Die Kathedrale von Reims ist als Krönungskirche, Nationaldenkmal und Meisterwerk der Gotik ein bedeutender Ort der französischen Geschichte und Identität. Als gerade dieses einzigartige Monument von deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg bombardiert und erheblich beschädigt wurde, führte dies zu einem radikalen Bruch in den deutsch-französischen Beziehungen. Der Angriff auf Reims im September 1914 hatte weitreichende Folgen und löste einen beispiellosen Propagandakrieg aus, in dem Frankreich die Zerstörung des Gotteshauses als vorsätzlichen Akt der Barbarei anprangerte. Thomas W. Gaehtgens legt eindrucksvoll die symbolische, architektonische und historische Wirkungsmacht der Kathedrale dar und schärft damit das Bewusstsein für die politische Bedeutung kultureller Monumente. Darüber hinaus geht er kenntnisreich auf Fragen des Schutzes und der Wiederherstellung von Denkmälern ein. Das Buch endet mit der schwierigen Annäherung Frankreichs und Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Durch das Engagement Charles de Gaulles und Konrad Adenauers wurde die Kathedrale von Reims schließlich als «Friedenskirche» zu einem Erinnerungsort der Versöhnung und der europäischen Vereinigung.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2018Kampf der Kulturkrieger
Was zählt mehr - Menschenleben oder Denkmäler? Der Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens zeigt die weitreichenden Folgen der Propagandaschlacht, die der Beschuss der Kathedrale von Reims 1914 auslöste.
Der Brand der Kathedrale von Reims nach der Beschießung durch deutsche Truppen im September 1914 war ein Menetekel der totalisierten Kriegführung. Der Angriff auf die Kathedrale rief weltweit Abscheu hervor, der von der alliierten Propaganda weidlich ausgenutzt wurde. Kein zweiter "Zwischenfall" hat die Erzählung des Krieges in Frankreich so sehr geprägt wie der Angriff auf dieses Heiligtum der französischen Geschichte - als Ort der Krönung französischer Könige - und Nation. Es gibt einige hervorragende Studien zum Brand der Kathedrale, doch eine verlässliche Gesamterzählung lag auf Deutsch nicht vor, und die deutschen Quellen zu diesem Ereignis sind äußerst verstreut.
Der Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens, bis 2018 Direktor des Getty Research Institute in Los Angeles, hat diese Leerstelle nun gefüllt. Sein Buch beginn mit einer konzisen Darstellung der Ereignisse des September 1914, als Reims zunächst einige Tage lang von deutschen Truppen besetzt war, die sich dann, nach dem Debakel des Marne-Feldzugs, wieder aus der Stadt zurückzogen. Diese wurde anschließend von französischen Truppen besetzt und befestigt.
Die Deutschen, die sich nördlich der Stadt eingegraben hatten, wurden beschossen, weshalb die Stadt also völkerrechtlich keine "offene Stadt" mehr war. Durch diesen Beschuss erlitten die deutschen Truppen empfindliche Verluste, und ihr Kommandant erließ eine Warnung an die Verteidiger der Stadt, dass man die Kathedrale beschießen müsse, wenn weiterhin von dort aus per Lichtsignal die französische Artillerie justiert werde. Ob dies tatsächlich der Fall war, war und bleibt strittig; fest steht allerdings, dass sich tatsächlich Personen auf dem Rundgang der Türme befanden, die mit Kameras oder auch Leuchten hantierten. Der Beschuss, der dann erfolgte, war nicht massiv und nicht auf Zerstörung der Kathedrale ausgerichtet, da diese aber eingerüstet und auch mit Stroh angefüllt war für die Lagerung von verwundeten deutschen Soldaten, die bei Rückzug der Deutschen aus der Stadt zurückgeblieben waren, geriet sie schnell in Brand und wurde schwer beschädigt.
