonismus sich erlauben, in einem Atemzug von "platonisch-aristotelischen Lehren" zu sprechen, der gelehrte Philosophiehistoriker sollte auf derartige Harmonisierungen verzichten.
Im Gang seiner Interpretation lässt der Verfasser Untersuchungen zu Kants Geschichtsphilosophie und zu dessen Bild der kopernikanischen Wende folgen. Die drei berühmten Fragen: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" bezieht er nicht etwa auf drei Werke Kants, sondern, weit überzeugender, auf die drei Themen der besonderen Metaphysik, also auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Möglichkeit, dass die drei Fragen noch weitere Bezüge erlauben, erörtert Brandt aber nicht. Erst nach all diesen Überlegungen, nach sechs von zehn Kapiteln und mehr als der Hälfte des Buches, nimmt sich die Studie vor, worauf man schon wartet, eine Untersuchung der drei Kritiken. Selbst dabei wird das Titelthema aber nur knapp und nicht sonderlich pointiert behandelt, so dass man die Studie schwerlich als Werk aus einem Guss bezeichnen kann.
Brandt erörtert die erste Kritik unter dem Gedanken des Gerichtshofes, die zweite Kritik unter dem der Gegenkritik und die dritte Kritik unter dem Stichwort "Brückenwerk der Zwecke". Zur ersten, zur "juridischen Selbstdarstellung" der ersten Kritik und der "systemnotwendigen Fassung der kritischen Erkenntnislehre als eines Rechtsproblems" trägt er eine Reihe von schönen Beobachtungen zusammen. Erstaunlicherweise gelten die Gesichtspunkte aber als neu, angeblich sogar als "bis in die Gegenwart übersehen". In Wahrheit weiß man doch des Längeren, dass die Kritik einen Gerichtshof einsetzt und dass der Ausdruck der Deduktion nicht logisch, sondern rechtlich zu verstehen ist.
Auch der bei Brandt nur partielle Durchgang durch die von Kant benutzten Metaphern ist nicht grundsätzlich neu. Und weil der Interpret so viel Wert auf den Zusammenhang mit dem Privatrecht der späteren Rechtslehre legt, erführe man gern, ob sich in der Kritik auch Kants systematisch wichtige Unterscheidung von innerem und äußerem Mein und Dein, also von angeborenen und von erworbenen Rechten, findet.
Das Kapitel zur zweiten Kritik enthält einige hilfreiche Bemerkungen, beispielsweise zur "hermeneutischen decapitatio (Detranszendentalisierung)", dagegen gibt es zu anderen Gesichtspunkten, etwa zum Verhältnis von Moral und Anthropologie, genauer differenzierende Untersuchungen. Im Kapitel zur Kritik der Urteilskraft zeigt sich eine intensivere Beschäftigung mit deren Themen, wobei aber erneut die Überlegungen zur Bestimmung des Menschen ziemlich kurz ausfallen.
Am wenigsten überzeugen die Ausführungen zu einer angeblich bislang übersehenen vierten Kritik Kants. Brandts Schlusskapitel kann sich zwar auf die Vorrede der dritten Kritik und andere Dinge berufen. Das Argument von der Einheit der veröffentlichten drei Kritiken, der des reinen Verstandes (KrV), der der reinen Urteilskraft (KU) und der der reinen Vernunft, genügt aber nicht. Denn jede der drei Kritiken untersucht ein eigenes Grundvermögen des Menschen, was auf den bloßen Gedanken der Einheit nicht zutrifft.
Die Ansicht überzeugt auch deshalb nicht, weil schon Kants erste Kritik eine Meta-Kritik enthält, sie außerdem, trotz einer anderslautenden Formulierung in der Vorrede der dritten Kritik, keinesfalls nur den reinen Verstand einer Kritik unterzieht. Ohnehin hätte man im Schlusskapitel das Leitmotiv erwartet, dass also in der moralischen Bestimmung des Menschen das Einheitsband von Kants kritischem OEuvre liege. Dass dies fehlt, schwächt nicht bloß die Überzeugungskraft des Schlusskapitels, sie nimmt auch dem Leitmotiv die Chance einer sich rundenden Begründung.
