Warum denken sich Menschen Kunstsprachen wie Esperanto, Volapük oder Blissymbolics aus? Clemens J. Setz erzählt anekdotenreich vom Antrieb und der Besessenheit ihrer Erfinder, getreu dem Motto: »Erzähl die beste Geschichte, die du kennst, so wahr wie möglich.«
Und diese Geschichte handelt unter anderem von Charles Bliss und seiner Symbolsprache, von Kindern mit Behinderung, die sich mit Blissymbolics zum ersten Mal ausdrücken können. Davon, wie Clemens J. Setz einen Sommer lang Volapük lernt und selbst eine eigene Sprache entwickelt. Es geht um die vermutlich einzige Volapük-Muttersprachlerin, die je gelebt hat, und um die Plansprache Talossa für die gleichnamige Mikronation, die ein Teenager 1979 in seinem Schlafzimmer ausrief. Um Klingonisch und High Valyrian, eine Sprache, die für die Fernsehserie Game of Thrones geschaffen wurde. Und um Esperanto, die größte Erfolgsgeschichte in der Welt der Plansprachen. Stets ist es die eigenartige Vermengung von tiefer existenzieller Krise und Sprachenerfindung, die Setz aufspürt und die ihn in ihren Bann schlägt – und so ist dieses Buch auch die persönliche Geschichte des Sprachkünstlers Clemens J. Setz.
Und diese Geschichte handelt unter anderem von Charles Bliss und seiner Symbolsprache, von Kindern mit Behinderung, die sich mit Blissymbolics zum ersten Mal ausdrücken können. Davon, wie Clemens J. Setz einen Sommer lang Volapük lernt und selbst eine eigene Sprache entwickelt. Es geht um die vermutlich einzige Volapük-Muttersprachlerin, die je gelebt hat, und um die Plansprache Talossa für die gleichnamige Mikronation, die ein Teenager 1979 in seinem Schlafzimmer ausrief. Um Klingonisch und High Valyrian, eine Sprache, die für die Fernsehserie Game of Thrones geschaffen wurde. Und um Esperanto, die größte Erfolgsgeschichte in der Welt der Plansprachen. Stets ist es die eigenartige Vermengung von tiefer existenzieller Krise und Sprachenerfindung, die Setz aufspürt und die ihn in ihren Bann schlägt – und so ist dieses Buch auch die persönliche Geschichte des Sprachkünstlers Clemens J. Setz.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Wiebke Porombka fühlt sich sichtlich wohl im Kosmos des Schriftstellers Clemens J. Setz. Wenn Setz den Plansprachen nachspürt, ihre mitunter skurrile Erfinder vorstellt und von eigenen Erfahrungen mit Esperanto, Volapük oder Bliss-Symbolik berichtet, lauscht sie mit Gewinn, weil Setz humorvoll und ohne große Geste schreibt, selbst wenn er das Thema Mensch und Sprache umkreist und die Rettungsfunktion von Poesie. Manchmal muss die Rezensentin googeln, weil Setz' Funde allzu verrückt klingen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.11.2020„mudel tudel vedel“
Clemens J. Setz bricht zu Abenteuern gleich um die Ecke auf.
In seinem erzählenden Sachbuch „Die Bienen und das Unsichtbare“ erkundet er
Plansprachen, poetische Unsinnsproduktion und die eigene Biografie
VON LOTHAR MÜLLER
Großer Vorkehrungen bedarf es nicht, um in Parallelwelten zu gelangen. An der Rückseite eines Wandschranks öffnet sich eine Tür, und schon ist der Weg nach Narnia frei. Ein Mädchen fällt in ein Kaninchenloch, rasch ist es im Wunderland. Die Abenteuer warten im Nahbereich. Eben noch saß Alice auf der Bank und hat in das langweilige Buch ihrer Schwester hineingelinst, schon ist sie in die Heldin eines aufregenden Buches verwandelt. Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz, geboren 1982 in Graz, gehört zu den interessantesten Autoren dieses Typs von Abenteuerliteratur. Man merkt es seinen Romanen, Erzählungen und Essays, etwa dem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (2015) an, dass nur wenige Mausklicks entfernt von seinen Textdateien die Computerspiele locken, die Clips und Videos auf Youtube, die entlegenen Blogs und Websites der digitalen Universalbibliothek. In diesen rabbit holes verschwindet er für kurze oder längere Zeit und wenn er zurückkehrt, hat er meist etwas zu erzählen. Nie hat er dabei einen Zauberhut auf, aber ohne Zweifel ist er ein Sprachmagier. Woran man ihn erkennt? An seinen Obsessionen.
In seinem neuen Buch „Die Bienen und das Unsichtbare“ erzählt Setz eine Anekdote aus seiner Kindheit. Bei den Familienausflügen in die Gegend um den Steinberg westlich von Graz warfen die hohen Felswände ein deutliches, klares Echo zurück. Dieses Echo hatte es dem Jungen angetan. Es war aber zu Hause nicht zu finden. Weder half es, die Schlafzimmerwände anzubrüllen, noch, vom Balkon hinabzuschreien. „Nicht einmal im Keller hallte mir, trotz der dort um so viel höheren Gespensterdichte, meine eigene Stimme entgegen. Also wählte ich einen bestimmten Gegenstand, es war, glaube ich, ein Teil eines Lampions, und nannte ihn ,Echo‘.“ Das Papierlampionstück trug seinen Namen zu Unrecht. Aber es gab der Sehnsucht ein Gegenüber und eine Form, es nährte eine der Wurzeln seiner Autorschaft. „Ich wollte einfach nicht ohne Echo sein.“
Rainer Maria Rilke wahrscheinlich auch nicht. Er wird häufig zitiert. Zitate sind literaturimmanente Echos. Am 13. November 1925 schrieb Rilke an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: „Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.“ Clemens Setz gibt dem Satz, den er im Titel seines Buches zitiert, eine besondere Wendung: „Ist das nicht auch die beste Definition von Dichtern in erfundenen Sprachen? Sie bringen Ertrag und Nährstoffe von einer Quelle, die sonst kaum jemand sehen kann.“
Die Kunstsprachen, auch Plansprachen genannt, sind in diesem Buch das Abenteuer gleich um die Ecke. Schon immer ist Clemens Setz, so wie früher die Ritter in die Welt auszogen, in die Sprachwelten ausgezogen. Nun hat er Volapük, Klingonisch, Lojban, Blissymbolics, Esperanto und ihre näheren und ferneren Verwandten besucht, ganz oder teilweise erlernt. Er nimmt sie gegen ihre Verächter in Schutz, erzählt von ihren Gründerfiguren und native speakern, übersetzt ihre Literatur, vor allem die Gedichte, aber auch die Prosa, und nicht zuletzt erzählt er von sich selbst.
