Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Einer der wichtigsten Kant-Kenner unserer Zeit, Reinhard Brandt, legt die Summe seiner Beschäftigung mit dem Königsberger Meister vor. Man liest Brandts Buch mit Gewinn und Vergnügen.
Kants Kritik der reinen Vernunft, nach Schopenhauer "das wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden", liest man noch immer vornehmlich erkenntnistheoretisch. In Wahrheit ist es eine Art von Enzyklopädie philosophischer Wissenschaften, der er letztlich auf eine Fundamentalphilosophie im Zeitalter der Naturwissenschaften ankommt. Diese kulminiert im Endzweck des Menschen, in seiner Bestimmung zur Moral. Und diese, zeigt Kant in der Geschichtsphilosophie, trifft nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern zusätzlich auf die gesamte Menschheit zu.
Schon die erste Kritik macht für das Programm der moralischen Bestimmung des Menschen den fulminanten Anfang, den Kant sogar für die Vollendung seines kritischen Geschäfts hält. Später setzt er aber seine Überlegungen in einer zweiten, wieder später in einer dritten Kritik fort, dort allerdings nur im zweiten Teil. Denn die These vom Menschen als dem Endzweck der Schöpfung, allerdings "nur als Subjekt der Moralität", vertritt Kant nur in der Kritik der teleologischen Urteilskraft. Im ersten Teil dagegen, in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, spielt die Moral zwar eine Rolle, aber keine so prominente.
Dass im Gegensatz zum weitverbreiteten, "orthodoxen" Verständnis nicht erst die Kritik der praktischen Vernunft, sondern schon die Kritik der reinen Vernunft letztlich auf die Moral, einschließlich einer Moraltheologie, zielt, hat der Rezensent vor einigen Jahren die "heterodoxe", sogar "häretische Lesart" genannt. Ohne sich auf den Ausdruck zu beziehen, folgt ihm Reinhard Brandt, einer der bedeutenden Kant-Kenner unserer Zeit, in der Sache, freilich auf anderem Weg, in einem stärker philosophiegeschichtlichen Vorgehen. Mit ihm scheint der Marburger Philosoph eine Summe seiner Beschäftigung mit dem Königsberger Meister vorlegen zu wollen.
Im Gedanken der Moral als Endzweck der menschlichen Existenz sieht Brandt die Grundthese des gesamten Denkens von Kant, der sich damit an die Spitze einer Modernisierung der deutschen Philosophie stelle. Denn die schwerfällige Gelehrtenmetaphysik von Christian Wolff und seinen Schülern mit der statischen, objektiven und ontologischen Frage "Was ist der Mensch?" werde durch die dynamische subjektbezogene Frage nach der praktischen Bestimmung des Menschen abgelöst.
Brandts Interpretationsvorschlag kann durchaus überzeugen. Freilich überschärft er den Gegensatz von Essenz und Existenz. Wenn "wir uns gemäß unserer Natur von der Natur emanzipieren" sollen und dabei eine Selbstnobilitierung vornehmen, dann verwendet Brandt in diesem Zitat nicht bloß zwei grundverschiedene Naturbegriffe; dort geht es nämlich um die Vernunftnatur des Menschen, hier um seine sinnliche Natur. Bei einer dynamischen Begrifflichkeit lässt sich nämlich die zur Emanzipation von der sinnlichen Natur aufgerufene Vernunftnatur als die Essenz des Menschen bestimmen.
Methodisch an der "Rekonstruktion der Auseinandersetzungen" interessiert, "aus denen die Schriften, Vorlesungen und Notizen Kants entstanden", verortet Brandt Kants Frage nach der Bestimmung des Menschen in der damaligen Debatte. Neu angestoßen hatte sie der evangelische Theologe Johann Joachim Spalding mit der Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748), einer kleinen Schrift, die nach Brandt den Rang einer Programmschrift der zweiten Phase in der deutschen Aufklärung erreiche. Aber erst Kant bette die zunächst nur populärphilosophische Überlegung in höchst gelehrte - und zu ergänzen: fundamentalphilosophische - Untersuchungen ein. Und nur so gelinge es, eine "ungeklärte Naturbestimmung in eine luzide Vernunftbestimmung" zu verwandeln.
Sehr schön arbeitet Brandt den stoischen Ursprung heraus, dem zufolge "die Bestimmung des Menschen eingebettet ist in die Vorstellung einer göttlichen, zweckmäßig eingerichteten Allnatur, der zu folgen der Mensch berufen ist". Mit der Behauptung, seine Einsicht in die Verdrängung des Platonismus und Aristotelismus durch den Neostoizismus belaufe sich auf "eine Revision der bisherigen Sicht der Aufklärung", greift er allerdings zu hoch, denn fairerweise hebt er auch die antistoischen Elemente in der Kantischen Philosophie hervor, womit er die Revision relativiert. Und vor allem spielt im bisherigen Verständnis der Aufklärung die These, sie sei stark vom Platonismus und Aristotelismus geprägt, keine überragende Rolle. Im Übrigen mag der klassische Neuplatonismus sich erlauben, in einem Atemzug von "platonisch-aristotelischen Lehren" zu sprechen, der gelehrte Philosophiehistoriker sollte auf derartige Harmonisierungen verzichten.