Dass Brandt gelegentlich den Neuigkeitswert seiner Überlegungen zu hoch einschätzt, braucht nicht zu stören, wohl aber, dass er andere Kant-Forscher immer wieder nur in Grenzen zur Kenntnis nimmt und sie dann wie Junior-Kollegen behandelt, die halt noch lernen müssen, am besten bei ihm selbst.
Wer Trouvaillen eines philosophiegeschichtlich hochbelesenen Kant-Gelehrten sucht, liest die Studie über weite Strecken mit Gewinn, sogar Vergnügen. Allerdings stehen viele eindrucksvolle mikrologische Teilstudien im Kontrast zu manchen übergroßen Pinselstrichen.
OTFRIED HÖFFE
Reinhard Brandt: "Die Bestimmung des Menschen bei Kant". Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. 627 S., br., 34,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einer der wichtigsten Kant-Kenner unserer Zeit, Reinhard Brandt, legt die Summe seiner Beschäftigung mit dem Königsberger Meister vor. Man liest Brandts Buch mit Gewinn und Vergnügen.
Kants Kritik der reinen Vernunft, nach Schopenhauer "das wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden", liest man noch immer vornehmlich erkenntnistheoretisch. In Wahrheit ist es eine Art von Enzyklopädie philosophischer Wissenschaften, der er letztlich auf eine Fundamentalphilosophie im Zeitalter der Naturwissenschaften ankommt. Diese kulminiert im Endzweck des Menschen, in seiner Bestimmung zur Moral. Und diese, zeigt Kant in der Geschichtsphilosophie, trifft nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern zusätzlich auf die gesamte Menschheit zu.
Schon die erste Kritik macht für das Programm der moralischen Bestimmung des Menschen den fulminanten Anfang, den Kant sogar für die Vollendung seines kritischen Geschäfts hält. Später setzt er aber seine Überlegungen in einer zweiten, wieder später in einer dritten Kritik fort, dort allerdings nur im zweiten Teil. Denn die These vom Menschen als dem Endzweck der Schöpfung, allerdings "nur als Subjekt der Moralität", vertritt Kant nur in der Kritik der teleologischen Urteilskraft. Im ersten Teil dagegen, in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, spielt die Moral zwar eine Rolle, aber keine so prominente.
Dass im Gegensatz zum weitverbreiteten, "orthodoxen" Verständnis nicht erst die Kritik der praktischen Vernunft, sondern schon die Kritik der reinen Vernunft letztlich auf die Moral, einschließlich einer Moraltheologie, zielt, hat der Rezensent vor einigen Jahren die "heterodoxe", sogar "häretische Lesart" genannt. Ohne sich auf den Ausdruck zu beziehen, folgt ihm Reinhard Brandt, einer der bedeutenden Kant-Kenner unserer Zeit, in der Sache, freilich auf anderem Weg, in einem stärker philosophiegeschichtlichen Vorgehen. Mit ihm scheint der Marburger Philosoph eine Summe seiner Beschäftigung mit dem Königsberger Meister vorlegen zu wollen.
Im Gedanken der Moral als Endzweck der menschlichen Existenz sieht Brandt die Grundthese des gesamten Denkens von Kant, der sich damit an die Spitze einer Modernisierung der deutschen Philosophie stelle. Denn die schwerfällige Gelehrtenmetaphysik von Christian Wolff und seinen Schülern mit der statischen, objektiven und ontologischen Frage "Was ist der Mensch?" werde durch die dynamische subjektbezogene Frage nach der praktischen Bestimmung des Menschen abgelöst.
Brandts Interpretationsvorschlag kann durchaus überzeugen. Freilich überschärft er den Gegensatz von Essenz und Existenz. Wenn "wir uns gemäß unserer Natur von der Natur emanzipieren" sollen und dabei eine Selbstnobilitierung vornehmen, dann verwendet Brandt in diesem Zitat nicht bloß zwei grundverschiedene Naturbegriffe; dort geht es nämlich um die Vernunftnatur des Menschen, hier um seine sinnliche Natur. Bei einer dynamischen Begrifflichkeit lässt sich nämlich die zur Emanzipation von der sinnlichen Natur aufgerufene Vernunftnatur als die Essenz des Menschen bestimmen.