„In Czernowitz, am östlichen Rand des Österreichisch-Ungarischen Reichs, wurde im Jahr 1897 Karl Kasiel Blitz geboren. Im selben Jahr erhielt die Stadt ihre erste Straßenbahn.“ Im Stil einer klassischen historischen Erzählung beginnt das Kapitel „Die schwer verfilmbare Geschichte des Mr. Bliss“. Es fasst Karl Blitz ins Auge, lange bevor er die „Blissysomblics“ erfindet, seine „Semantography“, eine nur aus aufgezeichneten Symbolen bestehende, von den Lauten ganz abgekoppelte Sprache. Es zeigt ihn als Kind, das zur Zielscheibe
der antisemitischen „Hep!-Hep!“-Parolen wird, folgt ihm in einen Lichtbildervortrag des Nordpolreisenden Julius Payer, durch sein Leben in den Zwanzigerjahren und Dreißigerjahren als Chemiker und dann Regisseur, der künstlerische Filme dreht, bis 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs, die Juden vertrieben oder, wie Karl, deportiert werden. Und während Karl die Flucht nach England gelingt und er dort seinen Namen „Blitz“, der nach Bombardierung klingt, in „Bliss“ ändert, lässt die Erzählung anklingen, dass es zwischen den blechern schallenden Lautsprechern, die Karl in Buchenwald erlebt hat, und der Grundfrage, aus der seine Symbolschrift hervorging, einen Zusammenhang geben könne: „War der Mensch dazu verurteilt, allein weil er einen Mund besaß, eine Sprache mit klanglicher Oberfläche zu verwenden? Oder konnte man so etwas wie Sinn auch ,direkt‘ übertragen, ohne Umweg über die Stimmlaute?“
Der von Clemens Setz erzählte Charles Bliss misstraut der Lautsprache, hält sie für leicht korrumpierbar durch Macht und Gewalt. Und er hat eine Lösung für das Problem der Sprachvereinsamung, das Clemens Setz als Neunjähriger im „Hirtenkloster“ im Norden von Graz erlebt hat, als er in einem Heim für mehrfach behinderte Kinder einem Jungen begegnete, der mit einem teleskopartigen Zeigestock, der ihm auf die Stirn geschnallt war, auf kleine Quadrate mit Symbolen zeigte. Das war die Erstbegegnung des Autors mit den „Blissymbolics“. In „Die Bienen und das Unsichtbare“ zeichnet er die Lebenswege von Charles Bliss und seiner Frau Claire nach, stellt Lehrerinnen für Kinder mit Zerebralparese vor, und macht, was als historischer Roman begann, zu einem ganz eigenen Typ von erzählendem Sachbuch. Es stellt seine Gegenstände unter einem besonderen perspektivischen Einfallswinkel dar. Setz interessiert sich, auch im Blick auf sich selber, für den Zusammenhang von Kunstsprache und Lebenskrisen. Im Reißbretthaften, Ausgetüftelten der Plansprachen sucht und findet er Ausdrucksnot und Sprachnot, Versehrungen, aber auch hochfahrende Utopien. „Plansprachen sind immer Autobiografien“, das ist die Formel für das erzählende Sachbuch.
Im Kapitel „Mein Sommer im Volapük“ wird es zur Autofiktion. Die Erkundung der Sprache, die der Pfarrer Johann Martin Schleyer 1879 erfunden hat, spiegelt sich im Tagebuch des Autors Clemens Setz aus dem Frühjahr und Sommer 2015 oder dem, was er als sein Tagebuch abdruckt, und den Kommentaren, die er im Rückblick hinzufügt. „Schwer depressiv“, „autoimmunkrank“, „vereinsamt und anschlusslos“ wird er zum Musterbeispiel des Zusammenhangs von Lebenskrise und Plansprachenobsession. Was ihn fasziniert, ist weniger die Grammatik als die Lexik, der Wortschatz. Er leidet an der Autoimmunkrankheit eines Sprachvirtuosen. Volapük ist sein Antidepressivum. Das Lernen fällt ihm nicht leicht, aber er freut sich sehr darüber, dass auf Volapük „Lol“ das Wort für „Rose“ ist und die Wochentage „so super“ sind: „mudel tudel vedel dödel fridel zädel sudel. Heute ist dödel.“
Hier wird der zweite Hauptstrang des Buches greifbar. Er handelt von den Plansprachen als Inspirationsquellen der Poesie, insbesondere der Nonsens-Poesie. Zu den Protagonisten zählen der österreichische Schriftsteller H.C. Artmann und der französische Philosoph Jacques Derrida, der amerikanische Science-Fiction-Autor Philip K. Dick, der Südtiroler Oswald Egger, die in Polen geborene deutsche Übersetzerin und Dichterin Dagmara Kraus, Oskar Pastior, den es aus dem rumänischen Siebenbürgen nach Deutschland verschlagen hat. Setz steigt in die Nachlassbibliothek Artmanns hinab, um der Grammatik seiner erfundenen Sprachen, zumal des Piktischen auf den Grund zu kommen. Er reist zu Sprachinseln in den Regionen des Nicht-Kommunikativen, hat Friedrich Schlegels Essay zur Verteidigung der Unverständlichkeit und eine seiner Lebensformeln im Gepäck: „Man braucht Undeutbares in sich, sonst ist man gar nichts.“
Mehr und mehr tritt die heimliche Hauptfigur des Buches in den Vordergrund, der Übersetzer Clemens Setz, der von all den Kunstsprachen, in die er eintaucht, immer noch nicht genug hat, die Google-Übersetzungsmaschine heißlaufen lässt, mit Hölderlins „Hälfte des Lebens“ und Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh“ füttert und überdies ihre nicht-intentionale Poesieproduktion protokolliert. In keiner der Sprachen, die er besucht, kann oder mag Clemens Setz selber dichten. Aber als der Übersetzer ihrer Poesie läuft er zu Hochform auf, so in der Passage über die seit den Achtzigerjahren erfundene Sprache Lojban: „Für den Neuling – oh großes Verhängnis! – / ist die Limerickform ein Gefängnis. / Es sind nur fünf Zeilen / man muss sich beeilen / und kommt echt in Reimwort-Bedrängnis.“
Wie Oliver Sacks, einer seiner Lieblingsautoren, neurologische Fallgeschichten erzählte, so erzählt Setz Fallgeschichten zur sprachlichen Unsinnsproduktion: über die Untertitel, mit denen eine Übersetzungssoftware die Nobelpreisrede Peter Handkes versah, über den Gebärdendolmetscher, der für die Gehörlosen die Reden bei der Trauerfeier für Nelson Mandela ins Sinnlose übertrug, über Elisabeth Mann Borgese, die jüngste Tochter Thomas Manns, und die Gedichte ihres Setters Arli.
