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Unsere Innenstädte liegen im ästhetischen Dämmerlicht: Hannelore Schlaffer inspiziert die City und findet statt Anwohnern nur Lebensstile.
Von Hannes Hintermeier
Der Wiener Kaffeehausliterat Anton Kuh übersiedelte 1926 nach Berlin mit der Begründung, er wolle lieber "in Berlin unter Wienern statt in Wien unter Kremsern" leben. Krems, siebzig Kilometer donauaufwärts vor Wien gelegen, galt als Provinz, und unter Provinzlern wollte der Intellektuelle nicht sein. Das war die Zeit, als man in Wien noch in die Innere Stadt, anderswo in die Altstadt ging. Das neunzehnte Jahrhundert mit seiner Hauptstadt Paris lebte noch fort in den Köpfen, die Vorstellung von der Straße als Roman, die Balzac und Dickens populär gemacht hatten, war nicht vergessen.
Heute heißt die Stadt City, sie ist ein "Tummelplatz mit Großstadtgefühl für den Großraum der Region", Vororte und Kleinstädte in ihrer Umgebung werden zu "Zonen der Regeneration" herabgestuft, weil die City kein Leben neben sich duldet. Von diesem steilen Ausgangsbefund startet Hannelore Schlaffer ihre essayistische Ortsbegehung der City. Sie trifft dort auf das, was Investoren, Stadtplaner und Marketing-Leute entworfen haben, und es gefällt ihr nicht.
Das Treiben in diesem ohne allzu viel Gegenwehr durch die Bürger entstandenen Typus der neuen deutschen Innenstadt hat die Autorin offenkundig genau beobachtet. Sie wählt als Waffe das Florett, und sie versteht es zu führen: Ihr Versuch über das "Straßenleben in der geplanten Stadt" ist ein Buch, das in Pendlerzügen und an Ampelstaus verteilt werden sollte.
Es mag stimmen, dass so viel wie nie zuvor über Stadtplanung veröffentlicht wird - im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit spielt das Thema aber nur dann eine Rolle, wenn sich Wutbürger an Platanen ketten oder Attac-Anhänger ihre Zelte im Bankenviertel aufschlagen. Der Mehrheit der City-Nutzer ist es gleichgültig, sie konsumiert die Stadt, wie man sie ihr vorsetzt: als Glanzpapier-Inszenierung. Die Simulationen der Architekturbüros sind perfekte Illusionen in sanften Farben, menschenleer zumeist. Dass hinterher die Gebäude mitnichten so aussehen, dass sie schnell und schlecht altern, wird immer erst bemerkt, wenn die Investorenlyrik Glas und Stahl geworden ist.
Es geht Schlaffer nicht um Wohnquartiere, es geht ihr nicht um Suburbia: Den schleichenden Umbau-Prozess von einer gewachsenen, historischen Stadt zu einer Verkaufsmeile arbeitet Schlaffer schön heraus. Sie unterscheidet den "Reisenden" und den "Konsumenten" und deren jeweils eigentümliche Art, sich eine Stadt zu erschließen, in ihrer Geschichte zu lesen - oder es eben auch bleiben zu lassen. "Die Sünde ist aus der Stadt verbannt, die Schönheit auch, und das Interessante ging mit beidem verloren." Stattdessen Nutzfläche, kein Sitzplatz mehr, der nichts kosten würde, und eine epidemische "Fresslust". Essen und Trinken im öffentlichen Raum gilt längst nicht mehr als unschicklich. Diese "Nahrungskommunion" deutet Schlaffer als eines von mehreren Elementen, die am Ende zum demokratischen (Schein-) Frieden der City beitragen.
Analog zu den dicken Stammstrecken der Untergrundbahnen haben die neuen Citys unter und über der horizontalen Kampfzone der Einkaufsstraßen vertikale Strukturen, die bei den Versorgungsebenen in Tiefbahnhöfen beginnen und bei den Kuppeln der Spas auf den Einkaufszentren enden - dem Himmel so nah. Jeden Morgen schaufeln Busse, Bahnen und Privatfahrzeuge ein Millionenheer von Angestellten und Konsumenten in die City, um sie am Abend wieder abzutransportieren.
Diese Szenerie festzuhalten wäre nicht weiter bemerkenswert. Aber Schlaffer hat es eine Nummer kleiner: Die Klage vom immergleichen Konsumangebot in der globalisierten Welt lässt sie links liegen. Sie definiert sogenannte Metropolen neu als "global vernetzte Provinzstädte", mit dem Argument des Einzugsgebietes. Stuttgart rangiert demnach - ähnlich wie das Rhein-Main-Gebiet - auf Augenhöhe mit Berlin, Hamburg und München. Zum Preis der völligen Abhängigkeit von der Provinz. Ohne deren ungebremsten Zustrom könnte die City nicht existieren.
Die Autorin liefert feine mikrosoziologische Studien. So ergreift sie Partei für pensionierte Männer, die hinter ihren Frauen als Tütenträger durch die Läden ziehen müssen. Das wird nicht zur Karikatur, weil Hannelore Schlaffer den richtigen Ton trifft und diese Beobachtungen mit der Geschichte des männlichen Einkaufens abfedert. Um Männer von ihren traditionell entlegenen Konsumorten am Stadtrand (Autos, High Fidelity, Baumärkte) in die City zu locken, hat sich der Einzelhandel allerhand einfallen lassen.
So viele Paare, so viele Passanten: Dennoch kennt die City keine Einzelgänger mehr. Die übliche Erscheinungsform ist das Paar, die Gruppe oder der Trupp - wer allein ist, kommuniziert via Handy mit seiner Innenwelt aus dem Bekanntenkreis, "er ist in der Stadt, ohne in ihr zu sein". Der elegische Ton ist wohl nicht durchgehend zu vermeiden, bei diesem Abgesang auf die gebaute Stadt, deren Planungsziele sich aus Herrschaftsinteressen und Jenseitsglauben speisten. "Die Andachtsorte der alten Stadt, vor und in denen man stumm, still und staunend verharren konnte", seufzt Hannelore Schlaffer, "sind abgelöst durch den Lustort Einkaufscenter."
Im Gehäuse des Centers, das dort aufragt, wo einst Markt und Kirche ihren Platz hatten, vergisst der Konsument endgültig, dass er überhaupt in einer Stadt ist. Die City hat die Stadt auf Erdgeschosshöhe komplett vernichtet und durch Schaufensterfronten ersetzt. Was von der Urbanität noch übrig ist: Schlaffer empfiehlt als einzige Ausnahme eine Stadtrundfahrt durch London, auf dem Oberdeck eines Doppeldeckerbusses - auf Augenhöhe mit der Beletage.
Im letzten Drittel geht der Autorin der zivilisationskritische Gaul durch, nachvollziehbar, aber nicht notwendig im Lichte der Befunde, die bis dahin ausgebreitet sind. Wie etwa jener, dass sich die City, durch wachsenden Online-Handel bedrängt, in Zugzwang befindet. Sie muss ihre Kunden bespaßen. "Wo City ist, jagt ein Fest das andere." Und zwar, weil Fläche hier Nutzfläche ist und nur Rendite bringt, wenn etwas los ist: "Von der Stadtverwaltung verordnete Turbulenzen" dominieren - neben der zunehmenden Zahl verkaufsoffener Sonntage - den Veranstaltungskalender.
Schlaffers zentrale politische These besagt, im Verlauf der Rock'n'Roll-Ära und ihrer Pop-Nachkommenschaft sei die City mit Hilfe der "Niederfrequenzkultur" zu einem Befriedunginstrument geworden. Von der Masse, die noch Canetti und Ortega y Gasset als unkalkulierbares, bedrohliches Wesen schilderten, ist heute nur noch die friedliche, demokratische Menge geblieben. Dahinter verbirgt sich bei Schlaffer nicht die Sehnsucht nach Straßenschlachten, sondern das Gefühl, der Konsumismus sei mit dem Weichkochen seiner Kundschaft weit fortgeschritten.
Dass man diesen Essay nicht als Levitenleserei empfindet, liegt auch an der kühlen Eleganz der Formulierungskunst und dem Verzicht auf marktschreierische Kulturkritik. Und der nächste Schritt, den Hannelore Schlaffer noch nicht erwähnt, ist schon getan. Die Speckgürtelgemeinden haben den Kampf gegen die City aufgenommen und erfinden sich, mangels Menge, eine eigene City. Die hört dann auf den Namen "Neue Mitte".
Hannelore Schlaffer: "Die City". Straßenleben in der geplanten Stadt.
Hrsg. v. Anne Hamilton. Verlag zu Klampen, Springe 2013. 176 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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