Methodisch an der "Rekonstruktion der Auseinandersetzungen" interessiert, "aus denen die Schriften, Vorlesungen und Notizen Kants entstanden", verortet Brandt Kants Frage nach der Bestimmung des Menschen in der damaligen Debatte. Neu angestoßen hatte sie der evangelische Theologe Johann Joachim Spalding mit der Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748), einer kleinen Schrift, die nach Brandt den Rang einer Programmschrift der zweiten Phase in der deutschen Aufklärung erreiche. Aber erst Kant bette die zunächst nur populärphilosophische Überlegung in höchst gelehrte - und zu ergänzen: fundamentalphilosophische - Untersuchungen ein. Und nur so gelinge es, eine "ungeklärte Naturbestimmung in eine luzide Vernunftbestimmung" zu verwandeln.
Sehr schön arbeitet Brandt den stoischen Ursprung heraus, dem zufolge "die Bestimmung des Menschen eingebettet ist in die Vorstellung einer göttlichen, zweckmäßig eingerichteten Allnatur, der zu folgen der Mensch berufen ist". Mit der Behauptung, seine Einsicht in die Verdrängung des Platonismus und Aristotelismus durch den Neostoizismus belaufe sich auf "eine Revision der bisherigen Sicht der Aufklärung", greift er allerdings zu hoch, denn fairerweise hebt er auch die antistoischen Elemente in der Kantischen Philosophie hervor, womit er die Revision relativiert. Und vor allem spielt im bisherigen Verständnis der Aufklärung die These, sie sei stark vom Platonismus und Aristotelismus geprägt, keine überragende Rolle. Im Übrigen mag der klassische Neuplatonismus sich erlauben, in einem Atemzug von "platonisch-aristotelischen Lehren" zu sprechen, der gelehrte Philosophiehistoriker sollte auf derartige Harmonisierungen verzichten.
Im Gang seiner Interpretation lässt der Verfasser Untersuchungen zu Kants Geschichtsphilosophie und zu dessen Bild der kopernikanischen Wende folgen. Die drei berühmten Fragen: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" bezieht er nicht etwa auf drei Werke Kants, sondern, weit überzeugender, auf die drei Themen der besonderen Metaphysik, also auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Möglichkeit, dass die drei Fragen noch weitere Bezüge erlauben, erörtert Brandt aber nicht. Erst nach all diesen Überlegungen, nach sechs von zehn Kapiteln und mehr als der Hälfte des Buches, nimmt sich die Studie vor, worauf man schon wartet, eine Untersuchung der drei Kritiken. Selbst dabei wird das Titelthema aber nur knapp und nicht sonderlich pointiert behandelt, so dass man die Studie schwerlich als Werk aus einem Guss bezeichnen kann.
Brandt erörtert die erste Kritik unter dem Gedanken des Gerichtshofes, die zweite Kritik unter dem der Gegenkritik und die dritte Kritik unter dem Stichwort "Brückenwerk der Zwecke". Zur ersten, zur "juridischen Selbstdarstellung" der ersten Kritik und der "systemnotwendigen Fassung der kritischen Erkenntnislehre als eines Rechtsproblems" trägt er eine Reihe von schönen Beobachtungen zusammen. Erstaunlicherweise gelten die Gesichtspunkte aber als neu, angeblich sogar als "bis in die Gegenwart übersehen". In Wahrheit weiß man doch des Längeren, dass die Kritik einen Gerichtshof einsetzt und dass der Ausdruck der Deduktion nicht logisch, sondern rechtlich zu verstehen ist.
Auch der bei Brandt nur partielle Durchgang durch die von Kant benutzten Metaphern ist nicht grundsätzlich neu. Und weil der Interpret so viel Wert auf den Zusammenhang mit dem Privatrecht der späteren Rechtslehre legt, erführe man gern, ob sich in der Kritik auch Kants systematisch wichtige Unterscheidung von innerem und äußerem Mein und Dein, also von angeborenen und von erworbenen Rechten, findet.
Das Kapitel zur zweiten Kritik enthält einige hilfreiche Bemerkungen, beispielsweise zur "hermeneutischen decapitatio (Detranszendentalisierung)", dagegen gibt es zu anderen Gesichtspunkten, etwa zum Verhältnis von Moral und Anthropologie, genauer differenzierende Untersuchungen. Im Kapitel zur Kritik der Urteilskraft zeigt sich eine intensivere Beschäftigung mit deren Themen, wobei aber erneut die Überlegungen zur Bestimmung des Menschen ziemlich kurz ausfallen.