Clemens Setz ist religiös unmusikalisch. Das zeigt sich, wenn er über das Zungenreden schreibt, die Glossolalie des religiösen Enthusiasmus. Die „Summa Theologica“ des Thomas von Aquin betrachtete er wie die Gottnähe des sinnlosen Silbensprechens, die darin erläutert wird, mit Verwunderung. Der mittelalterliche Gelehrte ist für ihn „ein Bot avant la lettre“, „die mnemonisch perfektionierte Volltextsuche“, eine Maschine, die ihre Belegstellen nach vorgegebenen Algorithmen verknüpft. Es ist kein Wunder, dass in diesem Buch die Unterscheidung von Päpsten und Programmieren das dritte Leitmotiv ist, neben der Nähe der Kunstsprachen zu Lebenskrisen und ihrem Potenzial als Reservoir von Nonsens-Poesie. Zu den Päpsten gehören Charles Bliss und der Volapük-Erfinder Johann Martin Schleyer, die sich als Erfinder mit Patentrechten verstehen und als Urheber über ihre Sprachen wachen.
Der vorbildliche Programmierer ist der Augenarzt Ludwik Zamenhof, der Esperanto als „open source“ mit beliebig erweiterbarem Wortschatz erfand, offen für jede Art von „Fan-Fiction“. Im Esperanto findet Setz das ihm gemäße Gegenüber, ausdrücklich nicht in geschlossenen Fantasy-Sprachen wie dem Quenya aus der Mythologie von Tolkiens „Herr der Ringe“: „Man bewegt sich, sobald man massenweise neues Vokabular erfindet, aus der Geborgenheit von Mittelerde hinaus. Dagegen bewegt man sich, je mehr neues Esperanto-Vokabular man erfindet, immer weiter und sattelfester in Esperantujo hinein.“
Die längste Erzählung in diesem Buch ist denn auch die romanhafte Rekonstruktion der Lebensgeschichte des russischen Esperanto-Dichters Vasilij Eroschenko, der im Alter von vier Jahren erblindete. Es ist eine Jahrhundertgeschichte, die nach China und Japan führt, in die Welt der Anarchisten und Bolschewisten, der Repression gegen Esperanto im nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion. Und am Ende steht der erzwungenen nomadischen Existenz Vasilij Eroschenkos das Sprachnomadentum des Esperanto-Übersetzers Clemens Setz gegenüber. Wer Abenteuerliteratur mag, ist mit diesem Buch sehr gut bedient.
Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 414 Seiten, 24 Euro.
Dichter in erfundenen Sprachen
bringen Ertrag von Quellen, die
sonst kaum einer sehen kann
Kann man so etwas wie Sinn
direkt übertragen? Ohne Umweg
über die Stimmlaute?
Esperanto mit beliebig
erweiterbarem Wortschatz ist
offen für jede Art „Fan-Fiction“
Für den Neuling –
oh großes Verhängnis! – /
ist die Limerickform
ein Gefängnis. /
Es sind nur
fünf Zeilen /
man muss sich beeilen /
und kommt echt
in Reimwort-Bedrängnis.“
Als Kind wollte er nicht ohne Echo sein: Clemens J. Setz erzählt in „Die Bienen und das Unsichtbare“ auch seine persönliche Geschichte.
Foto: imago/gezett
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Clemens J. Setz bricht zu Abenteuern gleich um die Ecke auf.
In seinem erzählenden Sachbuch „Die Bienen und das Unsichtbare“ erkundet er
Plansprachen, poetische Unsinnsproduktion und die eigene Biografie
VON LOTHAR MÜLLER
Großer Vorkehrungen bedarf es nicht, um in Parallelwelten zu gelangen. An der Rückseite eines Wandschranks öffnet sich eine Tür, und schon ist der Weg nach Narnia frei. Ein Mädchen fällt in ein Kaninchenloch, rasch ist es im Wunderland. Die Abenteuer warten im Nahbereich. Eben noch saß Alice auf der Bank und hat in das langweilige Buch ihrer Schwester hineingelinst, schon ist sie in die Heldin eines aufregenden Buches verwandelt. Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz, geboren 1982 in Graz, gehört zu den interessantesten Autoren dieses Typs von Abenteuerliteratur. Man merkt es seinen Romanen, Erzählungen und Essays, etwa dem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (2015) an, dass nur wenige Mausklicks entfernt von seinen Textdateien die Computerspiele locken, die Clips und Videos auf Youtube, die entlegenen Blogs und Websites der digitalen Universalbibliothek. In diesen rabbit holes verschwindet er für kurze oder längere Zeit und wenn er zurückkehrt, hat er meist etwas zu erzählen. Nie hat er dabei einen Zauberhut auf, aber ohne Zweifel ist er ein Sprachmagier. Woran man ihn erkennt? An seinen Obsessionen.