Gaehtgens kennt die Forschung genau und lässt sie angemessen zu Wort kommen. Wichtig ist, dass er mehr als die bisherige Literatur auch die deutschen Rechtfertigungen für das Desaster von Reims einbezieht, insbesondere den einige Monate nach dem Angriff veröffentlichten deutschen Untersuchungsbericht. Der " Zwischenfall" führte nämlich in eine veritable Kulturschlacht. Da ist zunächst der "Aufruf der 93", unterzeichnet von deutsche Wissenschaftlern und Kulturschaffenden, vom 4. Oktober 1914, der in martialischem Ton die alliierten Beschuldigungen zurückwies. Die Anschuldigungen der Kriegsgegner über deutsche Greuel wurden mit einem kategorischen "Es ist nicht wahr" beantwortet. Doch diese Verteidigung half den Deutschen nicht. Denn zum einen war die alliierte Hasspropaganda sehr viel stärker als die deutsche, und zudem blieb Reims kein Einzelfall: Fast gleichzeitig wurde das belgische Löwen niedergebrannt und mit ihm seine berühmte Bibliothek.
Thomas Gaehtgens enthält sich jeglicher historischer Schuldzuweisung. Er zeigt deren politische Bedeutung und was aus ihr an weiteren Polemiken im "Krieg der Geister" entstand. Diese Zurückhaltung schließt nicht aus, dass er sich da, wo die Quellen klar sind, sehr dezidiert äußert. Etwa bei der Zurückweisung der deutschen Behauptung, man sei bei aller notwendigen Kriegshärte stets um die bestmögliche Erhaltung von Kulturdenkmälern im Feindesland besorgt gewesen. Das war keineswegs der Fall. Schon ein Bericht von Theodor Wolff, dem Chef des "Berliner Tageblatts", zeigt es. Wolff wollte angesichts der Reimser Katastrophe einen Artikel veröffentlichen, in dem es um den Schutz von Monumenten ging. Aber die militärische Zensur war nicht seiner Meinung, weil nach traditioneller Auffassung, wie sie schon der ältere Moltke gepredigt hatte, die brutalste Art der Kriegführung im Grunde die humanste sei, da sie dazu diene, den Krieg abzukürzen.
Gaehtgens fragt, wie es eigentlich kommen konnte, dass sich die Intellektuellen aller Nationen so bedingungslos der Kriegspropaganda zur Verfügung stellten. Er zeigt, wie sich die französischen Intellektuellen angesichts der zerstörten Kathedrale zu einem regelrechten Kulturkriegs-Regiment zusammenfanden und wie schwach die deutschen "Antworten" blieben. Für die Franzosen war es offensichtlich wichtiger, Kulturdenkmäler zu schützen, als Menschenleben, während die Deutschen vielfach nach dem Motto handelten, dass auch berühmte Kunstwerke die "Knochen eines pommerschen Grenadiers" nicht wert seien (Bismarck).
Der Autor zeigt, wie die Fotografien der brennenden Kathedrale verfälscht wurden, wie aus Beschädigungen Totalzerstörungen wurden. Die vom ihm hier präsentierte Sammlung von Fotos und Propagandabildern hat selbst der Katalog der Reimser Ausstellung von 2016 nicht zeigen können. Es ist bestechend, wie Gaehtgens die Geschichte der "brennenden Kathedrale" in eine Darstellung deutscher und französischer Kulturempfindlichkeit vor, während und nach dem Krieg einbettet. So ist ein Kapitel dem "Mythos der Gotik in Frankreich" gewidmet. Was zunächst als abschweifender Rückblick erscheinen könnte, zeigt bei der Lektüre, wie notwendig es ist, sich aus der Atmosphäre der Kriegspropaganda zu lösen, um die Tiefe und Resonanz derselben überhaupt verstehen zu können. Durch Victor Hugos "Notre-Dame de Paris" von 1831 war das "Gotische" als Baustein französischer Identität fest etabliert, wie Marcel Prousts "Mort des cathédrales" von 1904 und Rodins Skulptur der aufragenden verschränkten Hände als Bild der Reimser Kathedrale aus demselben Jahr zeigen. So ist dann auch Rodins Protest gegen die Beschießung der Kathedrale sehr viel mehr gewesen als nur Kriegspolemik. Das Buch schließt mit einem Kapitel zu Adenauers Empfang durch de Gaulle in Reims im Jahre 1962, wodurch die Stadt zu einem Erinnerungsort der deutsch-französischen Freundschaft werden konnte.
GERD KRUMEICH
Thomas W. Gaehtgens: "Die brennende Kathedrale". Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg.
Verlag C. H. Beck, München 2018. 352 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was zählt mehr - Menschenleben oder Denkmäler? Der Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens zeigt die weitreichenden Folgen der Propagandaschlacht, die der Beschuss der Kathedrale von Reims 1914 auslöste.
Der Brand der Kathedrale von Reims nach der Beschießung durch deutsche Truppen im September 1914 war ein Menetekel der totalisierten Kriegführung. Der Angriff auf die Kathedrale rief weltweit Abscheu hervor, der von der alliierten Propaganda weidlich ausgenutzt wurde. Kein zweiter "Zwischenfall" hat die Erzählung des Krieges in Frankreich so sehr geprägt wie der Angriff auf dieses Heiligtum der französischen Geschichte - als Ort der Krönung französischer Könige - und Nation. Es gibt einige hervorragende Studien zum Brand der Kathedrale, doch eine verlässliche Gesamterzählung lag auf Deutsch nicht vor, und die deutschen Quellen zu diesem Ereignis sind äußerst verstreut.
Der Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens, bis 2018 Direktor des Getty Research Institute in Los Angeles, hat diese Leerstelle nun gefüllt. Sein Buch beginn mit einer konzisen Darstellung der Ereignisse des September 1914, als Reims zunächst einige Tage lang von deutschen Truppen besetzt war, die sich dann, nach dem Debakel des Marne-Feldzugs, wieder aus der Stadt zurückzogen. Diese wurde anschließend von französischen Truppen besetzt und befestigt.
Die Deutschen, die sich nördlich der Stadt eingegraben hatten, wurden beschossen, weshalb die Stadt also völkerrechtlich keine "offene Stadt" mehr war. Durch diesen Beschuss erlitten die deutschen Truppen empfindliche Verluste, und ihr Kommandant erließ eine Warnung an die Verteidiger der Stadt, dass man die Kathedrale beschießen müsse, wenn weiterhin von dort aus per Lichtsignal die französische Artillerie justiert werde. Ob dies tatsächlich der Fall war, war und bleibt strittig; fest steht allerdings, dass sich tatsächlich Personen auf dem Rundgang der Türme befanden, die mit Kameras oder auch Leuchten hantierten. Der Beschuss, der dann erfolgte, war nicht massiv und nicht auf Zerstörung der Kathedrale ausgerichtet, da diese aber eingerüstet und auch mit Stroh angefüllt war für die Lagerung von verwundeten deutschen Soldaten, die bei Rückzug der Deutschen aus der Stadt zurückgeblieben waren, geriet sie schnell in Brand und wurde schwer beschädigt.
Gaehtgens kennt die Forschung genau und lässt sie angemessen zu Wort kommen. Wichtig ist, dass er mehr als die bisherige Literatur auch die deutschen Rechtfertigungen für das Desaster von Reims einbezieht, insbesondere den einige Monate nach dem Angriff veröffentlichten deutschen Untersuchungsbericht. Der " Zwischenfall" führte nämlich in eine veritable Kulturschlacht. Da ist zunächst der "Aufruf der 93", unterzeichnet von deutsche Wissenschaftlern und Kulturschaffenden, vom 4. Oktober 1914, der in martialischem Ton die alliierten Beschuldigungen zurückwies. Die Anschuldigungen der Kriegsgegner über deutsche Greuel wurden mit einem kategorischen "Es ist nicht wahr" beantwortet. Doch diese Verteidigung half den Deutschen nicht. Denn zum einen war die alliierte Hasspropaganda sehr viel stärker als die deutsche, und zudem blieb Reims kein Einzelfall: Fast gleichzeitig wurde das belgische Löwen niedergebrannt und mit ihm seine berühmte Bibliothek.