Am wenigsten überzeugen die Ausführungen zu einer angeblich bislang übersehenen vierten Kritik Kants. Brandts Schlusskapitel kann sich zwar auf die Vorrede der dritten Kritik und andere Dinge berufen. Das Argument von der Einheit der veröffentlichten drei Kritiken, der des reinen Verstandes (KrV), der der reinen Urteilskraft (KU) und der der reinen Vernunft, genügt aber nicht. Denn jede der drei Kritiken untersucht ein eigenes Grundvermögen des Menschen, was auf den bloßen Gedanken der Einheit nicht zutrifft.
Die Ansicht überzeugt auch deshalb nicht, weil schon Kants erste Kritik eine Meta-Kritik enthält, sie außerdem, trotz einer anderslautenden Formulierung in der Vorrede der dritten Kritik, keinesfalls nur den reinen Verstand einer Kritik unterzieht. Ohnehin hätte man im Schlusskapitel das Leitmotiv erwartet, dass also in der moralischen Bestimmung des Menschen das Einheitsband von Kants kritischem OEuvre liege. Dass dies fehlt, schwächt nicht bloß die Überzeugungskraft des Schlusskapitels, sie nimmt auch dem Leitmotiv die Chance einer sich rundenden Begründung.
Dass Brandt gelegentlich den Neuigkeitswert seiner Überlegungen zu hoch einschätzt, braucht nicht zu stören, wohl aber, dass er andere Kant-Forscher immer wieder nur in Grenzen zur Kenntnis nimmt und sie dann wie Junior-Kollegen behandelt, die halt noch lernen müssen, am besten bei ihm selbst.
Wer Trouvaillen eines philosophiegeschichtlich hochbelesenen Kant-Gelehrten sucht, liest die Studie über weite Strecken mit Gewinn, sogar Vergnügen. Allerdings stehen viele eindrucksvolle mikrologische Teilstudien im Kontrast zu manchen übergroßen Pinselstrichen.
OTFRIED HÖFFE
Reinhard Brandt: "Die Bestimmung des Menschen bei Kant". Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. 627 S., br., 34,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2007Kant als Ding an sich
Moral über alles? Reinhard Brandt über Selbstbestimmung
Wozu sind die Menschen da? Was ist der Sinn ihrer Existenz? Worin liegt der Wert des eigenen Lebens? Auch wenn die Rede von „Wert” oder „Sinn” erst vor etwa zweihundert Jahren in Umlauf kam, kann man zeigen, dass die Frage nach dem Zweck des menschlichen Daseins nicht nur Mythologie und Religion, sondern von Anfang an auch die Philosophie bewegt. Die Behauptung Odo Marquards, die Sinnfragen seien eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts, ist schon seit längerem widerlegt. Richtig aber ist, dass es eine moderne Antwort auf die Sinnfrage gibt, die ihre präzise Fassung erstmals durch Immanuel Kant erhalten hat: Der „Wert” des Menschen liegt in seiner Vernunft, und sein „Zweck” erfüllt sich darin, dass er sich selbst bestimmt.
„Selbstbestimmung” – dieses Wort wird erstmals von Kant gebraucht. Es bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, sich eigene Ziele zu setzen und sich selbst ein Gesetz zu geben. Jeder Einzelne gilt als „autonom”. Er ist „Person” und als Person ist er „Zweck an sich selbst”. Also kann das Ziel seines Handelns nicht von außen, weder von der Natur noch von der Gesellschaft, vorgegeben sein. Er muss es vielmehr aus sich selbst bestimmen – individuell, frei und im Bewusstsein seiner eigenen Vernunft. Wollte ein Gott dem Menschen Zwecke setzen, forderte er nicht weniger als den Verzicht auf die Menschlichkeit.
