Die neuen Dimensionen der Komödien und Tragödien im Alltag der Globalisierung erzählt der preisgekrönte Roman der französischen Autorin Maylis de Kerangal. Personen aus den unterschiedlichsten Weltgegenden treffen aufeinander, und es entwickeln sich neue ungeahnte Verwicklungen, Verhältnisse und Beziehungen zwischen den Menschen, es entstehen völlig unbekannte Situationen mit unvorstellbaren Konsequenzen, Vorgänge, in den sich alte Einstellungen und neueste Haltungen gegenüberstehen. In Coca, einer Stadt im fiktiven Kalifornien, soll am Anfang unseres Jahrtausends eine enorme Brücke entstehen, mit der die letzte Kluft zwischen der westlichen Zivilisation und dem Rest an unberührter Kultur überwunden werden soll. Menschen aus allen Teilen des Erdballs strömen an diese gigantische Baustelle. Auf diese Weise bildet sich ein menschlicher Schmelztigel unbekannten Ausmaßes. In diesem Zusammenprall der Kulturen werden Kräfte ungeahnten Ausmaßes freigesetzt: Die Brücke von Coca registriert anhand der Stationen der Fertigstellung dieses Menschheitsdenkmals detailliert die Tricks der großen und kleinen Politik, die Passionen und Leiden, Verbrechen und Amouren beim Zusammentreffen der Kulturen: eine andere kosmopolitische Generation entsteht unter schmerzhaften Kämpfen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.05.2012Das leise Schwanken des Kranauslegers
In ihrem Roman „Die Brücke von Coca“ erzählt Maylis de Kerangal von einem Schlüsselort der aktuellen Arbeitswelt: der internationalen Großbaustelle
Er ist ein harter Typ, der schon überall auf der Welt war: Eine Pipeline in Baku hat er bauen helfen, einen Gashafen in Cumaná; in Mirnji ging es darum, unter der schmutzigen Eiswüste der sibirischen Tundra eine Diamantmine einzurichten. Dort ist er drei Jahre geblieben, was viel war. Sonst wechselt er häufiger, seit zwanzig Jahren, nur begleitet von seinem Wissen als Ingenieur, der Erfahrung als Leiter von Großprojekten und den Devisen, die ihm erlauben, vor Ort mit interessierten Frauen etwas zu anzufangen.
Nur typische Männerliteratur bringt solche Charaktere hervor, möchte man meinen, aber Maylis de Kerangal, die 1967 in Toulon geborene Tochter und Enkelin von Kapitänen zur See, passt nicht so recht in dieses Schema. In andere aber auch nicht. Sie hat mit der oft etwas verblasenen Sprache der traditionellen „modernen“ französischen Literatur so wenig zu tun wie mit so unterschiedlichen Berufs- und Moderebellen wie Beigbeder und Houellebecq. Sie passt auch nicht ins Kästchen der provokanten Erotikerinnen. Nur eines kann man sagen: Es geht ihr um die Gegenwart, darum, was diese aus den Menschen macht.
Das merkt man zuerst an der Sprache. Einem Charakter wie Georges Diderot kann man einen literarisch belasteten Namen geben – er ist nicht die einzige Figur dieses Buchs, die sich den Scherz gefallen lassen muss –, aber um ihn ganz zu erfassen, passen abgehackte Sätze, die von Reihungen leben, besser. Sie vermitteln das Tempo von Diderots Existenz, sind aufgeladen mit Wörtern, die zu unfein sind, um traditionell, aber auch zu unattraktiv, um schick zu wirken: Pickel, Stollen, Schienen, Gänge, liest man auf Seite eins in gedrängter Folge, aber auch „lieber gar nichts als mit dieser Frau vögeln, die keine Lust auf ihn hatte“.
