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"Thomas Kaufmann, Kirchenhistoriker in Göttingen, zieht zwischen beiden Medienrevolutionen interessante Vergleiche. Relevant!" National Geographic History, Ausgabe 2 2022
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Vor der Buchdruckerpresse sind alle gleich: Thomas Kaufmann erzählt die Frühphase der Reformation als Mediengeschichte
"Ohne Buchdruck keine Reformation", dieses Axiom ist seit Langem unumstritten. In jüngerer Zeit ist es noch insofern erweitert worden, als immer klarer wird, dass nicht die Technik des Buchdrucks allein den qualitativen Unterschied (etwa zur hussitischen Reformbewegung einhundert Jahre früher) ausgemacht hat. Mindestens von gleicher Bedeutung war die Ausbildung eines buchhändlerischen Distributionssystems, das die Verteilung der im Druck hergestellten Schriften gewährleistete. Die Reformation basierte auf einem in gut sechs Jahrzehnten auf- und ausgebauten, höchst effizienten, kapitalistisch organisierten Produktions- und Vertriebssystem, auf das sie ihrerseits wie ein Brandbeschleuniger wirkte.
In seinem neuen Buch unternimmt der ausgewiesene Reformationshistoriker und Luther-Biograph Thomas Kaufmann den Versuch, die Geschichte der frühen Reformation - zwischen Wittenberger Thesenanschlag 1517 und den Bauernkriegen 1525/26 - anhand wichtiger Druckschriften Luthers und einiger anderer Autoren als Mediengeschichte zu erzählen. In gewisser Weise handelt es sich um die kondensierte Fassung seiner grundgelehrten, aber schwer lesbaren dreibändigen Reformationsgeschichte.
Davon ist im neuen Buch nichts zu spüren. Der Autor schreibt flüssig und dient sich gern dem Zeitgeist an, wenn er von "printing natives" als Analogon zu modernen "digital natives" spricht, an die Stelle schlichter Gerüchte und Falschmeldungen "fake news" setzt und von "Events" statt von Ereignissen schreibt. Mit seinem Untertitel "Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte" legt Kaufmann die Messlatte sehr hoch. Die Erwartungshaltung wird noch gesteigert durch seine Einleitung, in der er die Studie unter die Leitfragen stellt, ob die Erfahrungen eines heutigen Medienwandels das Verständnis historischer Prozesse erleichtern und ob umgekehrt die Kenntnis der Vergangenheit "Orientierungshilfen in unserer Gegenwart" geben könnten.
Man kann es den Geschichtsphilosophen überlassen, darüber nachzudenken, ob diese Fragestellungen heuristischen Wert haben. Kaufmann jedenfalls kümmert sich überhaupt nicht darum. Er gibt nicht einmal genauer an, was seine Hauptfigur, den "printing native", eigentlich ausgemacht habe, außer dass seine Lektüre aus gedruckten (statt geschriebenen) Büchern bestand und dass er, wenn er für die Veröffentlichung schrieb, seine (von Hand geschriebenen) Bücher im Druck vervielfältigen ließ. Aber las der "printing native" anders, dachte er anders, schrieb er anders, verhielt er sich anders als frühere "hand writing natives"? Zweifel sind angebracht, denn zumindest der "digital native" erweist sich als Worthülse, wenn betagte Klavierlehrerinnen in Pandemiezeiten per Smartphone und Video-Call unterrichten. Menschen lernen sehr schnell, sich neuer Techniken und Verfahren zu bedienen - ändern sie deswegen ihr Wesen?
Der Versuch, "Generationen" zu konstruieren, hat sich allzu oft als wenig aussagekräftig erwiesen. Aber eine "Generation Luther" aufs Titelblatt zu setzen und dann nicht einmal den Versuch zu unternehmen herauszufinden, ob damit etwas anzufangen sei, also zu suggerieren, dies sei ein von der Forschung allgemein anerkannter Begriff, ist unbefriedigend. Dabei könnte es sich lohnen, diesem Gedankengang zu folgen und zu fragen, wer eigentlich wann angefangen hat, Originaltexte im Druck zu vervielfältigen, also nicht mehr nur vorhandene Buchhandschriften (Bibel, Missale, theologische Kommentare, Gesetzessammlungen, mittelalterliche und antike Klassiker und so weiter) typographisch "umzuschreiben". Man würde dann allerdings nicht auf eine "Generation Luther" stoßen, denn als dieser 1483 geboren wurde, war der Prozess längst im Gange. Kaufmann verweist selbst auf Johannes Reuchlin (Jahrgang 1450) und Erasmus von Rotterdam (geboren um 1466/69), und bei näherem Hinsehen stieße man auf viele andere, die heute vergessen sind. Luther zählte also allenfalls zur zweiten, wenn nicht gar erst zur dritten Generation.