Nach einer kurzen Blüte bei Schiller, Fichte und Hegel geriet Kants Begriff der Selbstbestimmung in Vergessenheit, bis ihn das Völkerrecht des zwanzigsten Jahrhunderts auch auf kollektive Körper übertrug. Heute gilt er in Moral und Politik als unverzichtbar. Er ist das Grundprinzip des individuellen Handelns und wurde so in kurzer Zeit zum Leitbegriff der Ethik: Ganz gleich, ob es um Fragen der Sterbehilfe, der Organtransplantation oder des Umweltschutzes geht: „Selbstbestimmung” ist das Kriterium, an dem sich eine begründete Entscheidung messen lassen muss.
Philosophischer Schauprozess
So wichtig und anerkannt Kants Anstoß ist: Bis heute fehlt eine Untersuchung zur Genese und Funktion des von ihm erstmals systematisch eingesetzten Begriffs. Also darf man neugierig sein, was ein Kantianer, der sich sein ganzes akademisches Leben hindurch mit der Kommentierung und Edition von Kants Schriften beschäftigt hat, an Aufklärung zu bieten hat. Reinhard Brandt bestätigt, dass die Selbstbestimmung im Zentrum des kritischen Philosophierens steht. Aber er geht gleich darüber hinaus und erklärt sie zum Ursprung einer Vernunftphilosophie, die ihre Mitte nicht in der Erkenntnis, sondern im Akt praktisch-moralischer Selbstgesetzgebung hat. Der kategorische Imperativ soll das Herzstück des kritischen Philosophierens sein, dem auch das Wissen unterworfen wird.
Brandt gibt dem von Kant proklamierten „Primat der praktischen Vernunft” eine radikale Wendung: Die „Autonomie” der Person tritt nicht nur im moralischen Handeln hervor; sie reguliert auch die kritische Selbstbegrenzung des menschlichen Wissens und lenkt so das theoretische Interesse der Vernunft auf die letzten Fragen nach der Wirklichkeit der Freiheit, der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes. Die Selbstbestimmung wird zum organisierenden Prinzip von Handeln und Wissen. Stärker könnte ihre Stellung gar nicht sein.
Doch Brandts Ergebnis ist teuer erkauft: Der systematische Rang des Erkennens wird abgeschwächt, die historische Leistung der „Kritik der reinen Vernunft” gerät in den Schatten der „Kritik der praktischen Vernunft”, und das Moralprinzip wird so übermächtig, dass es nicht nur das Recht regiert, sondern letztlich weder die Geschichte noch das Leben gelten lassen kann. Die Selbstbestimmung aus reiner praktischer Vernunft wird zum Gegenprinzip gegen die historische Realität. Dem Autor scheint diese Konsequenz nur recht zu sein. Er grenzt sich und seinen Kant entschieden von allen Vermittlungsversuchen ab. Obgleich er als Philologe den größten Teil seines Wissens aus der Geschichte zieht, spricht er ihr einen substantiellen Beitrag zur philosophischen Erkenntnis ab. Er verachtet die Leistungen der Technik und den Fortschritt, hält Evolutionstheorie und Philosophie für unvereinbar und sucht den Eindruck zu erwecken, die Biomedizin sei ein Unternehmen, das nur von Teufeln betrieben werden kann. Das Erkenntnisinteresse der modernen Wissenschaft wird abgewehrt und durch einen Buchstabenglauben ersetzt, der vom Geist der kritischen Philosophie wenig übrig lässt. Kant wird zum Ding an sich, das nur dem Philologen erscheint. Da ist es ein besonderes Pech, dass dem Setzer so viele Buchstaben verrutscht sind, ohne dass der strenge Autor es bemerkt hat.
Reinhard Brandts Stärke ist die intime Kenntnis der Kantischen Texte und seine Vertrautheit mit den Quellen, aus denen Kant schöpft. Als Stellen- und Quellenkommentar bietet das vorliegende Buch denn auch reichen Aufschluss: Es geht ausführlich auf den aufgeklärten Reformtheologen Johann Joachim Spalding ein, der die Formel von der „Bestimmung des Menschen” bereits 1747 populär gemacht hat; es schildert die Klärung von Kants Einsicht durch Aufnahme und Abgrenzung von der Schulphilosophie Christian Wolffs sowie von den Wegbereitern der Vernunftkritik, vornehmlich Locke, Hume und Rousseau; schließlich leuchtet es den weitläufigen stoischen Hintergrund des kritischen Denkens aus.
