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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Egomanie ist Trumpf: Steffen Greiner stellt die Vorläufer heutiger Querdenker vor
Geschichte wiederholt sich doch. Querdenker, Verschwörungstheoretiker und Endzeitpropheten, wie sie bei Corona-Demonstrationen auftreten - all das gab es schon früher, weiß Steffen Greiner. Er nimmt uns mit auf eine Zeitreise zu den Vorläufern der heutigen querdenkerischen Akteure, wie sie in den Wanderpredigern, Naturaposteln und "Inflationsheiligen" zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik zu erkennen seien. Durch sein Buch defiliert eine Reihe von wunderlichen Führergestalten mit messianischem Anspruch. Den Herausforderungen einer laut, schnell und fordernd daherkommenden Moderne begegneten sie mit einer Mischung aus Weltuntergangsrhetorik und innerweltlichen Heilsversprechen.
Figuren wie Gusto Gräser, der vom Monte Verità aus nach einer Lebensreform suchte, Louis Haeusser, der an der Spitze einer "Diktatur der Wahrheit" Deutschland retten wollte und den Ich-Kult auf die Spitze trieb, Friedrich Muck-Lamberty, der ebenso wie Max Schulze-Sölde zeitweise weit nach rechts blickte und einer völkischen Religiosität das Wort redete sie alle finden sich in Greiners Almanach der Skurrilen, Sektierer und Spintisierer versammelt. Eigene Persönlichkeitskrisen verbanden sie mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Orientierungskrise und formulierten in letzter Konsequenz häufig, so verzweifelt wie lächerlich, egomanische Allmachtsansprüche.
Leicht auf einen Nenner zu bringen sind die diversen Phantasien und Phantasmagorien nicht. Predigten die einen Vegetarismus und freie Liebe zur Begründung einer Gegenkultur, erprobten andere in Siedlungsprojekten neue Formen der Menschwerdung. Utopisten, denen eine umfassende Umgestaltung von Staat und Gesellschaft vorschwebte, dominierten gegenüber Pragmatikern. Dabei konkurrierten anarchistische mit autoritären, linke mit rechten Vorstellungen, die manchmal ganz eigene Melangen bildeten.
Den Querfronten, die dabei entstanden, gilt Steffen Greiners besondere Aufmerksamkeit. Er erinnert an Haeusser, der sich einmal als "Hakenkreuzlerkommunist" bezeichnete und zum vereinten Kampf gegen die ihm matt erscheinenden, zum Kompromiss neigenden Parteien der Weimarer Demokratie aufrief. Doch diesen Modus des Unbedingten konnte er nicht in Wahlerfolge umsetzen. Mit der eigenen "parteilosen Partei" scheiterte er 1924 bei den Reichstagswahlen ebenso wie 1925 als Person bei den Reichspräsidentenwahlen. Nach dem überstandenen Krisenjahr 1923 entzog die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der Weimarer Republik den "Inflationsheiligen", wie sie erst in der Rückschau genannt werden sollten, die Grundlage. Haeusser starb 1927. Andere erlebten nochmals eine Blütephase während der Weltwirtschaftskrise in den frühen Dreißigerjahren. Für jene Jahre beobachtet Greiner vermehrt eine politische Radikalisierung und gefährliche Gemische aus linken und rechten, sozial- und nationalrevolutionären Ideologemen. Er erinnert an das Wirken der "linken Leute von rechts", des Nationalbolschewisten Ernst Niekisch ebenso wie des linken Nationalsozialisten Otto Strasser.
Schon Ulrich Linse sprach 1983 in seiner Studie "Barfüßige Propheten", auf die sich Greiner ausgiebig stützt, von "Mutanten des Typus Hitler". Wie nah oder fern die Inflationsheiligen dem Nationalsozialismus und Hitler standen, lässt sich gleichwohl nicht einfach beantworten. Hitler hielt die esoterischen Wanderprediger auf Abstand, das streicht Greiner klar heraus, und doch hätten sie mit ihren ganz eigenen Wahrheiten, mit ihrer Führersehnsucht, mit ihrem Versprechen ganzheitlicher Lösungen und ihrem Antiparteienaffekt mentalitätsprägend gewirkt und zum Scheitern der Demokratie beigetragen.
Aus dieser Drohkulisse gewinnt die Studie ihre eigentliche Dramatik. Sie vermittelt ein hohes Maß an Unbehagen gegenüber neu-alten Querdenkern. Einen überzeugenden Beleg zum Zusammenhang zwischen den verschiedenen Generationen dieser merkwürdigen Spezies liefert Greiner aber nicht. Auch vermisst man präzise Einschätzungen dazu, wann und unter welchen Bedingungen das Rabulistische ins Radikale, das Exzentrische ins Extremistische umschlägt.
Greiners Buch, das eine eigentümliche Mischung aus lässiger historischer Rückschau, meinungsstarkem Kommentar und einer nach Authentizität strebenden Reisereportage darstellt, lebt hauptsächlich von den bunten und schillernden Gestalten aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ob Michael Ballweg von "Querdenken-711", der verschwörungsgeneigte Theaterdramaturg Anselm Lenz und die Zeitung "Demokratischer Widerstand", Jürgen Elsässer und sein "Compact"-Magazin oder der "Reichsbürger-König" Peter Fitzek und der "Knallkopf" Xavier Naidoo: Das alles wirkt vor dieser Kulisse wie ein müder Abklatsch, erinnert bestenfalls an Epigonentum, ähnlich wie im Falle der heutigen Neuen Rechten, die sich gerne als legitime Erben der "konservativen Revolutionäre" aus Weimars Tagen sehen. Doch wie verhält es sich mit dem Erbe der "ersten Querdenker": Haben es deren Nachkommen angetreten oder ausgeschlagen? Greiner bleibt stichhaltige Antworten schuldig. Es ist nichts darüber zu erfahren, ob die heutigen "Querdenker" überhaupt Kenntnis von ihren "Vorfahren" haben und auf deren Vorstellungen direkt Bezug nehmen.
Was Greiner uns präsentiert, ist aufgrund der versammelten Kuriositäten unterhaltsam zu lesen, wirkt schwungvoll, läuft allerdings bisweilen ein wenig hochtourig, wenn sich der Autor an den eigenen Urteilen und Beobachtungen berauscht. Wie ist es aber um die Stichhaltigkeit der Argumentation bestellt, und wie schlüssig werden historische Zusammenhänge rekonstruiert? Allzu häufig bleibt es bei einem andeutungsvollen Raunen und wird Geschichte wie zeitlose Modelliermasse genutzt. Gleich ob Fin de Siècle, Weimar oder die Bundesrepublik während der Corona-Krise, die Zeitebenen wirken wie zu einem Drama zusammengeschoben. Der äußeren Form nach wird dieser Eindruck dadurch unterstrichen, dass jedem Großkapitel ein Tableau der Akteure aus verschiedenen Epochen vorangestellt ist, womit ein gemeinsamer Auftritt auf der Bühne des Verquerdenkens suggeriert wird.
Das mag eine originelle Idee sein, Historiker aber muss dieses Vorgehen irritieren. Das Unverwechselbare der Zeitläufte, die Fremdheit früherer Perioden, die Individualität von Konstellationen geraten so aus dem Blick. Im Grunde wiederholt sich Geschichte bei Greiner also gar nicht, sie bleibt immer gleich und spielt sich in Anverwandlungen ab. ALEXANDER GALLUS
Steffen Greiner: "Die Diktatur der Wahrheit". Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern.
Tropen Verlag, Stuttgart 2022. 272 S., geb.,
20,- Euro.
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