In seinem neuen Buch „Die Bienen und das Unsichtbare“ erzählt Setz eine Anekdote aus seiner Kindheit. Bei den Familienausflügen in die Gegend um den Steinberg westlich von Graz warfen die hohen Felswände ein deutliches, klares Echo zurück. Dieses Echo hatte es dem Jungen angetan. Es war aber zu Hause nicht zu finden. Weder half es, die Schlafzimmerwände anzubrüllen, noch, vom Balkon hinabzuschreien. „Nicht einmal im Keller hallte mir, trotz der dort um so viel höheren Gespensterdichte, meine eigene Stimme entgegen. Also wählte ich einen bestimmten Gegenstand, es war, glaube ich, ein Teil eines Lampions, und nannte ihn ,Echo‘.“ Das Papierlampionstück trug seinen Namen zu Unrecht. Aber es gab der Sehnsucht ein Gegenüber und eine Form, es nährte eine der Wurzeln seiner Autorschaft. „Ich wollte einfach nicht ohne Echo sein.“
Rainer Maria Rilke wahrscheinlich auch nicht. Er wird häufig zitiert. Zitate sind literaturimmanente Echos. Am 13. November 1925 schrieb Rilke an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: „Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.“ Clemens Setz gibt dem Satz, den er im Titel seines Buches zitiert, eine besondere Wendung: „Ist das nicht auch die beste Definition von Dichtern in erfundenen Sprachen? Sie bringen Ertrag und Nährstoffe von einer Quelle, die sonst kaum jemand sehen kann.“
Die Kunstsprachen, auch Plansprachen genannt, sind in diesem Buch das Abenteuer gleich um die Ecke. Schon immer ist Clemens Setz, so wie früher die Ritter in die Welt auszogen, in die Sprachwelten ausgezogen. Nun hat er Volapük, Klingonisch, Lojban, Blissymbolics, Esperanto und ihre näheren und ferneren Verwandten besucht, ganz oder teilweise erlernt. Er nimmt sie gegen ihre Verächter in Schutz, erzählt von ihren Gründerfiguren und native speakern, übersetzt ihre Literatur, vor allem die Gedichte, aber auch die Prosa, und nicht zuletzt erzählt er von sich selbst.
„In Czernowitz, am östlichen Rand des Österreichisch-Ungarischen Reichs, wurde im Jahr 1897 Karl Kasiel Blitz geboren. Im selben Jahr erhielt die Stadt ihre erste Straßenbahn.“ Im Stil einer klassischen historischen Erzählung beginnt das Kapitel „Die schwer verfilmbare Geschichte des Mr. Bliss“. Es fasst Karl Blitz ins Auge, lange bevor er die „Blissysomblics“ erfindet, seine „Semantography“, eine nur aus aufgezeichneten Symbolen bestehende, von den Lauten ganz abgekoppelte Sprache. Es zeigt ihn als Kind, das zur Zielscheibe
der antisemitischen „Hep!-Hep!“-Parolen wird, folgt ihm in einen Lichtbildervortrag des Nordpolreisenden Julius Payer, durch sein Leben in den Zwanzigerjahren und Dreißigerjahren als Chemiker und dann Regisseur, der künstlerische Filme dreht, bis 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs, die Juden vertrieben oder, wie Karl, deportiert werden. Und während Karl die Flucht nach England gelingt und er dort seinen Namen „Blitz“, der nach Bombardierung klingt, in „Bliss“ ändert, lässt die Erzählung anklingen, dass es zwischen den blechern schallenden Lautsprechern, die Karl in Buchenwald erlebt hat, und der Grundfrage, aus der seine Symbolschrift hervorging, einen Zusammenhang geben könne: „War der Mensch dazu verurteilt, allein weil er einen Mund besaß, eine Sprache mit klanglicher Oberfläche zu verwenden? Oder konnte man so etwas wie Sinn auch ,direkt‘ übertragen, ohne Umweg über die Stimmlaute?“
Der von Clemens Setz erzählte Charles Bliss misstraut der Lautsprache, hält sie für leicht korrumpierbar durch Macht und Gewalt. Und er hat eine Lösung für das Problem der Sprachvereinsamung, das Clemens Setz als Neunjähriger im „Hirtenkloster“ im Norden von Graz erlebt hat, als er in einem Heim für mehrfach behinderte Kinder einem Jungen begegnete, der mit einem teleskopartigen Zeigestock, der ihm auf die Stirn geschnallt war, auf kleine Quadrate mit Symbolen zeigte. Das war die Erstbegegnung des Autors mit den „Blissymbolics“. In „Die Bienen und das Unsichtbare“ zeichnet er die Lebenswege von Charles Bliss und seiner Frau Claire nach, stellt Lehrerinnen für Kinder mit Zerebralparese vor, und macht, was als historischer Roman begann, zu einem ganz eigenen Typ von erzählendem Sachbuch. Es stellt seine Gegenstände unter einem besonderen perspektivischen Einfallswinkel dar. Setz interessiert sich, auch im Blick auf sich selber, für den Zusammenhang von Kunstsprache und Lebenskrisen. Im Reißbretthaften, Ausgetüftelten der Plansprachen sucht und findet er Ausdrucksnot und Sprachnot, Versehrungen, aber auch hochfahrende Utopien. „Plansprachen sind immer Autobiografien“, das ist die Formel für das erzählende Sachbuch.