Haben also Luther und Konsorten das vorhandene System wenigstens "entfesselt"? Es ist seit langer Zeit bekannt, dass die Buchproduktion im ersten Reformationsjahrzehnt signifikant anstieg, und zwar nicht nur gemessen an der Zahl der Titel, sondern vor allem an der Höhe der Auflagen. Nie zuvor war so viel und so schnell publiziert worden, nie zuvor hatten Druckschriften so viele Leser - und auf dem Wege des Vorlesens auch Hörer - gefunden. Nie zuvor hatte eine Reformbewegung in so kurzer Zeit so tiefgreifende Änderungen im alltäglichen Leben zahlloser Menschen bewirkt. Insofern könnte man die Frage nach der "Entfesselung" zum wiederholten Male bejahen, und Kaufmann tut dies natürlich auch, wenn er die frühe Reformationsgeschichte samt einigen Vor- und Nachläufern anhand wichtiger Texte in Verbindung mit ihrer Druckgeschichte erzählt.
Indem Luther die religiöse Bildung von Laien förderte und die Befähigung zum theologischen Urteil forderte, so Kaufmann, habe sich das "Priestertum aller Glaubenden" auf kongeniale Weise mit dem Wesen des Buchdrucks verbunden, der Öffentlichkeit erzeugt. Die dem typographischen Kommunikationssystem eingeschriebene Funktion der Herstellung von Öffentlichkeit konvergierte, so die zentrale These, mit dem für Luther entscheidenden Begriff eines "Priestertums aller Glaubenden". Wer schon aus individuellen Gründen Öffentlichkeit suchte und brauchte - in der gefährlichen Lage der Jahre 1520/22 habe Luther mit systematischen Publikationen gezielt seine Überlebenschancen zu vergrößern gesucht, meint Kaufmann -, konnte sich des typographischen Mediensystems viel leichter und effektiver bedienen als seine Gegner, die Öffentlichkeit verabscheuten und fürchteten.
Kaufmann geht noch einen Schritt weiter. Auch die "kirchen- und theologiepolitischen Dissoziationsprozesse", die schon bald zur Spaltung der reformatorischen Bewegung führten, seien "durch das Agieren der notorisch in die Öffentlichkeit des gedruckten Wortes drängenden Printing Natives erzeugt worden". Anders gesagt: Das typographische System schafft eine Öffentlichkeit mit tendenziell unendlich vielen Meinungen, es ist seinem Wesen nach demokratisch orientiert. Differenzierungen sind unvermeidlich, weil vor der Buchdruckerpresse alle gleich sind, jeder sie für seine Zwecke verwenden kann. Für Kaufmann ist Luther selbst Kronzeuge, den er aus einem Streitgespräch im "Schwarzen Bären" in Jena im Jahre 1524 mit den an Karlstadt gerichteten Worten zitiert: "Schreybt wyder mich offentlich und nicht heimlich." Nicht ohne eine gewisse Begeisterung resümiert Kaufmann: "Ohne den Buchdruck wäre Luther, der Printing Native schlechthin, im Leben, im Sterben und auch in seinem vielfältigen Nachleben bedeutungslos, undenkbar, nicht er selbst, nicht 'Luther' gewesen. Luther war eine durch und durch typographische Existenz." Luther als Funktion des typographischen Systems zu betrachten, das sich in der Art des "Weltgeistes" seiner bedient hat, geht aber doch zu weit - und greift ebenso zu kurz, wenn man an Luther den Redner, Prediger und Gesprächspartner, den Brief- und Manuskriptschreiber, den Liederdichter und (mithilfe Cranachs) Bildschöpfer denkt. Seine Fähigkeit, alle verfügbaren Medien der Zeit selbst oder durch Vertraute seinen Zielen dienstbar zu machen, unterscheidet ihn von allen Zeitgenossen. Der Buchdruck war auch für Luther nur Teil einer komplexen Medienwelt.
Hat die "Generation Luther" eine Medienrevolution "entfesselt"? Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn man den Blick weitet und wenigstens von der Erfindung des Buchdrucks um 1450 bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts schaut. Dann entsteht ein etwas anderes Bild. Für die Buchproduktion als Ganzes ergibt sich ein exponentielles Wachstums, das um 1470 einsetzt, fünfzig Jahre später seinen Höhepunkt erreicht, dann aber mit einem Rückgang um etwa 35 Prozent deutlich einbricht, um sich nach einer Phase der Stagnation erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts zu neuen Höhen aufzuschwingen. Statt von einer "Entfesselung" könnte man also auch von einer "Überhitzung" samt anschließender Erholung sprechen - das Bild von der Reformation als "Brandbeschleuniger" gewinnt so eine tiefere Bedeutung. MARK LEHMSTEDT
Thomas Kaufmann: "Die Druckmacher". Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 350 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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