Als Darstellung der historischen Entwicklung des Konzepts der Selbstbestimmung kann die Untersuchung dennoch nicht gelten, denn die Herkunft des gleichzeitig aufkommenden Programms des „Selbstdenkens” wird nicht geklärt. Brandt beharrt auch darauf, die Stoa hermetisch gegen ihre geschichtlichen Vorgänger abzugrenzen. Dadurch verstellt er sich den Zugang zu älteren Quellen der Selbstbestimmung, die bereits bei Platon und bei Aristoteles in den Begriffen der „Selbstlenkung” und der „Selbstbeherrschung” des Individuums zu finden sind. Die größte Lücke aber klafft durch die Nichtbeachtung des Renaissancephilosophen Pico della Mirandola, der in seiner wirkungsmächtigen Abhandlung über die Würde des Menschen die Selbstbestimmung als göttliches Attribut des Menschen begründet.
Brandts Buch verfolgt ehrgeizige systematische Ziele, mit denen er Kant vor dem Zugriff weitgehend ungenannter Interpreten retten möchte. Eine seiner Thesen lautet, Kants Vernunftkritik sei ein faktisch vollzogener Rechtsprozess. Gemeint ist nicht, dass Beweisführung und Urteilsspruch durch die Vernunft nach Art eines Gerichtsverfahrens zu verstehen sind. Das sagt Kant ja selbst, und viele andere haben es schon gedeutet. Nein, Brandt zieht alle nur erdenklichen Stellen heran, um den realhistorischen Prozesscharakter des kritischen Unternehmens nachzuweisen. Demnach hat Kant gar kein Buch geschrieben, sondern selbst ein Gerichtsverfahren inauguriert.
Gesetzt, es wäre so, wie Brandt behauptet: Auf welches Gewaltmonopol sollte sich der Richter stützen? Verbürgte der preußische Staat die Macht im Rechtsspruch der Vernunft? Oder war es die erborgte Autorität der antizipierten Weltrepublik? Was immer man hier fragt: Es hat eine satirische Konsequenz – bis auf eine: Als Macht habender Gerichtsprozess verkehrte sich die Vernunftkritik augenblicklich in einen totalitären Schauprozess.
Doch wie bei vielen anderen Missverständnissen des vorliegenden Buchs, so können wir hier eine Einsicht gewinnen, die philosophisch bedeutsam ist: Die Vernunftkritik verfährt in allen ihren Vorgängen öffentlich. Sie orientiert sich am Modell einer res publica universalis. Sie ist nach Art einer demokratischen Debatte angelegt, an der jeder gleichberechtigt teilnehmen können sollte. So kann Reinhard Brandt in seinem Irrtum wenigstens einen anderen Irrtum widerlegen, nämlich den von der monologischen Verfassung der kritischen Vernunft. VOLKER GERHARDT
REINHARD BRANDT: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. 628 S., 29,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Moral über alles? Reinhard Brandt über Selbstbestimmung
Wozu sind die Menschen da? Was ist der Sinn ihrer Existenz? Worin liegt der Wert des eigenen Lebens? Auch wenn die Rede von „Wert” oder „Sinn” erst vor etwa zweihundert Jahren in Umlauf kam, kann man zeigen, dass die Frage nach dem Zweck des menschlichen Daseins nicht nur Mythologie und Religion, sondern von Anfang an auch die Philosophie bewegt. Die Behauptung Odo Marquards, die Sinnfragen seien eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts, ist schon seit längerem widerlegt. Richtig aber ist, dass es eine moderne Antwort auf die Sinnfrage gibt, die ihre präzise Fassung erstmals durch Immanuel Kant erhalten hat: Der „Wert” des Menschen liegt in seiner Vernunft, und sein „Zweck” erfüllt sich darin, dass er sich selbst bestimmt.
„Selbstbestimmung” – dieses Wort wird erstmals von Kant gebraucht. Es bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, sich eigene Ziele zu setzen und sich selbst ein Gesetz zu geben. Jeder Einzelne gilt als „autonom”. Er ist „Person” und als Person ist er „Zweck an sich selbst”. Also kann das Ziel seines Handelns nicht von außen, weder von der Natur noch von der Gesellschaft, vorgegeben sein. Er muss es vielmehr aus sich selbst bestimmen – individuell, frei und im Bewusstsein seiner eigenen Vernunft. Wollte ein Gott dem Menschen Zwecke setzen, forderte er nicht weniger als den Verzicht auf die Menschlichkeit.
