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Außer den Manns hat wohl keine Familie die Kultur in Deutschland stärker geprägt als die Cassirers. Durch Handel und Industrie zu Wohlstand gekommen, wirkten sie in Kunst und Philosophie, Pädagogik und Medizin, Literatur und im Theater, bis sie von Hitler zur Emigration gezwungen wurden. Sigrid Bauschinger erzählt die Geschichte dieser einzigartig begabten Familie zum ersten Mal. Zwischen Breslau und Berlin gelang den jüdischen Cassirers Ende des 19. Jahrhunderts ihr rasanter ökonomischer und gesellschaftlicher Aufstieg. Durch sein Vermögen ermöglichte Max Cassirer auch die Gründung der…mehr

Produktbeschreibung
Außer den Manns hat wohl keine Familie die Kultur in Deutschland stärker geprägt als die Cassirers. Durch Handel und Industrie zu Wohlstand gekommen, wirkten sie in Kunst und Philosophie, Pädagogik und Medizin, Literatur und im Theater, bis sie von Hitler zur Emigration gezwungen wurden. Sigrid Bauschinger erzählt die Geschichte dieser einzigartig begabten Familie zum ersten Mal. Zwischen Breslau und Berlin gelang den jüdischen Cassirers Ende des 19. Jahrhunderts ihr rasanter ökonomischer und gesellschaftlicher Aufstieg. Durch sein Vermögen ermöglichte Max Cassirer auch die Gründung der Odenwaldschule – das reformpädagogische Musterinternat wurde bis 1933 von seiner Tochter Edith und ihrem Mann geleitet. Auf der Grundlage reichen Archivmaterials folgt Sigrid Bauschinger der weitverzweigten, aber eng vernetzten Familie auf ihren zahlreichen Spuren. Dabei begegnen wir unter anderem: dem Philosophen Ernst Cassirer, neben Heidegger der wichtigste deutsche Philosoph seiner Generation; dem Kunsthändler Paul Cassirer, der dem Impressionismus in Deutschland zum Durchbruch verhalf; seiner Frau, der großen Schauspielerin Tilla Durieux; dem Verleger Bruno Cassirer; Rilkes Gönnerin Eva Cassirer; und der in die Familie eingeheirateten Schriftstellerin Nadine Gordimer. Schließlich verfolgt Sigrid Bauschinger den Weg der Cassirers ins Exil, das den meisten von ihnen das Überleben sicherte, die Familie aber über den gesamten Erdball verstreute.
Autorenporträt
Sigrid Bauschinger ist Professorin em. für Germanistik an der University of Massachusetts in Amherst (USA). 2009 erschien der von ihr herausgegebene Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Eva Cassirer.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Andreas Platthaus ärgert sich über Sigrid Bauschingers Buch über die Familiengeschichte der Cassirers. Die Autorin hat zwar jede Menge Fakten zusammengetragen, allerdings strotzen diese vor Flüchtigkeitsfehlern und sind dramaturgisch oft unsinnig organisiert, kritisiert der Rezensent. Außerdem wird berühmten Personen, mit denen die Cassirers in Kontakt standen, weit mehr Platz im Buch eingeräumt als unbekannteren Familienmitgliedern, die eigentlich interessante Biografien gehabt hätten, so Platthaus. So ist das Buch weder wissenschaftlich ergiebig noch wirklich mit Spaß zu lesen, bedauert der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2015

Das Ende ihres deutschen Traums

Verleger, Kunsthändler, Philosophen: Sigrid Bauschinger folgt dem Weg der Familie Cassirer durch vier Generationen und macht viele Fehler.

Was ist das spezifisch "Cassirerische"? Sigrid Bauschinger gibt die ausführliche Antwort spät in ihrer Familienbiographie - und pauschal: "Talent gepaart mit großem Fleiß, die Fähigkeit, rasche Entscheidungen zu treffen, monetären Gewinn nicht um seiner selbst willen zu suchen, sondern zu wohltätigen Zwecken zu verwenden, oft zur Unterstützung von Kunst und Künstlern." Hundert Seiten zuvor, genau in der Mitte des Buchs, war sie da noch knapper und zurückhaltender gewesen: Begabung, Fleiß und Interessen machten die Ähnlichkeit unter den Angehörigen der Familie Cassirer aus. Allerdings nur unter der Generation, die noch im neunzehnten Jahrhundert erfolgreich war. "In der nächsten Generation treten gewaltige Unterschiede zu Tage. Der Verleger und Kunsthändler Paul und sein Vetter, der Philosoph Ernst, scheinen auf verschiedenen Planeten zu leben." Wie hätten wir es also gern?

