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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Silvio Huonder geht über den Historienkrimi hinaus
Ein Verbrechen aus den Schweizer Bergen bildet den realen Hintergrund für den kompakten Roman. Im Sommer 1821 fand man in der Weihermühle in Bonaduz bei Chur drei brutal zugerichtete Leichen. Der lebenslustige Müller und zwei Mägde, beide schwanger, waren mit Hieb- und Stichwunden regelrecht hingerichtet worden. Der Hauptverdächtige, ein umherziehender Handwerker aus Tirol, wurde schnell gefasst. Unklar blieb die Rolle seiner Komplizen, zweier Brüder aus der Umgebung: Waren sie direkt an der Tat beteiligt, hatten sie den Dreifachmord nur schweigend gebilligt? Die Fragen sind bis heute offen. Der geständige Tiroler nahm sich das Leben; die Brüder, beide zu lebenslanger Haft verurteilt, beteuerten ihre Unschuld. Der Leichnam des Selbstmörders aber vermoderte als Zeichen der Abschreckung am Galgen.
So erfuhr man es aus Zeitungsartikeln und Moritaten des neunzehnten Jahrhunderts, und so kann man es bis heute in den Gerichtsakten nachlesen. Silvio Huonder, der aus Chur stammt und seit Jahren in Brandenburg lebt, hat die bekannten Fakten sorgsam studiert und einen Großteil der Personen in seinen Roman übernommen. Entstanden ist daraus freilich weder die detailreiche Chronik eines Verbrechens noch einer der modischen historischen Kriminalromane, die vor wechselnder Kulisse die immergleichen Intrigen und Verfolgungsjagden inszenieren.
Dem erfahrenen Erzähler Huonder geht es um mehr als vordergründige Spannung. In dichten Beschreibungen entwirft er ein facettenreiches Sittengemälde aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. In die Städte und Dörfer Graubündens dringen zwar viele Nachrichten aus der großen Welt - Napoleon ist gerade gestorben, der Mord an dem Dichter Kotzebue wird diskutiert, liberale Denker fliehen vor den Karlsbader Beschlüssen in die Schweiz; die Obrigkeit hat aber andere Sorgen. Bedrückende Armut herrscht in den Tälern, vagabundierende Schausteller, Diebsbanden und Scharlatane verunsichern die Bevölkerung, in den Amtsstuben regieren Willkür und Missbrauch.
Der Churer Verhörrichter Johann Heinrich von Mont, auch er eine Figur der realen Geschichte, versucht angestrengt, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Huonder zeichnet den ehrgeizigen Baron, der aus einer angesehenen Bündner Familie stammt, als komplexe Person: Während ihn nachts die Erinnerungen an ein traumatisches Erlebnis seiner Kindheit heimsuchen und er fasziniert erotische Phantasien seines Landsmanns, des Malers Johann Heinrich Füssli, betrachtet, wird er tagsüber zum rigorosen Vorkämpfer für einen modernen Polizeistaat. Trotzig hält er an seinem Glauben an das Recht fest: "Die Justiz darf sich nicht biegen lassen, darf nicht morsch oder löcherig werden wie ein verfaulender Baum, nein, stark und mächtig und kraftvoll muss sie sein."
Dem Baron stehen zwei schlichte und zupackende junge Landjäger zur Seite, die eigentlichen Identifikationsfiguren des Romans. Als Söldner haben die Burschen im Norden in der königlich-niederländischen Armee einen ruhigen Dienst geleistet. Kaum in die bündnerische Heimat zurückgekehrt, geraten sie von einem aufregenden Abenteuer ins nächste. Ihnen gelingt es, den Bonaduzer Mühlen-Mörder in den Bergen aufzuspüren. Der bodenständigen Perspektive dieser wenig gebildeten Landjäger ist die Schilderung zahlreicher kulturhistorischer Details zu verdanken - was etwa alles beim Beschlagen von Pferdehufen zu beachten ist und wie man es vermeidet, sich beim Reiten einen wunden Hintern zu holen.
Neben diesen praktischen Problemen dreht sich der Roman vor allem um die inneren Widersprüche einer rigorosen, sich als aufgeklärt verstehenden Sozialpolitik, die in vielen Ländern Europas, nicht nur im helvetischen Graubünden, zu harten Zwangsmaßnahmen führte, obwohl ihr erklärtes Ziel doch die Beförderung von Sittlichkeit und Humanität war. Es ist keine geringe Leistung, dass Huonder die Kriminalhandlung mit solch weitreichenden rechtspolitischen Fragen verbindet, ohne je das Lesevergnügen zu beeinträchtigen.
SABINE DOERING.
Silvio Huonder: "Die Dunkelheit in den Bergen". Roman.
Verlag Nagel & Kimche, München 2012. 224 S., geb., 18,90 [Euro].
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