Nach einer kurzen Blüte bei Schiller, Fichte und Hegel geriet Kants Begriff der Selbstbestimmung in Vergessenheit, bis ihn das Völkerrecht des zwanzigsten Jahrhunderts auch auf kollektive Körper übertrug. Heute gilt er in Moral und Politik als unverzichtbar. Er ist das Grundprinzip des individuellen Handelns und wurde so in kurzer Zeit zum Leitbegriff der Ethik: Ganz gleich, ob es um Fragen der Sterbehilfe, der Organtransplantation oder des Umweltschutzes geht: „Selbstbestimmung” ist das Kriterium, an dem sich eine begründete Entscheidung messen lassen muss.
Philosophischer Schauprozess
So wichtig und anerkannt Kants Anstoß ist: Bis heute fehlt eine Untersuchung zur Genese und Funktion des von ihm erstmals systematisch eingesetzten Begriffs. Also darf man neugierig sein, was ein Kantianer, der sich sein ganzes akademisches Leben hindurch mit der Kommentierung und Edition von Kants Schriften beschäftigt hat, an Aufklärung zu bieten hat. Reinhard Brandt bestätigt, dass die Selbstbestimmung im Zentrum des kritischen Philosophierens steht. Aber er geht gleich darüber hinaus und erklärt sie zum Ursprung einer Vernunftphilosophie, die ihre Mitte nicht in der Erkenntnis, sondern im Akt praktisch-moralischer Selbstgesetzgebung hat. Der kategorische Imperativ soll das Herzstück des kritischen Philosophierens sein, dem auch das Wissen unterworfen wird.
Brandt gibt dem von Kant proklamierten „Primat der praktischen Vernunft” eine radikale Wendung: Die „Autonomie” der Person tritt nicht nur im moralischen Handeln hervor; sie reguliert auch die kritische Selbstbegrenzung des menschlichen Wissens und lenkt so das theoretische Interesse der Vernunft auf die letzten Fragen nach der Wirklichkeit der Freiheit, der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes. Die Selbstbestimmung wird zum organisierenden Prinzip von Handeln und Wissen. Stärker könnte ihre Stellung gar nicht sein.
Doch Brandts Ergebnis ist teuer erkauft: Der systematische Rang des Erkennens wird abgeschwächt, die historische Leistung der „Kritik der reinen Vernunft” gerät in den Schatten der „Kritik der praktischen Vernunft”, und das Moralprinzip wird so übermächtig, dass es nicht nur das Recht regiert, sondern letztlich weder die Geschichte noch das Leben gelten lassen kann. Die Selbstbestimmung aus reiner praktischer Vernunft wird zum Gegenprinzip gegen die historische Realität. Dem Autor scheint diese Konsequenz nur recht zu sein. Er grenzt sich und seinen Kant entschieden von allen Vermittlungsversuchen ab. Obgleich er als Philologe den größten Teil seines Wissens aus der Geschichte zieht, spricht er ihr einen substantiellen Beitrag zur philosophischen Erkenntnis ab. Er verachtet die Leistungen der Technik und den Fortschritt, hält Evolutionstheorie und Philosophie für unvereinbar und sucht den Eindruck zu erwecken, die Biomedizin sei ein Unternehmen, das nur von Teufeln betrieben werden kann. Das Erkenntnisinteresse der modernen Wissenschaft wird abgewehrt und durch einen Buchstabenglauben ersetzt, der vom Geist der kritischen Philosophie wenig übrig lässt. Kant wird zum Ding an sich, das nur dem Philologen erscheint. Da ist es ein besonderes Pech, dass dem Setzer so viele Buchstaben verrutscht sind, ohne dass der strenge Autor es bemerkt hat.