Im Kapitel „Mein Sommer im Volapük“ wird es zur Autofiktion. Die Erkundung der Sprache, die der Pfarrer Johann Martin Schleyer 1879 erfunden hat, spiegelt sich im Tagebuch des Autors Clemens Setz aus dem Frühjahr und Sommer 2015 oder dem, was er als sein Tagebuch abdruckt, und den Kommentaren, die er im Rückblick hinzufügt. „Schwer depressiv“, „autoimmunkrank“, „vereinsamt und anschlusslos“ wird er zum Musterbeispiel des Zusammenhangs von Lebenskrise und Plansprachenobsession. Was ihn fasziniert, ist weniger die Grammatik als die Lexik, der Wortschatz. Er leidet an der Autoimmunkrankheit eines Sprachvirtuosen. Volapük ist sein Antidepressivum. Das Lernen fällt ihm nicht leicht, aber er freut sich sehr darüber, dass auf Volapük „Lol“ das Wort für „Rose“ ist und die Wochentage „so super“ sind: „mudel tudel vedel dödel fridel zädel sudel. Heute ist dödel.“
Hier wird der zweite Hauptstrang des Buches greifbar. Er handelt von den Plansprachen als Inspirationsquellen der Poesie, insbesondere der Nonsens-Poesie. Zu den Protagonisten zählen der österreichische Schriftsteller H.C. Artmann und der französische Philosoph Jacques Derrida, der amerikanische Science-Fiction-Autor Philip K. Dick, der Südtiroler Oswald Egger, die in Polen geborene deutsche Übersetzerin und Dichterin Dagmara Kraus, Oskar Pastior, den es aus dem rumänischen Siebenbürgen nach Deutschland verschlagen hat. Setz steigt in die Nachlassbibliothek Artmanns hinab, um der Grammatik seiner erfundenen Sprachen, zumal des Piktischen auf den Grund zu kommen. Er reist zu Sprachinseln in den Regionen des Nicht-Kommunikativen, hat Friedrich Schlegels Essay zur Verteidigung der Unverständlichkeit und eine seiner Lebensformeln im Gepäck: „Man braucht Undeutbares in sich, sonst ist man gar nichts.“
Mehr und mehr tritt die heimliche Hauptfigur des Buches in den Vordergrund, der Übersetzer Clemens Setz, der von all den Kunstsprachen, in die er eintaucht, immer noch nicht genug hat, die Google-Übersetzungsmaschine heißlaufen lässt, mit Hölderlins „Hälfte des Lebens“ und Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh“ füttert und überdies ihre nicht-intentionale Poesieproduktion protokolliert. In keiner der Sprachen, die er besucht, kann oder mag Clemens Setz selber dichten. Aber als der Übersetzer ihrer Poesie läuft er zu Hochform auf, so in der Passage über die seit den Achtzigerjahren erfundene Sprache Lojban: „Für den Neuling – oh großes Verhängnis! – / ist die Limerickform ein Gefängnis. / Es sind nur fünf Zeilen / man muss sich beeilen / und kommt echt in Reimwort-Bedrängnis.“
Wie Oliver Sacks, einer seiner Lieblingsautoren, neurologische Fallgeschichten erzählte, so erzählt Setz Fallgeschichten zur sprachlichen Unsinnsproduktion: über die Untertitel, mit denen eine Übersetzungssoftware die Nobelpreisrede Peter Handkes versah, über den Gebärdendolmetscher, der für die Gehörlosen die Reden bei der Trauerfeier für Nelson Mandela ins Sinnlose übertrug, über Elisabeth Mann Borgese, die jüngste Tochter Thomas Manns, und die Gedichte ihres Setters Arli.
Clemens Setz ist religiös unmusikalisch. Das zeigt sich, wenn er über das Zungenreden schreibt, die Glossolalie des religiösen Enthusiasmus. Die „Summa Theologica“ des Thomas von Aquin betrachtete er wie die Gottnähe des sinnlosen Silbensprechens, die darin erläutert wird, mit Verwunderung. Der mittelalterliche Gelehrte ist für ihn „ein Bot avant la lettre“, „die mnemonisch perfektionierte Volltextsuche“, eine Maschine, die ihre Belegstellen nach vorgegebenen Algorithmen verknüpft. Es ist kein Wunder, dass in diesem Buch die Unterscheidung von Päpsten und Programmieren das dritte Leitmotiv ist, neben der Nähe der Kunstsprachen zu Lebenskrisen und ihrem Potenzial als Reservoir von Nonsens-Poesie. Zu den Päpsten gehören Charles Bliss und der Volapük-Erfinder Johann Martin Schleyer, die sich als Erfinder mit Patentrechten verstehen und als Urheber über ihre Sprachen wachen.
Der vorbildliche Programmierer ist der Augenarzt Ludwik Zamenhof, der Esperanto als „open source“ mit beliebig erweiterbarem Wortschatz erfand, offen für jede Art von „Fan-Fiction“. Im Esperanto findet Setz das ihm gemäße Gegenüber, ausdrücklich nicht in geschlossenen Fantasy-Sprachen wie dem Quenya aus der Mythologie von Tolkiens „Herr der Ringe“: „Man bewegt sich, sobald man massenweise neues Vokabular erfindet, aus der Geborgenheit von Mittelerde hinaus. Dagegen bewegt man sich, je mehr neues Esperanto-Vokabular man erfindet, immer weiter und sattelfester in Esperantujo hinein.“
Die längste Erzählung in diesem Buch ist denn auch die romanhafte Rekonstruktion der Lebensgeschichte des russischen Esperanto-Dichters Vasilij Eroschenko, der im Alter von vier Jahren erblindete. Es ist eine Jahrhundertgeschichte, die nach China und Japan führt, in die Welt der Anarchisten und Bolschewisten, der Repression gegen Esperanto im nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion. Und am Ende steht der erzwungenen nomadischen Existenz Vasilij Eroschenkos das Sprachnomadentum des Esperanto-Übersetzers Clemens Setz gegenüber. Wer Abenteuerliteratur mag, ist mit diesem Buch sehr gut bedient.
Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 414 Seiten, 24 Euro.
