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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Lucy Frickes Roman "Die Diplomatin"
Welchen Wert hat die Diplomatie heute noch? Diese Frage stellt sich in einer Kriegssituation wie der aktuellen mit besonderer Dringlichkeit. Zwischen verschiedenen Parteien zu vermitteln, verbindende Elemente festzuhalten, den Frieden zu bewahren - das stellt man sich gemeinhin als diplomatische Aufgaben vor. So weit die Theorie.
"Ich stehe rum und bin nur Deutschland." So lakonisch und ein wenig resigniert beschreibt Friederike Andermann, die Protagonistin des Romans "Die Diplomatin", ihre Repräsentationspflichten bei Empfängen anderer Botschaften. Nach langen Jahren im Dienst des Auswärtigen Amtes ist der erfahrenen Diplomatin mit Ende vierzig der Karrieresprung zur deutschen Botschafterin in Montevideo geglückt. Der Alltag in Uruguay erscheint ihr im Gegensatz zu ihren bisherigen Stationen allerdings recht beschaulich und nicht allzu fordernd; als erste Amtshandlung steht das Aussuchen der Bratwürstchen für die Botschaftsfeier zum 3. Oktober auf dem Programm. So hatte Andermann sich den Höhepunkt ihres ehrgeizigen Wegs aus einfachen Hamburger Verhältnissen bis an die Spitze einer Botschaft nicht vorgestellt - sie wollte doch etwas bewirken mit ihrem Beruf! Doch schon bald gerät ihre Beschaulichkeit durch das Verschwinden einer Instagram-Influencerin ins Wanken.
Zwei Jahre später setzt der Hauptteil der Handlung in der Türkei neu ein, und der Auftakt in Montevideo ist für den weiteren Verlauf kaum noch von Bedeutung. Nach Versetzung findet sich Friederike Andermann nunmehr als Konsulin in Istanbul wieder. Es geht um willkürliche Inhaftierungen von Künstlern und deren Angehörigen, um Kontrolle ausländischer Journalisten und um die Frage, welche Rolle die bröckelnden deutsch-türkischen Beziehungen dabei überhaupt noch spielen (können). Die Diplomatie scheint angesichts einer übermächtigen Autokratie an ihre Grenzen zu geraten, und genau an dieser Stelle ist Andermanns Einsatz für die Freiheit gefragt.
Daneben streift die Erzählung etliche weitere Themen. Mit dem Verhältnis der Diplomatie zu den deutschen Medien wird Andermann sowohl in Montevideo als auch in Istanbul sehr persönlich konfrontiert. Überhaupt spielt "Die Diplomatin" in einer Welt, in der die sozialen Medien den beruflichen Alltag bestimmen. Die spezifischen Herausforderungen für Diplomaten wie auch etliche Beispiele des Berufsjargons prägen das Buch. Sie zeugen vom umfangreichen Hintergrundwissen der Autorin: Die Leser lernen Ausdrücke wie MAP (offiziell "mitausreisender Partner", auch dechiffriert als "man at the pool"), erfahren, dass man bei der CYA-Strategie (cover your ass) Verantwortung von sich auf andere abwälzt, und vor allem, dass das Leben als Gesandter aus mehr als dem selbstreferenziellen "Lachen, Lügen und Lachsfressen" besteht.
Durchweg stellt der Roman das Erzähltalent von Lucy Fricke unter Beweis, die selbst für etliche Monate in Istanbul gelebt hat. Die Schönheit der Stadt schildert sie ebenso realistisch wie die politische Lage in der Türkei. Die Bestsellerautorin überzeugt mit prägnanten Dialogen und pointierten Charakteren. Friederike Andermann zeichnet sie einfühlsam als mutige Frau, die ihren Beruf zunehmend hinterfragt, aber dennoch weiterkämpft und sich mit trockenem Humor vor Verbitterung zu bewahren versucht. Das Buch schildert jedoch nicht nur das vermeintlich typische Narrativ einer starken ledigen Frau, die sich auf höchster diplomatischer Ebene gegenüber "Männerbünden" zu behaupten weiß. Bei dem spannenden Roman, in dem im Übrigen der Name des türkischen Präsidenten kein einziges Mal fällt, handelt es sich um ein wirklich politisches Buch mit aktueller Brisanz und persönlichen Folgen für die Autorin. Wie die "Berliner Morgenpost" berichtete, wurde Lucy Fricke bis auf Weiteres von Reisen in die Türkei abgeraten. JEANETTE SCHÄFER
Lucy Fricke:
"Die Diplomatin". Roman.
Claassen Verlag,
München 2022. 256 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lucy Fricke erzählt in „Die Diplomatin“ von der kleinteiligen politischen Arbeit hinter den Kulissen. Hört sich
nach dem Buch der Stunde an. Ein Spaziergang mit der Schriftstellerin durch das Berliner Regierungsviertel
VON VERENA MAYER
Es gibt Orte in Berlin, da ist man von einem Moment auf den anderen mitten im Weltgeschehen. Der Boulevard Unter den Linden ist so ein Ort. Von den Sonnenterrassen der Cafés sind es nur ein paar Schritte bis zur russischen Botschaft. Ein Gebäude im stalinistischen Zuckerbäckerstil, vor dem sich an diesem Frühlingsnachmittag Leute mit blau-gelben Ukraine-Fahnen versammeln. Jemand hat ein Straßenschild aufgestellt, auf dem „Wolodymyr Selenskyj Platz 1“ steht. So soll dieser Abschnitt in Zukunft heißen, wenn es nach einigen Aktivisten geht, aus Solidarität mit der Ukraine.
Was wohl hinter den Mauern des hellen Klotzes los ist, fragt man sich dieser Tagen immer wieder. Zuletzt wurden Dutzende Diplomaten ausgewiesen, weil Deutschland in ihnen inzwischen eine Bedrohung sieht. Die Schriftstellerin Lucy Fricke sagt, sie fühle sich nicht berufen, die aktuelle Weltlage zu analysieren. Aber wenn sie an Botschaftsgebäuden vorbeigehe, sei ihr eines klar: wie viel hinter den Kulissen passiere. Fricke kann das sagen, weil sie die vergangenen Jahre damit verbracht hat, im diplomatischen Milieu zu recherchieren. Während eines Stipendiums in Istanbul, das sie in die Sommerresidenz des deutschen Botschafters führte, hat sie den Alltag im Botschaftsdienst beobachtet und mit vielen Diplomatinnen und Diplomaten gesprochen. Fricke ist sich nicht sicher, warum diese Menschen sich mit ihr getroffen haben, „vielleicht weil ich Schriftstellerin bin und keine Journalistin, vielleicht haben sie mich auch unterschätzt“. Aber sobald sie irgendwo ankam und sagte, sie wolle über eine Diplomatin schreiben, die mit ihrem Beruf hadert, sei die Reaktion gewesen: Setzen Sie sich mal. „Aber die meisten waren tatsächlich erfreut, dass da jemand nachfragt und die Dinge genauer wissen will.“
Herausgekommen ist ein Roman aus Sicht der deutschen Botschafterin Friederike Andermann, die schon in vielen Weltgegenden war und vom diplomatischen Karussell nun in die Türkei befördert wird. Dort ist schnell klar, dass ihr Alltag als Diplomatin nicht mehr nur daraus besteht, gute Stimmung bei den lokalen Würdenträgern zu machen und das alljährliche Fest zum 3. Oktober auszurichten. Sondern auch darin, in einem autokratischen System zu bestehen, das deutsch-türkische Journalisten und Menschenrechtsaktivistinnen verfolgt und einsperrt. „Die Diplomatin“ handelt von einem moralischen und politischen Dilemma. Andermann muss ihrer Rolle als Repräsentantin des deutschen Staats gerecht werden, gleichzeitig aber buchstäblich Grenzen überschreiten, um Menschen außer Landes in Sicherheit zu bringen. Frickes Roman beschäftigt sich dezidiert mit der Situation in der Türkei. Ein Handlungsstrang ist an die Geschichte der deutschen Journalistin Meşale Tolu angelehnt, die 2017 in der Türkei verhaftet wurde, vor den Augen ihres zweijährigen Sohnes, den sie bei Nachbarn lassen musste. Dennoch ist „Die Diplomatin“ so etwas wie der Roman zur Stunde. Eine Geschichte darüber, wie viel in Krisensituationen auf diplomatischen Wegen versucht wird und wie vergeblich dies oft ist.
Fricke bahnt sich ihren Weg durch die Menschen vor der russischen Botschaft und biegt ins Regierungsviertel ein. Wieder so ein Ort, an dem man sich mittendrin fühlt, im Zentrum der Macht. Fricke blickt auf die glatten Fassaden der Bürogebäude. Sie nehme hier vor allem die Arbeit wahr, „wie kleinteilig im Hintergrund gearbeitet wird und wie viel geredet werden muss, damit Leute überhaupt Gespräche führen können“. Vieles lasse sie verzweifeln, die Hilflosigkeit der Politik, „dass man nichts mehr gestalten kann, nur reagieren“. Sie hatte dieses Gefühl schon beim Schreiben ihres Romans, da übernahmen die Taliban gerade wieder die Macht in Afghanistan. Und sie spürt sie jetzt wieder, „diese Ohnmacht, dass es keine Regeln mehr gibt“. Dass alle Anstrengungen der Diplomatie doch im Krieg endeten.
Fricke, 1974 in Hamburg geboren, spricht wohlüberlegt, so, als wolle sie ihre Sätze niederschreiben. Manchmal blitzt eine norddeutsch- trockene Selbstironie durch, etwa bei der Frage, wie sie auf ihr Thema gekommen sei. „Es gefiel mir, mich in etwas reinzustürzen, das nichts mit mir zu tun hat. Es ist besser, sich ein Thema zu verbeißen als in sich selbst.“ Aber im Ernst: Sie habe immer schon gerne Romane über Diplomaten gelesen, von Graham Greene oder John Le Carré. Weil das Genre aber vor allem um Männer in tropischen Ländern kreist, die viel trinken und zynisch werden, wollte sie die Geschichte einer Frau schreiben, die mit den Mühen der diplomatischen Ebene konfrontiert ist. Mit nervigen Deutschen im Ausland, langweiligen Empfängen, Fricke nennt es „Lachen, Lügen, Lachshäppchen“, oder den Paarproblemen, die sich ergeben, wenn der „mitausreisende Partner“ beziehungsweise „MAP“, wie das offiziell heißt, keine Bestimmung für sich findet. „Mein Fast-Ehemann war in der Hinsicht sehr vorausschauend gewesen, wir trennten uns während meines ersten Auslandspostens. Er könne kein MAP sein, kein mitausreisender Partner oder wie er vermutete: man at the pool.“
Dass sie einmal über ein solches Milieu schreiben würde, war auf Lucy Frickes Weg nicht vorgesehen. In ihrer autobiografischen Erzählung „Fischfabrik“ (2020) hat sie beschrieben, in welchen Verhältnissen sie aufgewachsen ist: Sie schmiss die Schule, lief von zu Hause weg, „weg von der Gewalt, dem Schnaps und dem Unsagbaren“, landete auf der Straße und dann in einer betreuten Wohngemeinschaft für Jugendliche, „ich sehe das Mädchen unter einem Hochbett hocken (...). Bei seinem Einzug hatte es die Drogen und die Waffe abgeben müssen, die letzten zehn Gramm und die Gaspistole, die es immer bei sich getragen hatte“. Es geht um die Hilfsjobs in Fabriken, mit denen sie sich über Wasser hielt, und die Behörden, die sie abschrieben. Als sie einmal im Jobcenter sagte, sie wolle etwas Soziales machen, riet man ihr, Fußpflegerin zu werden.
Fricke landete beim Film und machte „Script / Continuity“, protokollierte also, wer am Set wo steht und welche Bewegungen macht, damit die Übergänge stimmen. Eine so undankbare wie unbedankte Tätigkeit, die meistens Frauen machen, früher hieß der Job „Ateliersekretärin“. Dennoch ist Fricke froh über die Erfahrung. Sie habe seither nicht nur einen Blick für Räume, „ich bin die, die weiß, wo der Schlüssel liegt, und wenn jemand seine Schlüssel sucht, kann ich das sagen“. Es habe ihr auch bei der Recherche für ihren Roman geholfen, als sie in vielen Botschaftsgebäuden keine Fotos machen durfte. Und nicht zuletzt sei es keine schlechte Voraussetzung für das literarische Schreiben, wenn man weiß, wie man Übergänge gestaltet.
Und schreiben wollte sie. Weil sie immer geschrieben und vor allem nie damit aufgehört hatte, sagt Fricke. In den Drehbuchwerkstätten der Filmhochschulen hatte sie keine Chance, da wurden Lebensläufe ohne Abitur schon mal mit „Minus zehn“ gekennzeichnet, wie sie später erfuhr. Die einzige Chance, die sie hatte, war die Literatur, und so ging Fricke ans Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Sie erinnert sich noch gut, wie paradiesisch sie es dort fand, „ich kam aus einem Leben, in dem ich 60 Stunden gearbeitet habe, und dann konnte ich in der Bibliothek sein und lesen, so viel Zeit hatte ich noch nie davor“. Sie machte sich schnell einen Namen, gewann den ersten Preis beim Literaturwettbewerb „Open Mike“ und brachte ihr Debüt „Durst ist schlimmer als Heimweh“ heraus.
Es geht darin um ihre Jugend, um Armut, Gewalt und Missbrauch, und vor allem handelt das Buch von den brennenden Themen der Gegenwartsliteratur: Herkunft, Klasse, das Gefangensein in der eigenen Biografie. Doch Fricke hatte das Pech, es schon 2007 geschrieben zu haben, und damals gab es gerade mal eine größere Rezension, die den Roman auch noch als „Stereotypie einer Kellerkind-Biographie“ abtat. Fricke fragt sich manchmal, was wäre, wenn sie das Buch jetzt geschrieben hätte, in einer Zeit, in der die Authentizität des Selbsterlebten in der Kunst über allem steht. Welche Fragen würden ihr gestellt, müsste sie in Talkshows über Armut und Obdachlosigkeit sprechen? So aber konnte sie einfach „immer eine weitere Stufe nehmen“, einen Roman nach dem anderen schreiben. Bis sie mit „Töchter“ von 2018, einem Roadmovie über zwei Frauen, die den schwer kranken Vater der einen in die Schweiz zur Sterbehilfe fahren, einen Bestseller landete und sich als Expertin für feine, ironische Zwischentöne etablierte.
Was nicht heißt, dass sie sich vom früheren Teil ihrer Biografie distanzieren will. Sie habe noch „einen Zeh in dieser Welt“, sagt sie, und wenn sie Leute auf der Straße sehe, die betteln, weiß sie, wie schnell man dort landen kann. Wie brüchig ein Leben sein kann, wenn man nie ein Sicherheitsnetz kennengelernt hat.
Vor dem Reichstag liegt ein Schild auf der Straße, auf dem „Wer will noch billiger heizen, wenn die Welt brennt?“ steht, ein Rest der Demonstrationen, die hier täglich stattfinden. Dahinter ist der Tiergarten, mit seinen vielen Botschaftsgebäuden, und wiederum dahinter befindet sich der Kleine Tiergarten, in dem der russische Geheimdienst 2019 einen Tschetschenen erschießen ließ, am helllichten Tag auf offener Straße. Es kann schon deprimierend sein, derzeit durch Berlin zu laufen. Was passiert, wenn in der Weltpolitik nichts mehr zählt, wenn alle Regeln gebrochen werden? Fricke sagt, dass die Diplomatie nun wichtiger sei denn je. „Man muss weiter miteinander sprechen, das Gespräch darf unter keinen Umständen aufhören.“
Der Diplomatenroman kreiste
früher um Männer, die viel
trinken und zynisch werden
Was, wenn sie ihr Buch
über Herkunft und Klasse
heute geschrieben hätte?
„Es ist besser, sich ein Thema zu verbeißen als in sich selbst“: Die Schriftstellerin Lucy Fricke.
Foto: Gerhard Leber/imago
Lucy Fricke:
Die Diplomatin. Roman.
Claasen, Berlin 2022.
256 Seiten, 22 Euro.
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