Hat man sich mit Diderot, dem sensiblen Tier, eingerichtet, kommt eine Reihe neuer Figuren hinzu: Mo Yan, „ein dünnbeiniger Chinese mit hartem Profil“. Er ist siebzehn, war aber schon in der Mongolei und in Chinatown, wo er von seinem Onkel ausgenutzt wurde. In Coca ist er bloß Bauarbeiter. Sancho, der Kranführer, der endlich von seiner portugiesischen Mutter freikommt, ist da wichtiger. Er verguckt sich in Shakira Ourga, das russische Überweib, das die Neuankömmlinge am Flughafen abholt. Alle haben sie das Ziel, in Coca Geld zu verdienen beim Bau einer Brücke, die Boa, der eigentlich John Johnson heißt und Bürgermeister ist, einfiel, um sein Image zu heben.
Aber so bizarr sie gezeichnet sind, die – auch mal klischeenahen – Einzelcharaktere sind nicht das Wichtigste. Es geht Kerangal darum zu zeigen, was aus Menschen wird, wenn sie Teil eines Produktionsprozesses werden. Und zwar aus Menschen, denen es an ausgeruhtem philosophischem Background fehlt. Sie wollen nur Teil einer Maschine sein und von ihr profitieren, doch das ist nicht ganz risikolos. Kerangal schüttelt ihre Seelen mittels Sprache durch. Keiner kann eine ruhige Kugel schieben. Zwar erfährt man nach und nach mehr von den Leuten – was manchmal, wie im richtigen Leben, eine Enttäuschung ist –, und das Tempo verringert sich, aber oft gelingt es Kerangal gerade dann, zwei ihrer Einzelwesen sich aneinander reiben zu lassen.
Das ist bei Diderot und Katherine Thoreau der Fall. Sie ist Mutter dreier Kinder und hat einen Säufer als Mann, der die Schwäche entwickelt, ihr gern etwas an den Kopf zu werfen. Allmählich entwickelt sich zwischen Diderot und der Arbeiterin etwas, das man Liebe nennen könnte. Aber vielleicht kann man auch den deftigen Sex, den Sancho am Ende in der Krankabine mit Shakira Ourga hat, so nennen? Ganz klar ist das hier alles nicht. Denn was an einer Stelle im Blick auf Diderot gesagt ist, kann man als Motto des ganzen Buches lesen: „Innere Erfahrung findet niemals innen statt, murmelt er spöttisch, wenn die von seiner Trivialität Enttäuschten ihn zu mehr Innerlichkeit und Tiefe ermahnten, dazu ist kein Rückzug nötig, sondern ein Sich-Aussetzen, und ich setze mich gern aus.“
Immer klappt es nicht mit den Kontakten. Summer Diamantis – „ein drahtiges Mädchen mit trockenen Augen“ –, die für Sancho etwas übrighat, bleibt am Ende, was sie am Anfang war: die ungewöhnliche Frau, die für die Betonmischung beim Pfeilerbau verantwortlich ist. Als sie einmal mit zwei schwarzen Arbeitern zusammenkommt, weil beim Brückenbau gerade nur gewartet werden muss, passiert wieder nichts – weil die Schwarzen gebrannte Kinder sind. Einer wurde schon eingelocht, wegen Diebstahl an einer betrunkenen Weißen, den er gar nicht begangen hat.
Gut amerikanisch sind nicht wenige literarische Techniken, die Kerangal ausprobiert. Von der filmischen Präsentation der Figuren, die, in Verbindung mit der schnarrend-temporeichen Sprache, an Robert Altmans Polizeihelikopter über Los Angeles erinnert, bis zur daran gekoppelten zeitlichen Raffung. Innerhalb von drei Zeilen lässt die Erzählstimme Summer Diamantis eine lange Reise hinter sich bringen: „. . . siebzehn Stunden später wird man sie aus dem Flughafen von Coca kommen und auf dem Rücksitz eines zitronengelben Taxis Platz nehmen sehen, ihr straff gebundener Pferdeschwanz lässt Stirn und Hals frei, sie gibt dem Fahrer die Adresse . . .“ Die Kenntnis internationaler literarischer Traditionen schadet keiner europäischen Literatur.