Thomas Gaehtgens enthält sich jeglicher historischer Schuldzuweisung. Er zeigt deren politische Bedeutung und was aus ihr an weiteren Polemiken im "Krieg der Geister" entstand. Diese Zurückhaltung schließt nicht aus, dass er sich da, wo die Quellen klar sind, sehr dezidiert äußert. Etwa bei der Zurückweisung der deutschen Behauptung, man sei bei aller notwendigen Kriegshärte stets um die bestmögliche Erhaltung von Kulturdenkmälern im Feindesland besorgt gewesen. Das war keineswegs der Fall. Schon ein Bericht von Theodor Wolff, dem Chef des "Berliner Tageblatts", zeigt es. Wolff wollte angesichts der Reimser Katastrophe einen Artikel veröffentlichen, in dem es um den Schutz von Monumenten ging. Aber die militärische Zensur war nicht seiner Meinung, weil nach traditioneller Auffassung, wie sie schon der ältere Moltke gepredigt hatte, die brutalste Art der Kriegführung im Grunde die humanste sei, da sie dazu diene, den Krieg abzukürzen.
Gaehtgens fragt, wie es eigentlich kommen konnte, dass sich die Intellektuellen aller Nationen so bedingungslos der Kriegspropaganda zur Verfügung stellten. Er zeigt, wie sich die französischen Intellektuellen angesichts der zerstörten Kathedrale zu einem regelrechten Kulturkriegs-Regiment zusammenfanden und wie schwach die deutschen "Antworten" blieben. Für die Franzosen war es offensichtlich wichtiger, Kulturdenkmäler zu schützen, als Menschenleben, während die Deutschen vielfach nach dem Motto handelten, dass auch berühmte Kunstwerke die "Knochen eines pommerschen Grenadiers" nicht wert seien (Bismarck).
Der Autor zeigt, wie die Fotografien der brennenden Kathedrale verfälscht wurden, wie aus Beschädigungen Totalzerstörungen wurden. Die vom ihm hier präsentierte Sammlung von Fotos und Propagandabildern hat selbst der Katalog der Reimser Ausstellung von 2016 nicht zeigen können. Es ist bestechend, wie Gaehtgens die Geschichte der "brennenden Kathedrale" in eine Darstellung deutscher und französischer Kulturempfindlichkeit vor, während und nach dem Krieg einbettet. So ist ein Kapitel dem "Mythos der Gotik in Frankreich" gewidmet. Was zunächst als abschweifender Rückblick erscheinen könnte, zeigt bei der Lektüre, wie notwendig es ist, sich aus der Atmosphäre der Kriegspropaganda zu lösen, um die Tiefe und Resonanz derselben überhaupt verstehen zu können. Durch Victor Hugos "Notre-Dame de Paris" von 1831 war das "Gotische" als Baustein französischer Identität fest etabliert, wie Marcel Prousts "Mort des cathédrales" von 1904 und Rodins Skulptur der aufragenden verschränkten Hände als Bild der Reimser Kathedrale aus demselben Jahr zeigen. So ist dann auch Rodins Protest gegen die Beschießung der Kathedrale sehr viel mehr gewesen als nur Kriegspolemik. Das Buch schließt mit einem Kapitel zu Adenauers Empfang durch de Gaulle in Reims im Jahre 1962, wodurch die Stadt zu einem Erinnerungsort der deutsch-französischen Freundschaft werden konnte.
GERD KRUMEICH
Thomas W. Gaehtgens: "Die brennende Kathedrale". Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg.
Verlag C. H. Beck, München 2018. 352 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Es ist bestechend, wie Gaehtgens die Geschichte der 'brennenden Kathedrale' in eine Darstellung deutscher und französischer Kulturempfindlichkeit vor, während und nach dem Krieg einbettet."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Gerd Krumeich
"Überaus flüssig geschrieben und in seiner Fragestellung weit über die engeren Grenzen der Kunstgeschichte hinausgreifend erfüllt der Band alle Voraussetzungen, ein breiteres Publikum für die Thematik zu interessieren."
Inquiries into Art, History and the Visual, Ingo Herklotz
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Gerd Krumeich
"Überaus flüssig geschrieben und in seiner Fragestellung weit über die engeren Grenzen der Kunstgeschichte hinausgreifend erfüllt der Band alle Voraussetzungen, ein breiteres Publikum für die Thematik zu interessieren."
Inquiries into Art, History and the Visual, Ingo Herklotz