Zunächst einmal erzählerischer. Sigrid Bauschinger, eine einundachtzigjährige Germanistin, die seit den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten lebt und lehrte, versammelt eine unglaubliche Faktenfülle rund um die Nachkommen von Marcus Cassirer. Der 1809 in der Nähe von Kattowitz geborene und 1879 in Breslau gestorbene "Stammvater" wächst wie seine mindestens sechs Brüder - genau weiß es die Autorin nicht, die hier ein kleines Datenchaos anrichtet, wenn sie Marcus als Zweitältesten bezeichnet, den jüngsten der (mindestens) sieben Söhne aber bereits im Jahr 1812 zur Welt kommen lässt - mit dem Familiennamen Cassirer auf. Den hatte sich sein Vater Moses Ben Loebel ausgesucht, als der preußische Staat das jüdischen Familien zur Pflicht machte.

Die direkten Nachkommen von Marcus umfassten in vier Generationen mehr als neunzig Personen, denen sich Bauschinger widmet. Sie alle wurden in Deutschland geboren, ehe sich die meisten der dann noch Lebenden vor dem NS-Staat ins Exil retteten, als Letzter der Älteste, Max Cassirer, ein Sohn von Marcus, der das Land im Alter von einundachtzig Jahren verließ, kurz nach der Pogromnacht vom 9. November 1938.

Noch nicht einmal vier Monate zuvor hatte er in einem Brief an den Polizeipräsidenten von Berlin darum gebeten, in Deutschland bleiben zu dürfen. Hier lag seine Frau begraben, hier fühlte er sich zu Hause, auch wenn er als Jude schikaniert wurde und fast alle seine Angehörigen mittlerweile geflohen waren. Er hinterlegte sogar 150 000 Reichsmark beim Finanzamt, die man als "Reichsfluchtsteuer" einbehalten könne, wenn er doch das Land verlassen sollte. Als der Philosoph Martin Buber Ende 1932 einen Vortrag gehalten hatte, in dem er für die deutschen Juden Schreckliches voraussagte und selbst ankündigte, nach Palästina auszuwandern, hatten ihm die Cassirers unter den Zuhörern entgegengehalten, dort träfe man ja nur Juden an, das wollten sie nicht.

Sigrid Bauschinger hat gesichtet, was noch an Quellen zur Familiengeschichte der Cassirers aufzufinden war. Dabei kam ihr zupass, dass Max Cassirers Tochter Edith und deren Mann Paul Geheeb 1909 eine Institution gegründet haben, die für etliche Familienmitglieder zum intellektuellen Bezugspunkt wurde: die Odenwaldschule. Max hatte dieses Alternativmodell zum seinerzeit üblichen Schulbetrieb finanziert, und andere Cassirers schickten ihre Kinder dorthin oder lehrten dort. Ihre Korrespondenzen oder Erinnerungen lagern deshalb heute im Geheeb-Archiv in der Schweiz (wohin sich die Schulgründer 1934 retteten).

Die Autorin wertete sie aus, als sie vor sechs Jahren an einem Aufsatz über Max Cassirers Engagement für die Odenwaldschule und einem Nachwort zum Briefwechsel von Rainer Maria Rilke mit Eva Cassirer, Schwiegertochter von Max und Lehrerin an der Odenwaldschule, schrieb. Beide Texte stellten wichtige Vorstudien für das jetzige Buch dar, wobei der über Eva Cassirer nahezu unverändert eingegangen ist - eine etwas bequeme Lösung, denn so lesen wir mehr über Rilke als über den Großteil der mehr als neunzig Cassirers. Schwerpunkte im Buch sind: Max Cassirer, seine Tochter Edith, Schwiegertochter Eva sowie der Neffe Paul Cassirer, der berühmte Galerist, Ernst Cassirer, der Philosoph, und Fritz Cassirer, der Dirigent. Damit hätte man die bekanntesten Familienmitglieder auch beisammen, könnte man meinen, aber es finden sich auch eigene Kapitel zur Schauspielerin Tilla Durieux und zu der Schriftstellerin Nadine Gordimer, die beide mit einem Cassirer verheiratet waren. Die Lebensgeschichten dieser beiden berühmten Frauen führen weit weg von Deutschland, denn Nadine Gordimer lebte in Südafrika, und Tilla Durieux verbrachte abenteuerliche Jahre während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien, ehe sie in ein Deutschland zurückkehrte, in das nur zwei Cassirers zurückgekehrt waren: Eva und ihr Mann Kurt.

Wir hätten es auch gerne ökonomischer, denn wenn ein Untertitel von Unternehmern, Kunsthändlern und Philosophen spricht, könnte ein wenig wirtschaftswissenschaftlicher Inhalt nicht schaden. Zu Kunst und Philosophie gibt es ja auch mehr als allgemeine Feststellungen. Umsatzzahlen von Cassirerschen Unternehmen? Fehlanzeige.

Hochinteressant dagegen die leider arg kurzen Biographien des nach Amerika gegangenen Fernsehjournalisten Reinhart alias Henry Cassirer und des Ingenieurs und Kunstsammlers Wolfgang Cassirer, der als englischer Staatsbürger seinen Namen in Wilfred Cass änderte. Bauschinger versäumt die Chance, hier eines der dunklen Kapitel der Exilgeschichte zu erhellen, denn sie belässt es bei beiläufigen Erwähnungen der verblüffenden Tatsache, dass die Brüder von Henry und Wilfred nach dem Kriegsausbruch aus Großbritannien deportiert wurden (nach Kanada und Australien, teilweise auf Schiffen mit deutschen Kriegsgefangenen), während sie selbst glimpflich davonkamen. Erläuterungen zu den Umständen der Deportationen gibt es bei Bauschinger nicht; da rächt sich ihre Fokussierung auf die "deutsche Geschichte".

Die Struktur der Familienbiographie ist teilweise chronologisch, teilweise thematisch, was zu etlichen dramaturgischen Mängeln führt - etwa, wenn der Rauswurf eines später berühmten Pianisten durch den wohlhabenden Eduard Cassirer schon im Kapitel übers dessen Sohn Ernst erwähnt, aber erst 75 Seiten später ausführlich erzählt wird. Und immer wieder werden in dichte Ereignisgeschichte Episoden eingeschoben, die nur lose mit den Beteiligten verknüpft sind, wie sie sonst gar keinen Platz im Buch gefunden hätten.

Das Ärgerlichste sind indes die zahlreichen Flüchtigkeitsfehler, vor allem, was Daten angeht. Da segnet Reinhold Cassirer, Nadine Gordimers Ehemann, das Zeitliche 2007 statt 2001, Tilla Durieux tritt am 31. Dezember 1971 aus der katholischen Kirche aus, als sie schon mehr als zehn Monate tot ist, und ihr Ehemann Paul Cassirer stirbt "drei Wochen nach Abfassung der letztwilligen Verfügung, zwei Tage nachdem er sich einen Schuss versetzt hat". Beide Ereignisse, die Abfassung und der Schuss, aber haben laut Buch angeblich am selben Tag, dem 5. Januar 1926, stattgefunden - so steht es auf derselben Buchseite.

So wird die beeindruckende Materialsammlung entwertet durch mangelhafte Organisation der Faktenmasse, Nachlässigkeiten und fehlenden erzählerischen Atem. Und wenn dann noch die einschlägige Forschungsliteratur nicht mehr aktuell rezipiert wird - im Literaturverzeichnis stehen nur die ersten beiden Bände von Bernhard Echtes und Walter Feilchenfeldts gigantischem Unterfangen der Sammlung sämtlicher Berichte über die Ausstellungen des Kunstsalons von Paul Cassirer, obwohl 2013 zwei weitere erschienen sind -, das erst im Juni 2015 besiegelte Ende der immer wieder verherrlichten Odenwaldschule aber Aufnahme fand, muss man von einer vertanen Chance sprechen: Weder populäre noch wissenschaftliche Ansprüche befriedigt das Buch, weil es sich zwischen beiden nicht entscheiden will.

ANDREAS PLATTHAUS

Sigrid Bauschinger: "Die Cassirers". Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen - Biographie einer Familie.

Verlag C.H. Beck, München 2015. 464 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].

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"In ihrer materialreichen Biografie über die Familie Cassirer schließt die in Massachusetts lehrende Germanistin Sigrid Bauschinger große Wissenslücken bezüglich der Lebensläufe einzelner Familienmitglieder."
Harry Nutt, FR, 9. November 2015