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»Ethnische Säuberungen« wurden nicht nur von Diktatoren, sondern auch von demokratisch gewählten Politikern veranlasst. Sie sind vor allem eine Folge des modernen Nationalismus und der Nationalstaatsbildung im 19. und 20. Jahrhundert. Dieses Buch bietet grundlegende Einsichten in eines der dunkelsten Kapitel des modernen Europa. Es befasst sich mit den Voraussetzungen »ethnischer Säuberungen« ebenso wie mit den Perioden und den verantwortlichen Akteuren von Flucht, Vertreibung, Zwangsaussiedlung und Deportation. Dabei beschränkt es sich nicht auf Osteuropa, sondern beleuchtet auch die Rolle…mehr

Produktbeschreibung
»Ethnische Säuberungen« wurden nicht nur von Diktatoren, sondern auch von demokratisch gewählten Politikern veranlasst. Sie sind vor allem eine Folge des modernen Nationalismus und der Nationalstaatsbildung im 19. und 20. Jahrhundert. Dieses Buch bietet grundlegende Einsichten in eines der dunkelsten Kapitel des modernen Europa. Es befasst sich mit den Voraussetzungen »ethnischer Säuberungen« ebenso wie mit den Perioden und den verantwortlichen Akteuren von Flucht, Vertreibung, Zwangsaussiedlung und Deportation. Dabei beschränkt es sich nicht auf Osteuropa, sondern beleuchtet auch die Rolle der westlichen Großmächte. Der Autor spannt einen weiten thematischen Bogen von den Balkankriegen am Vorabend des Ersten Weltkriegs über die »ethnischen Säuberungen« während und infolge des Zweiten Weltkrieges bis zu den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien und im Kaukasus der 1990er Jahre.
Autorenporträt
Prof. Dr. Philipp Ther lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er beschäftigt sich mit Transformationsprozessen, der Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2012

Bahnbrechende Forschung
Philipp Thers Geschichte der "ethnischen Säuberungen" im Europa des 20. Jahrhunderts

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte der ethnischen Säuberungen. Unter dieser Variante des organisierten Terrors verstehen die Vereinten Nationen oder der Internationale Gerichtshof in Den Haag die geplante, mit Gewalt verbundene und in der Regel dauerhafte Zwangsaussiedlung einer durch Ethnizität oder Nationalität definierten Gruppe. Mindestens 30 Millionen Menschen sind während des vergangenen Jahrhunderts alleine in Europa Opfer ethnischer Säuberungen geworden. So sagen es die offiziellen Register. Grenzfälle wie zum Beispiel die Millionen Deportierter des Ersten Weltkrieges oder die Migranten nach 1918 mitgerechnet, liegt die Zahl wesentlich höher.

Zu diesem Ergebnis kommt Philipp Ther in einer bahnbrechenden Synopse. Für den Wiener Historiker ist die "ethnische" Säuberung, wie man das Phänomen seit der Endphase des Kalten Krieges nennt, weder ein Zivilisationsbruch noch eine Erfindung totalitärer Systeme, sondern "ein Kind des Nationalstaats und damit ein zentraler Bestandteil der europäischen Moderne": Das Ziel dieser Maßnahme war in aller Regel "die Homogenisierung von national definierten Staaten". Anhand einer beeindruckenden Fülle von Fakten und Bilanzen unterscheidet er vier Perioden ethnischer Säuberungen, deren erste mit den Bevölkerungsverschiebungen während der Balkankriege der Jahre 1912/13 begann und mit der Umsetzung des Abkommens von Lausanne ihren Abschluss fand: An den beschaulichen Gestaden des Genfersees wurde im Sommer 1923 nicht weniger als die fast vollständige ethnische Säuberung Griechenlands und der Türkei, also "zweier kompletter Staaten", beschlossen - und zugleich ein Präzedenzfall geschaffen. Fortan galt diese "rationale und finale Lösung" des Minderheitenproblems als legitimes und akzeptiertes Mittel nationaler wie internationaler Bevölkerungspolitik.

Welche verheerenden Konsequenzen das zeitigte, offenbaren die beiden ineinander übergehenden Perioden ethnischer Säuberungen um die Jahrhundertmitte: Wenn man die industrielle Massenvernichtung des europäischen Judentums nicht mit einbezieht, weil sie "ein exzeptionelles Menschheitsverbrechen der europäischen Geschichte" bildet, und die zumindest zeitweilig umgesiedelten Zwangsarbeiter nicht einrechnet, ist für die Zeit zwischen dem Münchener Abkommen des Herbstes 1938 und dem Zusammenbruch des deutschen Herrschaftsbereichs sechs Jahre darauf von mindestens 6,4 Millionen Betroffenen auszugehen.

