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Geschichte der chemischen Fabrik im Dritten Reich
Nachdem Albert Reimann junior geglaubt hatte, seine behördlich attestierte Entnazifizierung nun auch innerlich abgeschlossen und das traditionsreiche Unternehmen seiner Familie wieder in die Erfolgsspur gebracht zu haben, machte er sich an die Lektüre von Golo Mann. Der hatte mit seiner "Deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert" ein gewichtiges Werk vorgelegt. Ein Bestseller, der einiges bewegen sollte. In den Fünfzigerjahre geschrieben, hat das Werk des Historikers seine Leser bis heute nicht mit der Frage alleingelassen, was von den tragischen Entwicklungen Deutschlands eigentlich zu halten ist. Und auch Reimann meinte, in dem Buch gute Argumente zu finden, um seine einst begeisterte Haltung zum Nationalsozialismus als einen "aus ehrlicher Überzeugung und gutem Glauben begangenen Irrtum" erscheinen zu lassen. So hatte der Patriarch einer der bis heute reichsten deutschen Familien schon 1973 die Geschichte der Firma in einer Chronik abhandeln lassen. Die endete mit der Krise der frühen Dreißigerjahre. Reimann reichte das nicht. 1978 ließ er einen zweiten Teil folgen.
Der Historiker Paul Erker schreibt jetzt in seinem detailreichen, nüchternen und stellenweise packend zu lesenden Buch über die chemische Fabrik Joh. A. Benckiser im Nationalsozialismus: "Was die NS-Zeit angeht, so waren der Euphemismus und die spezifische Konstruktion der Vergangenheit besonders ausgeprägt, ohne jegliche kritische (Selbst-)Reflexion. Und doch zeichnet die Chronik II einen ebenso offensiven wie geradezu naiven Umgang mit der NS-Vergangenheit aus."
Während viele andere deutsche Unternehmen in den Siebzigerjahren ihre Rolle unterm Hakenkreuz noch tabuisierten, zeigte sich Joh. A. Benckiser im Umgang mit der Vergangenheit relativ offen. Der stramm geführte Familienbetrieb pflegte eigene Konsummarken und wusste Industriegiganten wie Oetker auf Abstand zu halten. Benckiser organisierte Syndikate und Kartelle, kooperierte mit Branchenriesen wie der IG Farben und expandierte rasch. Als Albert Reimann senior 1929 seinen als Chemiker promovierten Sohn Albert Reimann junior zum zweiten Geschäftsführer der Firma machte, gewann Benckiser deutlich an Schlagkraft.
Darüber hinaus hatten sich beide Reimanns in den Jahren der Weimarer Republik politisch weit rechts verortet. Der Junior trat im Februar 1932 der NSDAP bei, der Senior im März. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 sollte sich der junge Reimann in der Lokal- und der alte Reimann in der Wirtschaftspolitik engagieren. Sie ließen über ihrer Fabrik die Hakenkreuzfahne aufziehen. Sie wussten, wie man Gewinne runter-, Verluste hoch- und Abschreibungen schönrechnet. Sie investierten Millionen, bauten einen schlagkräftigen Vertrieb, eine moderne Forschungsabteilung und eine effiziente Firmenverwaltung auf. Beide Reimanns gingen keinem Streit aus dem Weg, nicht mit der Gauleitung, nicht mit der SA und auch nicht mit der SS. Sie zögerten aber auch nicht, Wettbewerber anzuschwärzen. Sie waren nach den Worten Erkers bereit, "jüdische Konkurrenten mit Verweis auf die Rassenideologie aus dem Weg zu räumen".
Die Firma verdoppelte die Zahl der Mitarbeiter auf mehr als fünfhundert und verdreifachte den Jahresumsatz auf 13,5 Millionen Reichsmark. Die Reimanns setzten alles daran, ihre Firma mit Ausbruch des Krieges als systemrelevant erklären zu lassen. Damit schlugen sie ihr dunkelstes Kapitel auf. Ein Drittel der Belegschaft war zum Kriegsdienst eingezogen. Die Lücke ließ sich zunächst durch Aushilfskräfte schließen. Bald aber reichten die nicht mehr aus. So griff die gesamte chemische Industrie in Ludwigshafen ab Herbst 1940 auf ausländische Arbeitskräfte zu. Die Firmen hatten sich zusammengetan, das Pariser Büro der Reichsstelle für Chemie samt Service du travail obligatoire und deren private Arbeitsvermittler wie Cotty oder Lucien Favre eingeschaltet. Kurz darauf standen bei Benckiser die ersten zwanzig Zwangsarbeiter auf dem Hof. Zwei Jahre später waren es 400.
Die Firma hatte zwei Lager mit Baracken eingerichtet. Das eine am Stammsitz, das andere am neuen Standort Ladenburg. Im Ludwigsburger Lager waltete ein wahres Schreckensregime. "Im Ladenburger Lager herrschten dagegen völlig andere Bedingungen", schreibt Erker. Auch wenn Benckiser nach den Worten Erkers anders als viele anderen deutsche Firmen nicht auf KZ-Häftlinge zurückgriff und verglichen mit den benachbarten Fabriken die Lage der Mehrheit ihrer Zwangsarbeiter noch relativ erträglich erscheinen ließ, war die Arbeit hart und die Lage gefährlich. Erker nennt nicht nur Namen, er schildert auch deren Schicksale.
1945 liegen die Familie, das Unternehmen und ganz Deutschland wirtschaftlich und moralisch am Boden. Erker versteht es am Ende seines Buches, in unaufgeregten Worten den weiten Bogen bis in das so überaus bewegte Privatleben von Reimann junior zu spannen. Mit einem ausgeklügelten Holding-Konzept hatte er die im Wirtschaftswunder schließlich wiederauferstandene Firma 1984 in die Hände seiner vielen Erben gelegt. Die sollten Benckiser 1999 mit der britischen Reckitt-Gruppe fusionieren, 2015 den letzten deutschen Standort schließen, 2021 ihre Firmierung aus dem Namen des neuen Konzerns streichen und ihre Geschäfte unter dem alten Kürzel JAB neu ordnen. Ein Haus, das mit den Worten des Historikers Golo Mann "ein unruhiges Leben in Extremen" führte. STEPHAN FINSTERBUSCH
Paul Erker: Die chemische Fabrik Joh. A. Benckiser im Nationalsozialismus. Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 512 Seiten, 28 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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