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"Die Detektive vom Bhoot-Basar" ist eine als Krimi verkleidete politische Milieustudie zu Indien
Seit siebzehn Jahren und 1300 Folgen läuft im indischen Fernsehen die Sendung "Crime Patrol". Deren Reality-Format funktioniert so: Reale Fälle von Brandstiftung, Raub und Kidnapping aus Indien werden mit niedrigem Budget und wackeliger Kamera nachgestellt. Dazwischen läuft der Moderator Anup Sari von links oder rechts ins Bild und philosophiert dabei über die Essenz des Bösen oder die Conditio humana. Einmal geht es um eine Gruppenvergewaltigung in einem Bus 2012 in Delhi, die weltweit Schlagzeilen machte. Die Folge sprengte bei ihrer Ausstrahlung die nationalen Einschaltquotenrekorde. True crime ist eben nicht erst seit Streaming und Podcasts in Mode.
Folge 48 von "Crime Patrol" behandelte ebenfalls einen Fall, den fast jeder in Indien kennt: eine Reihe von Kindesentführungen in einem Armenviertel. Sie ereigneten sich 2006 in der Industrieplanstadt Noida in Nordindien und bilden auch die Grundlage für den Debütroman "Die Detektive vom Bhoot-Basar" von Deepa Anappara. Auf den ersten Seiten liest sich das Buch noch wie ein Detektivabenteuer: Drei Kinder versuchen auf eigene Faust Hinweise über Verbleib der Verschleppten zu finden. Aber das ist nur ein Trick der Autorin, um die Lesenden tief in die Gänge des Bhoot-Basars zu führen und dann ein detailverliebtes Gemälde der Lebenswelt der ärmsten Klasse Indiens zu präsentieren.
Die Geschichte wird aus der Sicht des sechsjährigen Jai erzählt. Zu Beginn leidet er an den gleichen Problemen, an denen fast alle Schulkinder seines Alters leiden: Der Vater versteckt die Fernbedienung, wenn er seine Lieblingsserien schauen möchte, im Dunkeln hat er Angst, dass ein böser Dschinn ihn fressen könnte, und zum Unterricht geht er nur widerwillig. Gerne wäre Jai ein Meisterdetektiv, wie Byomkesh Bakshi, Sherlock Holmes oder die ehrenwerten Polizeiermittler aus dem Fernsehen. Als ein Mitschüler eines Tages verschwindet, beschließt Jai, mit seinen Freunden die Ermittlung selbst zu übernehmen.
Bestechend ist, wie die TKKG-Kinderermittlerwelt immer wieder auf die harte Erwachsenenrealität prallt: Anders als in Kinderhörspielen wie "Die drei ???" kooperieren die Erwachsenen nicht, wenn Viertklässler versuchen, sie zu befragen, meistens werden sie fortgejagt. Und ein Happy Ending ist auch nicht in Sicht: Im Bhoot-Basar passieren Verbrechen jenseits kindlicher Vorstellungskraft.
Jais Familie lebt in einem Basti. Die Viertel aus selbstgebauten Hütten an den Rändern von Metropolen haben oft kein fließendes Wasser. Hier wohnen Menschen, die als Putzkräfte für die Reichen in den abgeriegelten Apartmenttürmen mit Namen wie "Golden Gate" arbeiten und deren einzige Hoffnung auf sozialen Aufstieg heißt, dass ihre Kinder vielleicht eines Tages das Glück haben, im Callcenter einer amerikanischen Firma zu arbeiten. Anappara zeigt in ihrem Roman aber keineswegs ein Elendsdrama, sondern eine diverse Gesellschaft mit liebevoll gezeichneten Figuren: der langbärtige Fernseh-Chacha, der alte Fernsehgeräte aus den Müllhalden sammelt, oder Duttram, der Teeverkäufer, der Jai für seine Arbeit immer nur die Hälfte des Vereinbarten bezahlt, aber im Winter auch gerne Chai ausgibt.
Das Leben der Frauen im Viertel wird durch Gewalt und Willkür bestimmt, nicht nur im Alltäglichen, wenn Jais Schwester alle Aufgaben im Haus übernehmen muss, während er keinen Finger rührt. Auch die Gefahr, in der sich Frauen zu jeder Zeit allein auf der Straße befinden, ist allseits präsent. Einmal erzählen Straßenkinder im Roman Jai die Legende von Straßen-ki-Rani. Angeblich war das eine alte Frau, die den Verstand verlor und als Obdachlose verstarb, weil ihre Tochter Opfer eines Gewaltverbrechens wurde: "Die Männer brachten sie exakt an den Ort zurück, an dem sie sie entführt hatten, aber dermaßen zerfetzt, dass sie nicht mehr zusammenzuflicken war." Laut der Straßenkinder kehrt die Greisin als Ki-Rani-Geist zurück, um Frauen zu helfen, die von Männern bedroht werden. Über das grausam Realistische legt sich ein Film kindlicher Phantasie und Hoffnung: Solche Stellen finden sich immer wieder in diesem Debüt.
Anappara macht jede Häuserecke, jeden Mief von der Müllkippe, jedes Bersten von Glas in einer teilweise kopfschmerzbereitenden Synästhesie sichtbar: "Kellen kratzen in Töpfen, Metzgermesser schlagen auf Hackbretter, Rikschas und Motorroller hupen, und aus den Videospielhallen hinter schmuddeligen Vorhängen dröhnen Schießereien und Flüche." Beim Lesen kann man das Gefühl bekommen, selbst ständig über Ziegen zu stolpern und mit Teeständen zu kollidieren, während man die Gassen des Basars entlangsprintet oder sich durch Menschenmengen presst. Das kann nach einer Weile ermüden. Gerne hätte man sich mehr Zeit für die Entwicklung der drei Detektive gewünscht: Jai bleibt ein Einfaltspinsel, seine Freundin Pari, eine Streberin, die ihn zurechtweist, und Faiz der Sidekick. Aber das mindert das Staunen über ein so vielschichtiges Debüt nur wenig.
Anapparas sechsjährige Hauptfigur ist brennender Fan einer Serie namens "Police Patrol", was natürlich eine Anspielung auf "Crime Patrol" ist. In deren Folge 48 über den Fall von Noida sieht man heldenhafte Beamte, die die Familien der verschwundenen Kinder beruhigen und gewissenhaft ermitteln. In "Die Detektive vom Bhoot-Basar" nimmt ein korrupter Polizist einer verzweifelten Mutter deren Goldkette ab - ihren einzigen Wertgegenstand -, droht, das Viertel mit Bulldozern einzuebnen, und überlässt die Familie dann ihrem Schicksal. Anappara hält die Geschichte eines einfältigen Kindes im Armenviertel und die fiktive Realität von schönen, heldenhaften Beamten in der Serie gegeneinander. Das ist die Idee, des Buchs: Dass es in einer komplizierten Welt, einem Dickicht aus Smog und tiefen gesellschaftlichen Abgründen, gar nicht möglich ist, Sinn zu entdecken - und erst recht nicht ein Verbrechen so aufzuklären, wie es im Fernsehen geschieht. Trotzdem ist keine Welt ein Schreckensort, solange man sie durch die Augen eines Kinderabenteurers betrachtet.
EMELI GLASER.
Deepa Anappara: "Die Detektive vom Bhoot-Basar". Roman.
Aus dem Englischen von Roberto de Hollanda. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 400 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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