Auch, wenn es dann plötzlich ein paar Stellen gibt, die nicht recht passen wollen. Klar, dass Naturschützer beim Bau einer großen Brücke heute eine wichtige, oft verhindernde Rolle spielen, aber den allzu papierenen Buschintellektuellen Jacob, der Diderot ein Messer in den Bauch rammt, meint man schon von T. C. Boyle zu kennen. Das hat weniger mit Zeitgenossenschaft der Literatur zu tun als mit der Rubrik „ausgedachte Konflikte“.
Gegenwart in der Literatur bedeutet nicht Zeitungshaftigkeit, sondern das, was diese Autorin sonst betreibt: die Spuren der Lebensbedingungen in der Psyche ihrer Figuren sichtbar machen. Auch dafür wurde Maylis de Kerangal zur ersten französischen Trägerin des Franz-Hessel-Preises. Es fällt aber auf, dass sie ihr literarisches Programm nicht stur durchzieht. Wenn Diderot und Katherine Thoreau sich nach Fertigstellung der Brücke schwelgerisch im Wasser des Flusses tummeln, der unter ihr fließt, dann heißt das auch: Technik ist nicht alles.
HANS-PETER KUNISCH
MAYLIS DE KERANGAL: Die Brücke von Coca. Roman. Suhrkamp Verlag. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Berlin 2012. 288 S., 19,95 Euro.
Was wird aus Menschen,
wenn sie Teil eines großen
Produktionsprozesses werden?
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Roman „Die Brücke von Coca“ erzählt Maylis de Kerangal von einem Schlüsselort der aktuellen Arbeitswelt: der internationalen Großbaustelle
Er ist ein harter Typ, der schon überall auf der Welt war: Eine Pipeline in Baku hat er bauen helfen, einen Gashafen in Cumaná; in Mirnji ging es darum, unter der schmutzigen Eiswüste der sibirischen Tundra eine Diamantmine einzurichten. Dort ist er drei Jahre geblieben, was viel war. Sonst wechselt er häufiger, seit zwanzig Jahren, nur begleitet von seinem Wissen als Ingenieur, der Erfahrung als Leiter von Großprojekten und den Devisen, die ihm erlauben, vor Ort mit interessierten Frauen etwas zu anzufangen.
Nur typische Männerliteratur bringt solche Charaktere hervor, möchte man meinen, aber Maylis de Kerangal, die 1967 in Toulon geborene Tochter und Enkelin von Kapitänen zur See, passt nicht so recht in dieses Schema. In andere aber auch nicht. Sie hat mit der oft etwas verblasenen Sprache der traditionellen „modernen“ französischen Literatur so wenig zu tun wie mit so unterschiedlichen Berufs- und Moderebellen wie Beigbeder und Houellebecq. Sie passt auch nicht ins Kästchen der provokanten Erotikerinnen. Nur eines kann man sagen: Es geht ihr um die Gegenwart, darum, was diese aus den Menschen macht.
Das merkt man zuerst an der Sprache. Einem Charakter wie Georges Diderot kann man einen literarisch belasteten Namen geben – er ist nicht die einzige Figur dieses Buchs, die sich den Scherz gefallen lassen muss –, aber um ihn ganz zu erfassen, passen abgehackte Sätze, die von Reihungen leben, besser. Sie vermitteln das Tempo von Diderots Existenz, sind aufgeladen mit Wörtern, die zu unfein sind, um traditionell, aber auch zu unattraktiv, um schick zu wirken: Pickel, Stollen, Schienen, Gänge, liest man auf Seite eins in gedrängter Folge, aber auch „lieber gar nichts als mit dieser Frau vögeln, die keine Lust auf ihn hatte“.
Hat man sich mit Diderot, dem sensiblen Tier, eingerichtet, kommt eine Reihe neuer Figuren hinzu: Mo Yan, „ein dünnbeiniger Chinese mit hartem Profil“. Er ist siebzehn, war aber schon in der Mongolei und in Chinatown, wo er von seinem Onkel ausgenutzt wurde. In Coca ist er bloß Bauarbeiter. Sancho, der Kranführer, der endlich von seiner portugiesischen Mutter freikommt, ist da wichtiger. Er verguckt sich in Shakira Ourga, das russische Überweib, das die Neuankömmlinge am Flughafen abholt. Alle haben sie das Ziel, in Coca Geld zu verdienen beim Bau einer Brücke, die Boa, der eigentlich John Johnson heißt und Bürgermeister ist, einfiel, um sein Image zu heben.
Aber so bizarr sie gezeichnet sind, die – auch mal klischeenahen – Einzelcharaktere sind nicht das Wichtigste. Es geht Kerangal darum zu zeigen, was aus Menschen wird, wenn sie Teil eines Produktionsprozesses werden. Und zwar aus Menschen, denen es an ausgeruhtem philosophischem Background fehlt. Sie wollen nur Teil einer Maschine sein und von ihr profitieren, doch das ist nicht ganz risikolos. Kerangal schüttelt ihre Seelen mittels Sprache durch. Keiner kann eine ruhige Kugel schieben. Zwar erfährt man nach und nach mehr von den Leuten – was manchmal, wie im richtigen Leben, eine Enttäuschung ist –, und das Tempo verringert sich, aber oft gelingt es Kerangal gerade dann, zwei ihrer Einzelwesen sich aneinander reiben zu lassen.
Das ist bei Diderot und Katherine Thoreau der Fall. Sie ist Mutter dreier Kinder und hat einen Säufer als Mann, der die Schwäche entwickelt, ihr gern etwas an den Kopf zu werfen. Allmählich entwickelt sich zwischen Diderot und der Arbeiterin etwas, das man Liebe nennen könnte. Aber vielleicht kann man auch den deftigen Sex, den Sancho am Ende in der Krankabine mit Shakira Ourga hat, so nennen? Ganz klar ist das hier alles nicht. Denn was an einer Stelle im Blick auf Diderot gesagt ist, kann man als Motto des ganzen Buches lesen: „Innere Erfahrung findet niemals innen statt, murmelt er spöttisch, wenn die von seiner Trivialität Enttäuschten ihn zu mehr Innerlichkeit und Tiefe ermahnten, dazu ist kein Rückzug nötig, sondern ein Sich-Aussetzen, und ich setze mich gern aus.“
Immer klappt es nicht mit den Kontakten. Summer Diamantis – „ein drahtiges Mädchen mit trockenen Augen“ –, die für Sancho etwas übrighat, bleibt am Ende, was sie am Anfang war: die ungewöhnliche Frau, die für die Betonmischung beim Pfeilerbau verantwortlich ist. Als sie einmal mit zwei schwarzen Arbeitern zusammenkommt, weil beim Brückenbau gerade nur gewartet werden muss, passiert wieder nichts – weil die Schwarzen gebrannte Kinder sind. Einer wurde schon eingelocht, wegen Diebstahl an einer betrunkenen Weißen, den er gar nicht begangen hat.
Gut amerikanisch sind nicht wenige literarische Techniken, die Kerangal ausprobiert. Von der filmischen Präsentation der Figuren, die, in Verbindung mit der schnarrend-temporeichen Sprache, an Robert Altmans Polizeihelikopter über Los Angeles erinnert, bis zur daran gekoppelten zeitlichen Raffung. Innerhalb von drei Zeilen lässt die Erzählstimme Summer Diamantis eine lange Reise hinter sich bringen: „. . . siebzehn Stunden später wird man sie aus dem Flughafen von Coca kommen und auf dem Rücksitz eines zitronengelben Taxis Platz nehmen sehen, ihr straff gebundener Pferdeschwanz lässt Stirn und Hals frei, sie gibt dem Fahrer die Adresse . . .“ Die Kenntnis internationaler literarischer Traditionen schadet keiner europäischen Literatur.
Auch, wenn es dann plötzlich ein paar Stellen gibt, die nicht recht passen wollen. Klar, dass Naturschützer beim Bau einer großen Brücke heute eine wichtige, oft verhindernde Rolle spielen, aber den allzu papierenen Buschintellektuellen Jacob, der Diderot ein Messer in den Bauch rammt, meint man schon von T. C. Boyle zu kennen. Das hat weniger mit Zeitgenossenschaft der Literatur zu tun als mit der Rubrik „ausgedachte Konflikte“.
Gegenwart in der Literatur bedeutet nicht Zeitungshaftigkeit, sondern das, was diese Autorin sonst betreibt: die Spuren der Lebensbedingungen in der Psyche ihrer Figuren sichtbar machen. Auch dafür wurde Maylis de Kerangal zur ersten französischen Trägerin des Franz-Hessel-Preises. Es fällt aber auf, dass sie ihr literarisches Programm nicht stur durchzieht. Wenn Diderot und Katherine Thoreau sich nach Fertigstellung der Brücke schwelgerisch im Wasser des Flusses tummeln, der unter ihr fließt, dann heißt das auch: Technik ist nicht alles.
HANS-PETER KUNISCH
MAYLIS DE KERANGAL: Die Brücke von Coca. Roman. Suhrkamp Verlag. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Berlin 2012. 288 S., 19,95 Euro.
Was wird aus Menschen,
wenn sie Teil eines großen
Produktionsprozesses werden?
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Maylis de Kerangals Roman ist eine gelungene Bestandsaufnahme der Gegenwart, findet Rezensent Niklas Bender. Die Gegenwart, die gemeint ist, ist eine ziemlich umtriebige, produktive und undurchsichtige. Es geht in "Die Brücke von Coca" um eines jener riesigen Bauvorhaben, die wie wenig anderes für den Fortschritt stehen, denen hierzulande aber immer größere Skepsis entgegengebracht wird, jedenfalls so lange sie hier realisiert werden sollen, fasst der Rezensent zusammen. Kerangal hat sich entschieden, sich der "exemplarischen Methode" zu bedienen, berichtet Bender. Die Figuren repräsentieren zahlreiche Berufsgruppen, Ethnien, persönliche Hintergründe; die Handlung greift sich beispielhafte Episoden des Brückenbaus heraus, von der Planung bis zur Fertigstellung. Der Gefahr, dass die einzelnen Elemente dadurch zu rein strukturellen Momenten verkommen, kann die Autorin entgehen, findet der Rezensent. Die Mischung aus gesellschaftlicher Metapher und mitreißender Erzählung findet Bender so gut gelungen, dass er sich schon auf weitere Romane der französischen Autorin freut.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2012Die Ruhe vor dem nächsten Projekt
Maylis de Kerangal schreibt den Roman einer Baustelle und liefert eine Bestandsaufnahme unserer Gegenwart
Fieberhafte Bauwut gestaltet unseren Planeten neu, und der Alte Kontinent sieht tief gespalten zu: In Schwellenländern und Erdölstaaten werkeln europäische Firmen in der ersten Reihe mit, errichten Atomreaktoren, Staudämme, himmelhohe Hotels und tiefe Minen - in der Heimat hingegen glauben die Bürger kaum noch an Megaprojekte; neue Flughäfen, Bahnhöfe oder Kraftwerke werden blockiert. In Frankreich ist man zwar technikaffiner als hierzulande, aber die große historische Bausubstanz und mangelnde Finanzmittel bremsen. Hinzu kommt ein grundsätzlicher Zweifel am Sinn der Betonierung der Welt, eine Zaghaftigkeit, die den ganzen Kontinent befallen hat. Diese Ambivalenz von Projektwahn und kühler Skepsis durchzieht, so seltsam es klingt, auch "Die Brücke von Coca" von Maylis de Kerangal: Es ist der mitreißende Roman einer Baustelle und die überzeugende Bestandsaufnahme unserer Gegenwart.