Dichter in erfundenen Sprachen
bringen Ertrag von Quellen, die
sonst kaum einer sehen kann
Kann man so etwas wie Sinn
direkt übertragen? Ohne Umweg
über die Stimmlaute?
Esperanto mit beliebig
erweiterbarem Wortschatz ist
offen für jede Art „Fan-Fiction“
Für den Neuling –
oh großes Verhängnis! – /
ist die Limerickform
ein Gefängnis. /
Es sind nur
fünf Zeilen /
man muss sich beeilen /
und kommt echt
in Reimwort-Bedrängnis.“
Als Kind wollte er nicht ohne Echo sein: Clemens J. Setz erzählt in „Die Bienen und das Unsichtbare“ auch seine persönliche Geschichte.
Foto: imago/gezett
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2021Hinter der Biegung, wo Katzenlämmer tänzeln
Clemens J. Setz erzählt in "Die Bienen und das Unsichtbare" von Plansprachen und deren Erfindern
Es beginnt exemplarisch: Das "Intro" von gut zwei Seiten bildet ein Dialog mit dem 1979 in Somaliland geborenen Mustafa Ahmed Jama, dem wegen einer angeborenen Zerebralparese die Verwendung der Stimmsprache verwehrt ist. Im Alter von fünf Jahren, er lebt mit den Eltern mittlerweile in Schweden, trifft er auf einen Lehrer, der ihm Bliss-Symbole beibringt - mit einem Stock wird dabei auf Piktogramme gedeutet - und dem Jungen die Tür in einen bis dahin verschlossenen Raum öffnet: zu sprachlichem Ausdruck und Austausch, zur Kommunikation. Setz hat den Kontakt zu dem jungen Mann gesucht, weil ihn dessen erster Gedichtband, verfasst in Bliss-Symbolen, beeindruckte.
Zwei weitere Episoden reißt Setz zum Auftakt an. Eine Geschichte Tommaso Landolfis aus dessen "Dialogo dei massimi sistemi" von 1937, die von einem Mann erzählt, der, angeleitet von einem englischen Kapitän, Persisch lernt bis zur Perfektion, bald darin sogar selbst zu dichten beginnt. Als er Jahre später erstmals einen klassischen persischen Dichter lesen will, sieht er nichts außer ihm völlig fremder Zeichen. Und einen anderen Sprachseparierten findet Setz in der von Werner Herzog überlieferten Szene über einen Aboriginal-Mann aus dem Süden Australiens: den letzten Sprecher einer Sprache, die von allen anderen Idiomen isoliert war. Im Pflegeheim verbringt dieser Mann seine Tage damit, Münzen in einen leeren Getränkeautomaten zu stecken und ihrem Klimpern nachzulauschen.
Und schließlich ruft Setz noch eine Passage aus Kafkas Erzählung "Eine Kreuzung" in Erinnerung, die ihn von Jugend an besonders bewegt habe. Ein merkwürdiges Tier, halb Lamm, halb Katze, tritt darin auf, ein Wesen, das der Erzähler vom Vater geerbt hat. Hin und wieder springt es auf den Sessel, hält die Schnauze an das Ohr des Erzählers, um diesem sodann prüfend ins Gesicht zu blicken. Wenn dieser nickt, als hätte er die Mitteilung verstanden, springt das Tier zu Boden und tänzelt umher. "Es ist dieses Tänzeln", schreibt Setz, "von dem mein Buch handelt. Es ist unsere eigentliche Natur."
So stößt Setz in einen Kosmos vor, der irgendwo zwischen dem physiologischen Vermögen der Lautformung, dem Maschinenraum des menschlichen Bewusstseins und dem Absoluten angesiedelt sein müsste. Anders gesagt: Wer will, kann "Die Bienen und das Unsichtbare" ein durch Autofiktion und "Anekdoten", wie der Suhrkamp Verlag es im Klappentext nennt, angereichertes Sachbuch über Plansprachen wie etwa Esperanto oder Volapük und deren Erfinder nennen. Vor allem aber ist es - obwohl oder eben gerade weil es weder mit großer Geste noch raunend oder verquast daherkommt, sondern unaufgeregt, als würde Setz in vertrauter Runde darüber plaudern - ein ebenso großartiger wie im kurios Abseitigen stöbernder Essay über das existentielle Verhältnis von Mensch und Sprache, über den Wunsch nach Verstandenwerden und Verstehen als anthropologische Grundkonstante.
Ein Buch über das Rettende der Poesie - der Titel ist einem Rilke-Zitat entlehnt - und eines, das man kaum ohne die Einsicht aus der Hand legen kann, dass zwischen dem Genialen und dem Banalen, der höchsten Erkenntnis und dem Nonsens mitunter nur minimalste Differenzen bestehen: "Lustigerweise ist das Hervorbringen scheinbar sinnloser Silben ein Betätigungsfeld, das sowohl die niedrigsten wie auch die höchsten Stufen geistiger Entwicklung umspannt, allerdings niemals die Bereiche dazwischen, das laue Mittelfeld." Vielleicht hat Setz nicht zuletzt dank dieser Erkenntnis zudem auch noch ein Buch geschrieben, das so viel Witz besitzt.
In sechs durch "Intro" und "Coda" gerahmten Kapiteln erzählt es von den mitunter haarsträubenden Lebenswegen von Plansprachenerfindern wie etwa Charles Bliss, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Karl Kasiel Blitz in Czernowitz geboren wird, einige Zeit in Dachau und Buchenwald interniert ist und schließlich nach England emigrieren kann. Die von Sprachperversion und -missbrauch begleiteten Verbrechen der Nationalsozialisten werden Bliss zum Antrieb, eine nichtkorrumpierbare Sprache erfinden zu wollen. Aus einer Vision aber wird verbissene Passion. Bliss' späteres Prozessieren gegen die Verwendung und Erweiterung seiner Zeichentafeln in der Frühförderung spastisch gelähmter Kinder offenbart die tragische Seite des Spracherfinders.