Im Gang seiner Interpretation lässt der Verfasser Untersuchungen zu Kants Geschichtsphilosophie und zu dessen Bild der kopernikanischen Wende folgen. Die drei berühmten Fragen: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" bezieht er nicht etwa auf drei Werke Kants, sondern, weit überzeugender, auf die drei Themen der besonderen Metaphysik, also auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Möglichkeit, dass die drei Fragen noch weitere Bezüge erlauben, erörtert Brandt aber nicht. Erst nach all diesen Überlegungen, nach sechs von zehn Kapiteln und mehr als der Hälfte des Buches, nimmt sich die Studie vor, worauf man schon wartet, eine Untersuchung der drei Kritiken. Selbst dabei wird das Titelthema aber nur knapp und nicht sonderlich pointiert behandelt, so dass man die Studie schwerlich als Werk aus einem Guss bezeichnen kann.
Brandt erörtert die erste Kritik unter dem Gedanken des Gerichtshofes, die zweite Kritik unter dem der Gegenkritik und die dritte Kritik unter dem Stichwort "Brückenwerk der Zwecke". Zur ersten, zur "juridischen Selbstdarstellung" der ersten Kritik und der "systemnotwendigen Fassung der kritischen Erkenntnislehre als eines Rechtsproblems" trägt er eine Reihe von schönen Beobachtungen zusammen. Erstaunlicherweise gelten die Gesichtspunkte aber als neu, angeblich sogar als "bis in die Gegenwart übersehen". In Wahrheit weiß man doch des Längeren, dass die Kritik einen Gerichtshof einsetzt und dass der Ausdruck der Deduktion nicht logisch, sondern rechtlich zu verstehen ist.
Auch der bei Brandt nur partielle Durchgang durch die von Kant benutzten Metaphern ist nicht grundsätzlich neu. Und weil der Interpret so viel Wert auf den Zusammenhang mit dem Privatrecht der späteren Rechtslehre legt, erführe man gern, ob sich in der Kritik auch Kants systematisch wichtige Unterscheidung von innerem und äußerem Mein und Dein, also von angeborenen und von erworbenen Rechten, findet.
Das Kapitel zur zweiten Kritik enthält einige hilfreiche Bemerkungen, beispielsweise zur "hermeneutischen decapitatio (Detranszendentalisierung)", dagegen gibt es zu anderen Gesichtspunkten, etwa zum Verhältnis von Moral und Anthropologie, genauer differenzierende Untersuchungen. Im Kapitel zur Kritik der Urteilskraft zeigt sich eine intensivere Beschäftigung mit deren Themen, wobei aber erneut die Überlegungen zur Bestimmung des Menschen ziemlich kurz ausfallen.
Am wenigsten überzeugen die Ausführungen zu einer angeblich bislang übersehenen vierten Kritik Kants. Brandts Schlusskapitel kann sich zwar auf die Vorrede der dritten Kritik und andere Dinge berufen. Das Argument von der Einheit der veröffentlichten drei Kritiken, der des reinen Verstandes (KrV), der der reinen Urteilskraft (KU) und der der reinen Vernunft, genügt aber nicht. Denn jede der drei Kritiken untersucht ein eigenes Grundvermögen des Menschen, was auf den bloßen Gedanken der Einheit nicht zutrifft.
Die Ansicht überzeugt auch deshalb nicht, weil schon Kants erste Kritik eine Meta-Kritik enthält, sie außerdem, trotz einer anderslautenden Formulierung in der Vorrede der dritten Kritik, keinesfalls nur den reinen Verstand einer Kritik unterzieht. Ohnehin hätte man im Schlusskapitel das Leitmotiv erwartet, dass also in der moralischen Bestimmung des Menschen das Einheitsband von Kants kritischem OEuvre liege. Dass dies fehlt, schwächt nicht bloß die Überzeugungskraft des Schlusskapitels, sie nimmt auch dem Leitmotiv die Chance einer sich rundenden Begründung.
Dass Brandt gelegentlich den Neuigkeitswert seiner Überlegungen zu hoch einschätzt, braucht nicht zu stören, wohl aber, dass er andere Kant-Forscher immer wieder nur in Grenzen zur Kenntnis nimmt und sie dann wie Junior-Kollegen behandelt, die halt noch lernen müssen, am besten bei ihm selbst.
Wer Trouvaillen eines philosophiegeschichtlich hochbelesenen Kant-Gelehrten sucht, liest die Studie über weite Strecken mit Gewinn, sogar Vergnügen. Allerdings stehen viele eindrucksvolle mikrologische Teilstudien im Kontrast zu manchen übergroßen Pinselstrichen.
OTFRIED HÖFFE
Reinhard Brandt: "Die Bestimmung des Menschen bei Kant". Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. 627 S., br., 34,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH