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Überforderte Kommunen fördern den Populismus
Raghuram Rajan war Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und Gouverneur der indischen Zentralbank. Heute lehrt er an der Universität Chicago. In seinem jüngsten Buch vertritt er die Auffassung, dass menschliche Gesellschaften drei Säulen brauchen: Märkte, Staat und lokale Gemeinschaften. Die Märkte benötigen wir für eine effiziente Ressourcenallokation; den Staat für den Schutz der Eigentumsrechte, den Ordnungsrahmen sowie die Beschaffung von Kollektivgütern; autonome Gemeinden zur Pflege der zwischenmenschlichen Kontakte, der Tradition und der Kultur.
Vor allem in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften sieht Raghuram Rajan die größten Schwächen bei den Gemeinden, weil viele von ihnen durch die Globalisierung und den technologischen Wandel gefährdet sind. Denn technologischer Wandel und globaler Freihandel können vor allem in ländlichen und kleineren Gemeinden schnell ein oder zwei regional dominante Unternehmen gefährden und lokale Arbeitsmärkte erschüttern. Mit Rücksicht auf ihre Kinder und deren Bildungschancen neigen gerade besser gestellte Familien dazu, angeschlagene Gemeinden zu verlassen. Sie tragen damit zu einer Abwärtsspirale bei. Nach Rajan tragen abgehängte und überforderte Gemeinden wesentlich zum Populismus, der Ablehnung der bisherigen Eliten und der Delegitimation liberaler Werte bei. Um die Gemeinden zu stärken, plädiert Rajan für eine bessere Finanzausstattung gerade auch gefährdeter Gemeinden und für deutlich mehr lokale Kompetenzen.
In ethisch, kulturell oder religiös heterogenen Gesellschaften kann er sich durchaus vorstellen, dass einige Gemeinden homogen bleiben oder werden wollen, um eigene Traditionen in offenen und alternden Gesellschaften zu pflegen, die Zuwanderung auch aus fremden Kulturen brauchen. Auch um innergesellschaftliche Konflikte zu verringern, betont er allerdings, dass die Gemeinden inklusiv sein müssen, also weder ihre Märkte abschotten noch Zu- und Abwanderung restriktiv handhaben dürfen. Wo die Autonomie der Gemeinde deren inklusiven Charakter gefährdet, da entscheidet sich Rajan grundsätzlich für Inklusion.
Wenn man an das Schicksal des Subsidiaritätsprinzips in der EU denkt oder auch an den abnehmenden Entscheidungsspielraum der amerikanischen Bundesstaaten gegenüber der Zentralregierung, um ein Rajan vertrauteres Beispiel zu nehmen, dann kann man skeptisch sein, ob das Subsidiaritätsprinzip mit dem Vorrang der Inklusion kompatibel ist. Rajan verweist allerdings zu Recht darauf, dass in Indien tatsächlich eine Stärkung von Einzelstaaten und sogar Gemeinden zu Lasten der Zentralregierung gelungen ist.
Das Buch ist gut lesbar, anregend und selbstkritisch. Es besteht im Wesentlichen aus drei Teilen, wobei der erste Teil vorwiegend eine Wirtschaftsgeschichte der angelsächsischen Länder ist und die Entstehung moderner Staaten und Märkte beschreibt, auch wie beide zur Steigerung des Wohlstands beigetragen haben. Interessant ist dabei vor allem, dass Rajan Eigentumsrechte nicht in der Tradition Lockes oder der amerikanischen Libertären aus dem Selbsteigentum oder dem Naturrecht ableitet, sondern daraus, dass sie von anderen anerkannt werden, womit gleichzeitig deren Angreifbarkeit und deren Gefährdung bei krasser Ungleichverteilung in den Blick rückt.
Im zweiten Teil des Buches geht es um die Entstehung der Ungleichgewichte, zu denen der anfangs schon angesprochene prekäre Status vieler Gemeinden und die sozialräumliche Polarisierung im Zeitalter der an sich positiv bewerteten Globalisierung gehört. Zudem geht es auch um die Begünstigung hochgebildeter Arbeitskräfte und die Gefährdung der Mittelschicht durch den technologischen Wandel und die IT-Revolution sowie um die EU als Elitenprojekt mit ungenügender Legitimation durch die Bevölkerung. Zu den Ungleichgewichten zählen muss man auch die immer noch bestehende westliche Dominanz in globalen Institutionen bei gleichzeitig zunehmendem Gewicht asiatischer Mächte, vor allem Chinas. Im dritten Teil geht es um die Wiederherstellung des Gleichgewichts mit konkreten Überlegungen zur Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und der Stärkung von Gemeinden. Handfest sind Rajans Befürchtungen, dass Patente zunehmend zur Verringerung des Wettbewerbsdrucks eingesetzt werden und das Patentrecht deshalb eher gelockert als verschärft werden sollte, dass Bevölkerungsvielfalt eher ein Trumpf als eine Belastung ist. Dabei konzentriert sich Rajan allerdings vorrangig auf englischsprachige Länder mit recht guter Kontrolle der eigenen Grenzen als auf Kontinentaleuropa, das sich die meisten seiner Zuwanderer in letzter Zeit nicht ausgesucht hat. Er hofft auf einen inklusiven Nationalismus und erwähnt in diesem Zusammenhang auch den Verfassungspatriotismus und Habermas. Weil Rajan zugesteht, dass Ökonomen nicht viel davon verstehen, wie man Gemeinden wiederbelebt, hält er selbst seine Überlegungen dazu offenbar nicht für das letzte Wort.
ERICH WEEDE
Raghuram Rajan: Die dritte Säule. Warum wir in einer globalisierten Welt lokale Gemeinschaften brauchen. München: Finanzbuch Verlag 2020, 560 Seiten, 27 Euro.
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