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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der DIW-Chef schlägt auf einen Watschenmann ein
Marcel Fratzscher hat sich in seinen zwei Jahren als Präsident des Berliner DIW an vielen politökonomischen Diskussionen beteiligt. Er wird insbesondere mit seiner grundsätzlich positiven Haltung zur Europäischen Währungsunion immer stärker als der Gegenspieler von Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des Münchner Ifo-Instituts, wahrgenommen. Dieser nervt die Regierenden seit 2010 mit hartnäckiger Kritik an den politischen Maßnahmen zur Risikoabschirmung und zur Rettung der Währungsunion. Für die Debatte ist es grundsätzlich gut, dass es jetzt mit dem Präsidenten des DIW einen vergleichbar gewandten Gegner auf Augenhöhe gibt. Es gibt ja fast keine wichtige ökonomische Frage, die nicht aus wissenschaftlicher Perspektive mindestens zwei Seiten hat, und Fortschritt ergibt sich am ehesten aus dem Wettbewerb qualifizierter Argumente.
So nimmt man Fratzschers Buch "Die Deutschland-Illusion" mit einigen Erwartungen zur Hand und hofft auf neue gute Argumente in der Debatte um Euro und Europa. Da wird man enttäuscht, denn leider ist das Buch eine überwiegend ärgerliche Lektüre. Ärgerlich deshalb, weil hier ein qualifizierter Ökonom - das ist Fratzscher ohne Frage - aus offenbar opportunistischen Gründen über weite Strecken unter seinem Niveau argumentiert und mit mehr oder weniger gezinkten Karten den harmlosen beziehungsweise wenig ahnungsvollen Leser gezielt hinters Licht führt.
Fratzscher baut einen Watschenmann ökonomischer und politischer Irrtümer auf und widmet sein Buch dem Zweck, dessen Irrtümer zu widerlegen. Bei dieser Widerlegung wiederum vermischt er fast unentwirrbar bedenkenswerte und richtige Argumente mit allerlei Wertungen und falschen Sachbehauptungen.
Der Aufbau des Watschenmanns beginnt mit dem Buchtitel und den von Fratzscher bekämpften "drei Illusionen". Dabei gibt es eigentlich kaum jemand Ernstzunehmenden, der sich die behaupteten (und folgerichtig bekämpften) drei Illusionen macht.
Erstens glaubt kein vernünftiger Mensch, dass "die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands gesichert sei, weil die Wirtschaftspolitik in Deutschland hervorragend war und ist". Im Gegenteil, gerade die von ihm kritisierten, aber niemals namentlich genannten Gegner (nicht einmal Hans-Werner Sinn taucht im Personen- und Sachregister auf) monieren, dass Deutschland von der Substanz lebt. Zur Kritik an der deutschen Wirtschaftspolitik schreibt Fratzscher auch viel Richtiges, und die von ihm kritisierte Investitionslücke besteht mindestens im Bereich der Verkehrs- und IT-Infrastruktur tatsächlich.
Zweitens behauptet kein vernünftiger Mensch: "Deutschland braucht Europa und den Euro nicht." Mein 2012 erschienenes Buch zur Währungsunion hieß bewusst "Europa braucht den Euro nicht". Es hatte sehr klar zur Grundlage, dass Deutschland Europa sehr wohl braucht, die Verwirrung aber mit der Gleichsetzung von Euro und Europa beginnt. Diese Gleichsetzung ist auch in Fratzschers Buch Ausgangspunkt umfassender Verwirrungen. Grundfalsch (und durch vielfältige Daten - darunter ganz simple vergleichende Zeitreihen ökonomischer Indikatoren - längst widerlegt) ist Fratzschers Behauptung, der Euro habe dem Wachstum und der Beschäftigung in Deutschland oder in anderen Euroländern in irgendeiner Weise geholfen.
Den Tatbestand der Geschichtsklitterung erfüllt die Beschreibung der Vorgeschichte des Euro: Die europäischen Währungsregime seit dem Zusammenbruch des Festkurssystems von Bretton Woods führten eben nicht zu hoher Inflation und fruchtlosen Abwertungswettläufen, sondern waren begleitet von einem kontinuierlichen Absinken des Inflationsniveaus, während gleichzeitig die Möglichkeit zur Wechselkursanpassung jenen Ländern Auswege bot, die zu einer strukturell höheren Inflation neigten. Auch hat der Euro eben nicht die wirtschaftliche Integration unter den Mitgliedsländern intensiviert, es ist vielmehr das Gegenteil eingetreten: Seit der Einführung des Euro im Jahr 2000 gibt es einen kontinuierlichen Rückgang der Bedeutung der südlichen Euroländer für den deutschen Außenhandel. Auch entwickeln sich die Niveaus von Wachstum und Beschäftigung eher auseinander.
Drittens behauptet ein vernünftiger Mensch: "Europa will nur an Deutschlands Geld." Aber etwas anderes ist wahr. Alle Vorschläge, wie man in der gegenwärtigen Situation die Eurozone stabilisieren kann, laufen auf eine vermehrte gemeinsame Haftung und/oder mehr fiskalische Transfers hinaus. Das gilt auch für Fratzschers Vorschläge, etwa seine Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung.
Die Beschäftigungsunterschiede in den Ländern der Währungsunion sind im Wesentlichen die Folge unterschiedlicher Ordnung der Arbeitsmärkte und unterschiedlicher nationaler Regulierungen. Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung würde die finanziellen Folgen unterschiedlicher nationaler Politiken vergemeinschaften und damit die Regierungen der Krisenstaaten noch mehr von der Notwendigkeit befreien, Verantwortung für ihre eigene Politik zu übernehmen. Sollte Fratzscher das ernst gemeint haben, würde er einer Grunderkenntnis der Volkswirtschaftslehre entsagen. Auf allerniedrigstem Niveau ist seine Auseinandersetzung mit der "Target-Falle". Relativ differenziert ist seine Diskussion der EZB-Geldpolitik.Der letzte Abschnitt - "Deutschlands Vision für Europa" - enthält manches Richtige, aber leider nicht, was sein Titel ankündigt, nämlich ein Bild von Europa, seinen Institutionen und ihrer Zusammenarbeit in 20 Jahren. Auch nach der Lektüre weiß man nicht, wie Deutschland verbindliche Vorgaben für die Finanzpolitik oder Strukturreformen in Frankreich oder Italien durchsetzen kann.
Fratzschers Buch ist eine politische Gefälligkeitsstudie für Merkel, Schäuble und Gabriel. Es soll offenbar ein argumentatives Gegengewicht gegen Sinn und andere ungeliebte Kritiker schaffen. Das ist definitiv nicht gelungen, aber das werden jene nicht bemerken, die von Büchern allenfalls die Überschriften und die Zusammenfassungen lesen. Insofern mag es sogar seinen politischen Zweck erfüllen.
THILO SARRAZIN
Marcel Fratzscher: Die Deutschland-Illusion. Hanser. München 2014. 278 Seiten. 19,90 Euro
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"... ein Muss für alle, die sich Illusionen machen, und eine Freude für diejenigen, die sich unter Deutschlands Intellektuellen nach mehr Weitblick und Vernunft sehnen." PARISBERLIN, Oktober 2014
"Marcel Fratzscher baut ökonomische und zugleich verständliche Buch-Brücken über den schmalen Fluss zwischen bundesrepublikanischen Illusionen und europäischen Visionen. Damit niemand in Berliner oderBrüsseler Strudel gerät: Deutschland nicht. Europa nicht. Vor allem aber die Europäer nicht. Eine bekehrende Pfl ichtlektüre für all jene, die glauben, es gebe global noch große EU-Länder. Und dazu noch ein gut dokumentierter Aufruf, dass Europa entweder entzweit untergeht oder gemeinsam gewinnt. Ich bin - wie der Autor - für Letzteres!"
Jean-Claude Juncker, designierter Präsident der Europäischen Kommission
"Ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um Deutschland und den Euro! Fratzscher zeigt, dass die Euro-Rettungspolitik der letzten Jahre den Deutschen nicht von außen aufgedrückt, sondern maßgeblich von der deutschen Regierung mitgestaltet wurde. Auch geht es der deutschen Wirtschaft nicht so gut, wie viele meinen. Die Unternehmen investieren lieber im Ausland, die Infrastruktur verfällt, bei der Bildung wird gespart - und unsere Ersparnisse werden von den Banken schlecht angelegt. Wir leben von der Substanz."
Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern