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Warum Jean-Philippe Toussaint mit Beckett Schach spielen wollte
Es ist ziemlich merkwürdig, dass der Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint in Deutschland immer noch eine Art Geheimtipp ist. Denn wer einmal angefangen hat, die Bücher des 54-jährigen Belgiers zu lesen, der abwechselnd in Brüssel und auf Korsika lebt, besonders seine Trilogie "Sich lieben", "Fliehen" und "Die Wahrheit über Marie", der bleibt ihm treu. Der will mehr von dieser betörend lakonischen Sprache. Von einer Romanwelt, die Toussaint so gerne in eine Dingwelt verwandelt, wenn er als Hintergrundgeräusch überall technische Geräte dröhnen, schnurren oder klingeln lässt. Wenn er den Sex zweier Sich-nicht-mehr-Liebender in Tokio durch ein Fax stört, das mitten in der Nacht aus Europa ankommt, oder im Zug nach Peking ein Mobiltelefon zum Protagonisten der Handlung werden lässt.
Vordergründig erzählt Toussaint Geschichten von Liebe und Trennung: Zusammen verreisen, sich ein Zimmer teilen, in einem eleganten Hotel in Tokio, ist in "Sich lieben" die beste Gelegenheit, um Schluss zu machen; in "Fliehen" ist die Abwesenheit des anderen die einzige Möglichkeit, einander nahe zu sein. Was wie ein beiläufiges Beziehungsdrama daherkommt, ist minutiös konstruiert, ein Spiel mit Bezügen, ein Experiment mit Kalkül und Leidenschaft. Toussaints Texte sind extrem leicht lesbar. Zugleich sind sie ein kompliziertes und sehr dichtes Gewebe.
Joachim Unseld, der den Autor seit Jahren verlegt, hat nun dessen Essays über das Schreiben übersetzt, die - typisches Toussaint-Understatement - mit der Feststellung beginnen, dass er, bis er zwanzig war, eigentlich so gut wie gar nicht gelesen, keine bestimmten Vorlieben gehabt und sich überhaupt nicht groß "für Sachen" interessiert habe: "ein bisschen für Fußball, fürs Kino". Dann, mit einundzwanzig, las er Dostojewskijs "Verbrechen und Strafe" und bekam es "voll in die Fresse": Ein Buch müsse eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns, habe Kafka gesagt. Und Toussaint fragt: "Die Axt?" Vielmehr sei doch die Literatur die scharfe Scheide dieser Axt, die er hier zum ersten Mal habe aufblitzen sehen. Hier, bei Dostojewskij, als er sich mit Raskolnikow, dem Mörder, identifizierte, sei ihm die fürchterliche Macht der Literatur bewusst geworden. Er habe begriffen, dass eine ihrer wesentlichsten Kräfte in ihrer Zweideutigkeit liege: "Literatur, das war - und das sollte sie immer sein - wie Schwefel, wie Weißglut, wie Säure." Einen Monat später fing er selbst an zu schreiben.
Die Essays handeln von den Bedingungen, unter denen Literatur entsteht. Wir erfahren, in welchen Arbeitszimmern Toussaint welchen Roman geschrieben hat und wieso er diese Zimmer als "neutrale Orte" schätzt, als Schneckenhäuser, in denen er sich nur vorübergehend aufhält. Wir lesen, inwiefern zwei unversöhnliche Dinge, die Dringlichkeit und die Geduld, zu den Voraussetzungen des Schreibens gehören.
In den schönsten Passagen allerdings geht es um etwas anderes: um die Bewunderung für Samuel Beckett, dem Toussaint Anfang der achtziger Jahre einen Brief schrieb. Darin erklärte er ihm, dass er zu schreiben begonnen habe, und schlug ihm vor, auf dem Korrespondenzweg eine Partie Schach mit ihm zu spielen. Wenn er, Toussaint, gewinne, müsse Beckett das Stück lesen, das er gerade geschrieben habe. Wenn Beckett gewinne, würde Toussaint das Stück mit ausgeruhtem Kopf selber wiederlesen. "Für den Fall dass: Bauer auf e4", schrieb er. Und Beckett antwortete: "Schwarz gibt auf. Schicken Sie mir das Stück. Herzlich. Samuel Beckett". Dass Toussaints Romane, sehr viel später, in Becketts Verlag, den Éditions de Minuit, verlegt werden sollten, ist wohl die schönste Pointe, die man sich für einen ersten Schreibversuch denken kann.
JULIA ENCKE
Jean-Philippe Toussaint: "Die Dringlichkeit und die Geduld". Aus dem Französischen von Joachim Unseld. FVA, 90 Seiten, 14,90 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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