H. C. Artmanns Piktisch kommt bei Setz ebenso zu Wort wie die skurrile Geschichte um Robert Ben Madison, der als Vierzehnjähriger sein Zimmer zum Königreich "Talossa" erklärt und sich auf diese Weise einen phantastischen Ausweg aus der deprimierenden Gegenwart erspinnt, samt eigener Sprache. Was Ende der siebziger Jahre in einem Kinderzimmer in Milwaukee beginnt, bildet, zunächst über Mundpropaganda, später im Internet, staatsähnliche Strukturen aus. Anfang des Jahrtausends schließlich gibt König Robert I., Gründer der Mikronation Talossa, dem Unmut seiner Online-Bürger nach und dankt ab.
Natürlich weiß auch Setz, dass man es hier mit einem über Jahrzehnte betriebenen Phantasierollenspiel zu tun hat. Der Schmerz aber, den Robert Ben Madison etwa bei seiner Ansprache zum dreißigsten Jubiläum von Talossa empfinde, sei echt. Man kann die Rede aus dem Jahr 2009 auf Youtube nachschauen, wie man überhaupt bei der Lektüre dieses Buches immer wieder das Internet öffnet, weil Setz' Funde wieder allzu phantastisch scheinen, selbst wenn er sie durch Bilder oder Screenshots belegt.
Setz fügt auch wiederholt Ausschnitte aus seinem Tagebuch ein, in denen er von einer eigenen Krise berichtet. Aufgrund einer "mysteriösen Autoimmunerkrankung", die ihn von 2013 bis 2016 beschäftigte, habe er kaum mehr mit den Augen lesen können und sei "allmählich wahnsinnig" geworden. In dieser Phase begann er, Volapük zu lernen. Das Erfinden und Erlernen von Plan- oder Kunstsprachen will er dabei nicht als Hilferuf verstanden wissen, sondern als "eine Art Verschwindetrick, ein Sich-Wegzaubern". Ein Wegzaubern, das nicht bloße Abwendung ist, sondern im frühromantischen Sinne einen utopischen Kern hat: den Glauben, dass man durch die poetische Sprache - ebenso wie den radikaleren Nonsens oder die Plansprachen - die Wirklichkeit in Gebilde von "geradezu außerirdischer Leuchtkraft" verwandeln kann, auf dass einem selbst der Eintritt in die verwandelte Welt erlaubt ist. "Gleich hinter der Straßenbiegung", schreibt Setz, "warten die unbekannten Kontinente, wo man dir schon bei der Einreise einen völlig neuen Kopf aufsetzt und wo die Katzenlämmer tänzeln."
Wer die eigenwilligen, mitunter befremdlichen und gerade in ihrer Unergründlichkeit faszinierenden Romane und Erzählungen des 1982 geborenen Clemens J. Setz schätzt, der kann durch "Die Bienen und das Unsichtbare" ganz sicher nicht gleich das Setz'sche Universum vollends entschlüsseln, aber doch staunend durch den verwinkelten, unendlich scheinenden Fundus dieses Dichters schlendern. Verlassen möchte man ihn so bald nicht wieder.
WIEBKE POROMBKA
Clemens J. Setz: "Die Bienen und das Unsichtbare".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Clemens J. Setz erzählt in "Die Bienen und das Unsichtbare" von Plansprachen und deren Erfindern
Es beginnt exemplarisch: Das "Intro" von gut zwei Seiten bildet ein Dialog mit dem 1979 in Somaliland geborenen Mustafa Ahmed Jama, dem wegen einer angeborenen Zerebralparese die Verwendung der Stimmsprache verwehrt ist. Im Alter von fünf Jahren, er lebt mit den Eltern mittlerweile in Schweden, trifft er auf einen Lehrer, der ihm Bliss-Symbole beibringt - mit einem Stock wird dabei auf Piktogramme gedeutet - und dem Jungen die Tür in einen bis dahin verschlossenen Raum öffnet: zu sprachlichem Ausdruck und Austausch, zur Kommunikation. Setz hat den Kontakt zu dem jungen Mann gesucht, weil ihn dessen erster Gedichtband, verfasst in Bliss-Symbolen, beeindruckte.
Zwei weitere Episoden reißt Setz zum Auftakt an. Eine Geschichte Tommaso Landolfis aus dessen "Dialogo dei massimi sistemi" von 1937, die von einem Mann erzählt, der, angeleitet von einem englischen Kapitän, Persisch lernt bis zur Perfektion, bald darin sogar selbst zu dichten beginnt. Als er Jahre später erstmals einen klassischen persischen Dichter lesen will, sieht er nichts außer ihm völlig fremder Zeichen. Und einen anderen Sprachseparierten findet Setz in der von Werner Herzog überlieferten Szene über einen Aboriginal-Mann aus dem Süden Australiens: den letzten Sprecher einer Sprache, die von allen anderen Idiomen isoliert war. Im Pflegeheim verbringt dieser Mann seine Tage damit, Münzen in einen leeren Getränkeautomaten zu stecken und ihrem Klimpern nachzulauschen.
Und schließlich ruft Setz noch eine Passage aus Kafkas Erzählung "Eine Kreuzung" in Erinnerung, die ihn von Jugend an besonders bewegt habe. Ein merkwürdiges Tier, halb Lamm, halb Katze, tritt darin auf, ein Wesen, das der Erzähler vom Vater geerbt hat. Hin und wieder springt es auf den Sessel, hält die Schnauze an das Ohr des Erzählers, um diesem sodann prüfend ins Gesicht zu blicken. Wenn dieser nickt, als hätte er die Mitteilung verstanden, springt das Tier zu Boden und tänzelt umher. "Es ist dieses Tänzeln", schreibt Setz, "von dem mein Buch handelt. Es ist unsere eigentliche Natur."
So stößt Setz in einen Kosmos vor, der irgendwo zwischen dem physiologischen Vermögen der Lautformung, dem Maschinenraum des menschlichen Bewusstseins und dem Absoluten angesiedelt sein müsste. Anders gesagt: Wer will, kann "Die Bienen und das Unsichtbare" ein durch Autofiktion und "Anekdoten", wie der Suhrkamp Verlag es im Klappentext nennt, angereichertes Sachbuch über Plansprachen wie etwa Esperanto oder Volapük und deren Erfinder nennen. Vor allem aber ist es - obwohl oder eben gerade weil es weder mit großer Geste noch raunend oder verquast daherkommt, sondern unaufgeregt, als würde Setz in vertrauter Runde darüber plaudern - ein ebenso großartiger wie im kurios Abseitigen stöbernder Essay über das existentielle Verhältnis von Mensch und Sprache, über den Wunsch nach Verstandenwerden und Verstehen als anthropologische Grundkonstante.
Ein Buch über das Rettende der Poesie - der Titel ist einem Rilke-Zitat entlehnt - und eines, das man kaum ohne die Einsicht aus der Hand legen kann, dass zwischen dem Genialen und dem Banalen, der höchsten Erkenntnis und dem Nonsens mitunter nur minimalste Differenzen bestehen: "Lustigerweise ist das Hervorbringen scheinbar sinnloser Silben ein Betätigungsfeld, das sowohl die niedrigsten wie auch die höchsten Stufen geistiger Entwicklung umspannt, allerdings niemals die Bereiche dazwischen, das laue Mittelfeld." Vielleicht hat Setz nicht zuletzt dank dieser Erkenntnis zudem auch noch ein Buch geschrieben, das so viel Witz besitzt.
In sechs durch "Intro" und "Coda" gerahmten Kapiteln erzählt es von den mitunter haarsträubenden Lebenswegen von Plansprachenerfindern wie etwa Charles Bliss, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Karl Kasiel Blitz in Czernowitz geboren wird, einige Zeit in Dachau und Buchenwald interniert ist und schließlich nach England emigrieren kann. Die von Sprachperversion und -missbrauch begleiteten Verbrechen der Nationalsozialisten werden Bliss zum Antrieb, eine nichtkorrumpierbare Sprache erfinden zu wollen. Aus einer Vision aber wird verbissene Passion. Bliss' späteres Prozessieren gegen die Verwendung und Erweiterung seiner Zeichentafeln in der Frühförderung spastisch gelähmter Kinder offenbart die tragische Seite des Spracherfinders.
H. C. Artmanns Piktisch kommt bei Setz ebenso zu Wort wie die skurrile Geschichte um Robert Ben Madison, der als Vierzehnjähriger sein Zimmer zum Königreich "Talossa" erklärt und sich auf diese Weise einen phantastischen Ausweg aus der deprimierenden Gegenwart erspinnt, samt eigener Sprache. Was Ende der siebziger Jahre in einem Kinderzimmer in Milwaukee beginnt, bildet, zunächst über Mundpropaganda, später im Internet, staatsähnliche Strukturen aus. Anfang des Jahrtausends schließlich gibt König Robert I., Gründer der Mikronation Talossa, dem Unmut seiner Online-Bürger nach und dankt ab.
Natürlich weiß auch Setz, dass man es hier mit einem über Jahrzehnte betriebenen Phantasierollenspiel zu tun hat. Der Schmerz aber, den Robert Ben Madison etwa bei seiner Ansprache zum dreißigsten Jubiläum von Talossa empfinde, sei echt. Man kann die Rede aus dem Jahr 2009 auf Youtube nachschauen, wie man überhaupt bei der Lektüre dieses Buches immer wieder das Internet öffnet, weil Setz' Funde wieder allzu phantastisch scheinen, selbst wenn er sie durch Bilder oder Screenshots belegt.
Setz fügt auch wiederholt Ausschnitte aus seinem Tagebuch ein, in denen er von einer eigenen Krise berichtet. Aufgrund einer "mysteriösen Autoimmunerkrankung", die ihn von 2013 bis 2016 beschäftigte, habe er kaum mehr mit den Augen lesen können und sei "allmählich wahnsinnig" geworden. In dieser Phase begann er, Volapük zu lernen. Das Erfinden und Erlernen von Plan- oder Kunstsprachen will er dabei nicht als Hilferuf verstanden wissen, sondern als "eine Art Verschwindetrick, ein Sich-Wegzaubern". Ein Wegzaubern, das nicht bloße Abwendung ist, sondern im frühromantischen Sinne einen utopischen Kern hat: den Glauben, dass man durch die poetische Sprache - ebenso wie den radikaleren Nonsens oder die Plansprachen - die Wirklichkeit in Gebilde von "geradezu außerirdischer Leuchtkraft" verwandeln kann, auf dass einem selbst der Eintritt in die verwandelte Welt erlaubt ist. "Gleich hinter der Straßenbiegung", schreibt Setz, "warten die unbekannten Kontinente, wo man dir schon bei der Einreise einen völlig neuen Kopf aufsetzt und wo die Katzenlämmer tänzeln."
Wer die eigenwilligen, mitunter befremdlichen und gerade in ihrer Unergründlichkeit faszinierenden Romane und Erzählungen des 1982 geborenen Clemens J. Setz schätzt, der kann durch "Die Bienen und das Unsichtbare" ganz sicher nicht gleich das Setz'sche Universum vollends entschlüsseln, aber doch staunend durch den verwinkelten, unendlich scheinenden Fundus dieses Dichters schlendern. Verlassen möchte man ihn so bald nicht wieder.
WIEBKE POROMBKA
Clemens J. Setz: "Die Bienen und das Unsichtbare".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wer die eigenwilligen, mitunter befremdlichen und gerade in ihrer Unergründlichkeit faszinierenden Romane und Erzählungen des ... Clemens J. Setz schätzt, der kann durch Die Bienen und das Unsichtbare ganz sicher nicht gleich das Setz'sche Universum vollends entschlüsseln, aber doch staunend durch den verwinkelten, unendlich scheinenden Fundus dieses Dichters schlendern.« Wiebke Porombka Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210203