Diese bis dahin "präzedenzlose" Zahl wird aber noch deutlich von jener in den Schatten gestellt, die auf das Konto einer "sauberen Nachkriegsordnung" geht. Weil die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und Großbritannien in Ostmitteleuropa "um jeden Preis homogene Nationalstaaten schaffen" wollten, wurden zwischen 1944 und 1948 "neben 12 Millionen Deutschen drei Millionen Polen, Ukrainer, Belorussen und Ungarn auf der Karte Europas hin- und hergeschoben". Damit wurde das Nationalitätenproblem zwar nicht gelöst, aber doch für einige Jahrzehnte auf Eis gelegt. Niemand hatte ein Interesse daran, das im Sommer 1945 auf der Potsdamer Konferenz geschnürte Paket zu öffnen und damit womöglich eine nicht mehr kontrollierbare Entwicklung in Gang zu setzen - die Architekten dieser Ordnung nicht, die ethnisch weitgehend "gesäuberten" Staaten nicht und die Opfer, wie die Deutschen, auch nicht. Jedenfalls nicht mehr seit den sechziger Jahren, als in der Bundesrepublik die "Einstellungen zum vermeintlich ,deutschen Osten' und den Vertriebenenverbänden" einer Wandlung unterzogen und der "Revisionismus der Zwischenkriegszeit" endgültig zu den Akten gelegt wurde.

Man mag diese Einschätzung teilen oder auch nicht. Sicher ist, dass die ethnische Säuberung nach dem Untergang der alten Weltordnung, von erschreckenden Ausnahmen wie im ehemaligen Jugoslawien oder in der Kaukasusregion abgesehen, nicht wieder auf die Tagesordnung der europäischen Politik gekommen ist, im Gegenteil. Anders als während der vorausgegangen Perioden strebte die Staatengemeinschaft in dieser vierten während der neunziger Jahre eine "Remigration der Flüchtlinge" an. Allerdings ist das nicht unbedingt eine ermutigende Perspektive. Denn der "internationale Konsens gegen ethnische Säuberungen" könnte zur Folge haben, "dass unerwünschte Minderheiten nicht mehr in Nachbarstaaten vertrieben, sondern im Extremfall gleich an Ort und Stelle umgebracht werden". Die Konflikte in afrikanischen Krisengebieten wie Darfur "deuten in diese Richtung. Das Jahrhundert der ethnischen Säuberungen könnte dabei global von einem Zeitalter der Genozide abgelöst werden."

Ther lässt es bei diesem Ausblick. Weder die Zukunft noch die außereuropäische Welt sind seine Themen. Ist das im Falle künftiger Formen und Dimensionen organisierten Terrors nachvollziehbar, weil sich der Historiker nicht auf ungesichertes Terrain begeben will, so hätte man sich doch gerade bei diesem Thema nicht nur eine Fallstudie zu Pakistan und Indien, sondern den systematisch vergleichenden Blick über Europa hinaus gewünscht. Der naheliegende Einwand, dass der Zugang zu den entsprechenden Quellen schwierig, wenn nicht unmöglich sei, greift in diesem Falle nicht, weil Ther auch bei seiner auf Europa konzentrierten Analyse auf die Quellenarbeit weitgehend verzichtet.

Diese Entscheidung ist nicht unproblematisch, aber angesichts der Dimensionen des Themas nachvollziehbar. Zudem wiegt die Fülle tragfähiger, weiterführender Ergebnisse, mit denen sein Buch aufwartet, das Manko bescheidener Quellenarbeit auf. Denn Philipp Ther legt nicht nur eine vergleichende Analyse ethnischer Säuberungen im modernen Europa vor, ohne die nationalen Besonderheiten zu übersehen oder einzuebnen, sondern er wagt sich auch mit Erfolg an eine "historische Typologie". Dem bei aller analytischen Dichte gut lesbaren Buch ist eine breite Rezeption zu wünschen.

GREGOR SCHÖLLGEN

Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. "Ethnische Säuberungen" im modernen Europa. Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2011. 304 S. 39,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großem Interesse hat der Historiker Gregor Schöllgen dieses Buch seines Wiener Kollegen Philipp Ther gelesen. Ther bilanziert darin die Geschichte der ethnischens Säuberungen im 20. Jahrhundert, und diese zusammenfassende Leistung findet Schöllgen "bahnbrechend". Ther kommt zu dem Ergebnis, dass im vorigen Jahrhundert mindestens 30 Millionen Menschen vertrieben wurden, der weitaus größere Teil nach dem Zweiten Weltkrieg. Für Ther sind, wie Schöllgen darstellt, die ethnischen Vertreibungen nicht einer totalitären Herrschaft geschuldet, sondern dem Verlangen des Nationalstaats nach ehtnischer und territorialer Kongruenz. Nicht ganz einverstanden ist Schöllgen mit dieser Einschätzung, zweifelhaft findet er auch, dass Ther den mittlerweile gefundenen internationalen Konsens gegen die Vertreibungen nicht nur positiv bewertet. Dieser berge demnach die Gefahr, dass ethnische Minderheiten nicht mehr vertrieben, sondern ermordet werden. Trotzdem empfiehlt er das Buch wegen seiner kompilatorischen und analytischen Dichte.

© Perlentaucher Medien GmbH