Am Anfang reckt und streckt sich der drahtige Körper von Georges Diderot. Der Baustellenleiter, ein sportlicher Quartalssäufer, der seit zwanzig Jahren den Planeten umkrempelt, ist die amoralische Triebfeder der Handlung: "Seine Zeit ist die Gegenwart, jetzt oder nie, das Richtige tun, sich der Situation stellen, das ist seine einzige Moral und die einzige Arbeit eines Lebens, so einfach ist das." So gebrochen die Figur, so berauschend ihre Energie: "Immer draußen, konzentriert, empirisch, ungläubig: innere Erfahrung findet niemals innen statt, murmelt er spöttisch" - Diderots Credo ist das des Romans, der im "Sich-Aussetzen", im Nahkampf mit der Welt sein Heil sucht; wie Diderot liebt Kerangal das "technische Epos". Diderots Auftraggeber ist John Johnson, korrupter Bürgermeister des fiktiven Coca, irgendwo an der Pazifikküste der Vereinigten Staaten. Nach einem Dubai-Besuch beschließt er, die Stadt aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken, und kurbelt ein Bauprojekt an: "Eine Brücke, um in den Wald vorzudringen und die fruchtbaren Täler im Südosten des Massivs zu erreichen, eine Brücke, um die Stadt mit der Bay zu verbinden." Das Ganze wird mit einem ökologischen Feigenblättchen verziert, an das in Coca selbst kaum jemand glaubt: Die Stadt ist "rausgeputzt wie eine kleine Nutte", getrieben von Ungeduld und Gier - der Wilde Westen, Version 2010.
Um die zwei Macher herum entwirft Kerangal einen faszinierenden menschlichen Kosmos: von der Betonmischerin Summer bis zum chinesischen Wanderarbeiter Mo Yun, vom Kranführer Sancho bis zur Hilfsarbeiterin Katherine Thoreau, mittendrin der Mörder Soren Cry - es finden sich alle Berufssparten, alle sozialen Schichten, alle Hautfarben. Die Figuren gruppieren sich um Diderot, doch so verwirrend die Vielfalt ist: Kerangal braucht sie, um die Baustelle, um die globalisierte Arbeitswelt zu schildern - beide sind extrem komplex. Sie wählt die exemplarische Methode: Aus jedem Bereich skizziert Kerangal eine Figur oder eine emblematische Szene, von der Planung bis zum Bau, vom Handlanger bis zum Ingenieur. Das Modell ist seit Balzac Standard realistischen Schreibens; hier wird es extrem verdichtet und verknappt. Das - spürbare - Risiko ist, dass die Figuren wie auf dem Reißbrett entworfene Konstrukte wirken. Wie Zola versucht Kerangal ihm durch eine mitreißende Schilderung zu begegnen: Insofern ist der mächtige Strom, über den die Brücke gebaut wird, eine "lange goldene Kobra, schlummernd und wild", die geheime Seele, ja das Vorbild des Romans, der ein "roman fleuve", ein "Flussroman", im konkreten und dynamischen Sinn des Wortes sein möchte (nicht wie herkömmlich ein mehrbändiges, episches Erzählwerk). Meist gelingt Kerangal das Wagnis, und man wünscht sich, weitere Romane der 1967 geborenen Französin zu entdecken.
Eine titanische Leistung lässt das Projekt Wirklichkeit werden. Durch 800 Arbeiter wird eine Fläche von 25 Quadratkilometern "zementiert, betoniert, glattgewalzt", werden zwei riesige Stahlpfeiler gepflanzt, wird eine 25 000-Tonnen-Fahrbahnplatte verbaut. Der Bau übersteht Vogelzüge, Proteste von Umweltschützern und Indianervertretern, Arbeitsunfälle, einen Streik und den Anschlag der Mafia. Am Ende des Romans steht nicht nur die Brücke, sondern auch das jenseitige Ufer, zu dem sie führt. Der Leser entdeckt es mit Diderot und Summer, die Ausflüge in den Urwald unternehmen - Diderot scheint von seinem Namensvetter, dem Aufklärer, mit der materialistischen Haltung die Begeisterung für die Neue Welt übernommen zu haben.
Der Roman klingt aus in einer hybriden Idylle, im dichten Laub, das Müll, Kriminelle und Gutmenschen aufnimmt. Der Leser blickt aus dieser bedrohten Welt, deren Einwohner den Widerstand organisieren, auf das Megaprojekt zurück und fragt sich mit einem Hauch von Enttäuschung, ob es die Mühe wert war - fiebernde Energie weicht träger Skepsis. Zuletzt treiben Diderot und Katherine im Fluss "und gleiten davon wie Indianer". Der Roman wirkt unentschieden: Kommt hier der Fortschritt an sein Ende, zwischen Dschungelgrün und einer fortgeworfenen Sandalette? Oder ist das die Ruhe vor dem nächsten Projekt? Diese Frage, Europas Frage, lässt Kerangal offen.
NIKLAS BENDER
Maylis de Kerangal: "Die Brücke von Coca". Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Maylis de Kerangal schreibt den Roman einer Baustelle und liefert eine Bestandsaufnahme unserer Gegenwart
Fieberhafte Bauwut gestaltet unseren Planeten neu, und der Alte Kontinent sieht tief gespalten zu: In Schwellenländern und Erdölstaaten werkeln europäische Firmen in der ersten Reihe mit, errichten Atomreaktoren, Staudämme, himmelhohe Hotels und tiefe Minen - in der Heimat hingegen glauben die Bürger kaum noch an Megaprojekte; neue Flughäfen, Bahnhöfe oder Kraftwerke werden blockiert. In Frankreich ist man zwar technikaffiner als hierzulande, aber die große historische Bausubstanz und mangelnde Finanzmittel bremsen. Hinzu kommt ein grundsätzlicher Zweifel am Sinn der Betonierung der Welt, eine Zaghaftigkeit, die den ganzen Kontinent befallen hat. Diese Ambivalenz von Projektwahn und kühler Skepsis durchzieht, so seltsam es klingt, auch "Die Brücke von Coca" von Maylis de Kerangal: Es ist der mitreißende Roman einer Baustelle und die überzeugende Bestandsaufnahme unserer Gegenwart.
Am Anfang reckt und streckt sich der drahtige Körper von Georges Diderot. Der Baustellenleiter, ein sportlicher Quartalssäufer, der seit zwanzig Jahren den Planeten umkrempelt, ist die amoralische Triebfeder der Handlung: "Seine Zeit ist die Gegenwart, jetzt oder nie, das Richtige tun, sich der Situation stellen, das ist seine einzige Moral und die einzige Arbeit eines Lebens, so einfach ist das." So gebrochen die Figur, so berauschend ihre Energie: "Immer draußen, konzentriert, empirisch, ungläubig: innere Erfahrung findet niemals innen statt, murmelt er spöttisch" - Diderots Credo ist das des Romans, der im "Sich-Aussetzen", im Nahkampf mit der Welt sein Heil sucht; wie Diderot liebt Kerangal das "technische Epos". Diderots Auftraggeber ist John Johnson, korrupter Bürgermeister des fiktiven Coca, irgendwo an der Pazifikküste der Vereinigten Staaten. Nach einem Dubai-Besuch beschließt er, die Stadt aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken, und kurbelt ein Bauprojekt an: "Eine Brücke, um in den Wald vorzudringen und die fruchtbaren Täler im Südosten des Massivs zu erreichen, eine Brücke, um die Stadt mit der Bay zu verbinden." Das Ganze wird mit einem ökologischen Feigenblättchen verziert, an das in Coca selbst kaum jemand glaubt: Die Stadt ist "rausgeputzt wie eine kleine Nutte", getrieben von Ungeduld und Gier - der Wilde Westen, Version 2010.
Um die zwei Macher herum entwirft Kerangal einen faszinierenden menschlichen Kosmos: von der Betonmischerin Summer bis zum chinesischen Wanderarbeiter Mo Yun, vom Kranführer Sancho bis zur Hilfsarbeiterin Katherine Thoreau, mittendrin der Mörder Soren Cry - es finden sich alle Berufssparten, alle sozialen Schichten, alle Hautfarben. Die Figuren gruppieren sich um Diderot, doch so verwirrend die Vielfalt ist: Kerangal braucht sie, um die Baustelle, um die globalisierte Arbeitswelt zu schildern - beide sind extrem komplex. Sie wählt die exemplarische Methode: Aus jedem Bereich skizziert Kerangal eine Figur oder eine emblematische Szene, von der Planung bis zum Bau, vom Handlanger bis zum Ingenieur. Das Modell ist seit Balzac Standard realistischen Schreibens; hier wird es extrem verdichtet und verknappt. Das - spürbare - Risiko ist, dass die Figuren wie auf dem Reißbrett entworfene Konstrukte wirken. Wie Zola versucht Kerangal ihm durch eine mitreißende Schilderung zu begegnen: Insofern ist der mächtige Strom, über den die Brücke gebaut wird, eine "lange goldene Kobra, schlummernd und wild", die geheime Seele, ja das Vorbild des Romans, der ein "roman fleuve", ein "Flussroman", im konkreten und dynamischen Sinn des Wortes sein möchte (nicht wie herkömmlich ein mehrbändiges, episches Erzählwerk). Meist gelingt Kerangal das Wagnis, und man wünscht sich, weitere Romane der 1967 geborenen Französin zu entdecken.
Eine titanische Leistung lässt das Projekt Wirklichkeit werden. Durch 800 Arbeiter wird eine Fläche von 25 Quadratkilometern "zementiert, betoniert, glattgewalzt", werden zwei riesige Stahlpfeiler gepflanzt, wird eine 25 000-Tonnen-Fahrbahnplatte verbaut. Der Bau übersteht Vogelzüge, Proteste von Umweltschützern und Indianervertretern, Arbeitsunfälle, einen Streik und den Anschlag der Mafia. Am Ende des Romans steht nicht nur die Brücke, sondern auch das jenseitige Ufer, zu dem sie führt. Der Leser entdeckt es mit Diderot und Summer, die Ausflüge in den Urwald unternehmen - Diderot scheint von seinem Namensvetter, dem Aufklärer, mit der materialistischen Haltung die Begeisterung für die Neue Welt übernommen zu haben.
Der Roman klingt aus in einer hybriden Idylle, im dichten Laub, das Müll, Kriminelle und Gutmenschen aufnimmt. Der Leser blickt aus dieser bedrohten Welt, deren Einwohner den Widerstand organisieren, auf das Megaprojekt zurück und fragt sich mit einem Hauch von Enttäuschung, ob es die Mühe wert war - fiebernde Energie weicht träger Skepsis. Zuletzt treiben Diderot und Katherine im Fluss "und gleiten davon wie Indianer". Der Roman wirkt unentschieden: Kommt hier der Fortschritt an sein Ende, zwischen Dschungelgrün und einer fortgeworfenen Sandalette? Oder ist das die Ruhe vor dem nächsten Projekt? Diese Frage, Europas Frage, lässt Kerangal offen.
NIKLAS BENDER
Maylis de Kerangal: "Die Brücke von Coca". Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Maylis de Kerangals] technisch präzise Darstellungen des Brückenbauwerks sind überaus beeindruckend. Genauso wie die akribisch wiedergegebenen Arbeitsabläufe an einer solchen Großbaustelle. Doch das allein macht natürlich noch keinen guten Roman aus. Die wahre Kunst besteht darin, all dies mit dem Schicksal der Menschen zu verknüpfen. Und das gelingt der Autorin vorzüglich.« Sibylle Peine Esslinger Zeitung 20120512