Reinhard Brandts Stärke ist die intime Kenntnis der Kantischen Texte und seine Vertrautheit mit den Quellen, aus denen Kant schöpft. Als Stellen- und Quellenkommentar bietet das vorliegende Buch denn auch reichen Aufschluss: Es geht ausführlich auf den aufgeklärten Reformtheologen Johann Joachim Spalding ein, der die Formel von der „Bestimmung des Menschen” bereits 1747 populär gemacht hat; es schildert die Klärung von Kants Einsicht durch Aufnahme und Abgrenzung von der Schulphilosophie Christian Wolffs sowie von den Wegbereitern der Vernunftkritik, vornehmlich Locke, Hume und Rousseau; schließlich leuchtet es den weitläufigen stoischen Hintergrund des kritischen Denkens aus.
Als Darstellung der historischen Entwicklung des Konzepts der Selbstbestimmung kann die Untersuchung dennoch nicht gelten, denn die Herkunft des gleichzeitig aufkommenden Programms des „Selbstdenkens” wird nicht geklärt. Brandt beharrt auch darauf, die Stoa hermetisch gegen ihre geschichtlichen Vorgänger abzugrenzen. Dadurch verstellt er sich den Zugang zu älteren Quellen der Selbstbestimmung, die bereits bei Platon und bei Aristoteles in den Begriffen der „Selbstlenkung” und der „Selbstbeherrschung” des Individuums zu finden sind. Die größte Lücke aber klafft durch die Nichtbeachtung des Renaissancephilosophen Pico della Mirandola, der in seiner wirkungsmächtigen Abhandlung über die Würde des Menschen die Selbstbestimmung als göttliches Attribut des Menschen begründet.
Brandts Buch verfolgt ehrgeizige systematische Ziele, mit denen er Kant vor dem Zugriff weitgehend ungenannter Interpreten retten möchte. Eine seiner Thesen lautet, Kants Vernunftkritik sei ein faktisch vollzogener Rechtsprozess. Gemeint ist nicht, dass Beweisführung und Urteilsspruch durch die Vernunft nach Art eines Gerichtsverfahrens zu verstehen sind. Das sagt Kant ja selbst, und viele andere haben es schon gedeutet. Nein, Brandt zieht alle nur erdenklichen Stellen heran, um den realhistorischen Prozesscharakter des kritischen Unternehmens nachzuweisen. Demnach hat Kant gar kein Buch geschrieben, sondern selbst ein Gerichtsverfahren inauguriert.
Gesetzt, es wäre so, wie Brandt behauptet: Auf welches Gewaltmonopol sollte sich der Richter stützen? Verbürgte der preußische Staat die Macht im Rechtsspruch der Vernunft? Oder war es die erborgte Autorität der antizipierten Weltrepublik? Was immer man hier fragt: Es hat eine satirische Konsequenz – bis auf eine: Als Macht habender Gerichtsprozess verkehrte sich die Vernunftkritik augenblicklich in einen totalitären Schauprozess.
Doch wie bei vielen anderen Missverständnissen des vorliegenden Buchs, so können wir hier eine Einsicht gewinnen, die philosophisch bedeutsam ist: Die Vernunftkritik verfährt in allen ihren Vorgängen öffentlich. Sie orientiert sich am Modell einer res publica universalis. Sie ist nach Art einer demokratischen Debatte angelegt, an der jeder gleichberechtigt teilnehmen können sollte. So kann Reinhard Brandt in seinem Irrtum wenigstens einen anderen Irrtum widerlegen, nämlich den von der monologischen Verfassung der kritischen Vernunft. VOLKER GERHARDT
REINHARD BRANDT: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. 628 S., 29,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Volker Gerhardts Hoffnung auf eine Studie zur Genese und Funktion der Kant'schen "Selbstbestimmung" wird enttäuscht. Reinhard Brandts Arbeit liest der Rezensent als Versuch, Kant als "Ding an sich" der Philologie zu präsentieren und die Selbstbestimmung "aus rein praktischer Vernunft" gegen die historische Realität auszuspielen. Bei aller Text- und Quellenkenntnis des Autors - eine derartige Isolierung Kants und der philosophischen Erkenntnis geht Gerhardt zu weit. Bedauernd sieht er Quellen der Antike und der Renaissance ungenutzt und des Autors "ehrgeizige systematische Ziele" zu Missverständnissen führen. Zu philosophisch bedeutsamen Einsichten führt das Buch den Rezensenten wenn überhaupt, nur über Umwege.
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