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© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Illusionen über Kulturaustausch sind grenzenlos: Ulla Lenzes kunstvoller Roman "Die endlose Stadt"
Reisen und schreiben, Fremdheit erfahren und sich durch Literatur und Reflexion aneignen (und den Widerspruch aushalten) - das ist für Ulla Lenze seit jeher eins. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr unterwegs, vorzugsweise in Indien, beschreibt sie in ihren Romanen mit viel Klugheit und Feingefühl die interkulturellen Konflikte und seelischen Krisen, die westliche Besucher abseits touristischer Routen, Routinen und Reflexe erleben. Ulla Lenze war schon Stadtschreiberin in Damaskus, Writer in Residence in Istanbul, Goethe-Stipendiatin in Bombay und begleitete Außenminister Steinmeier bei seinem letzten Indien-Besuch. Aber eigentlich ist ihr die Rolle als inoffizielle Kulturbeauftragte nicht ganz geheuer, wie ihr vierter Roman jetzt zeigt. Fuhren bisher junge, hochsensible Frauen, angewidert von der europäischen Konsum- und Therapiekultur und bereit für umwälzende Erfahrungen in der Fremde, nach Indien, um ihren verstörten Bruder zu begleiten ("Bruder und Schwester"), Utopien in einer Kommune auszuprobieren ("Archanu") oder den Tod ihres Vaters ("Der kleine Rest des Todes") zu verarbeiten, so setzt Ulla Lenze sich nun erstmals explizit mit den Scham- und Schuldgefühlen von Kunststipendiaten und Expats der nachdenklicheren Sorte auseinander.
Kulturell, politisch und moralisch sensible Künstler und Schriftsteller schauen gern leicht verächtlich auf Unternehmer, Politiker und Journalisten herab, die im Ausland nur ihren Geschäften nachgehen und dabei einen empörenden Mangel an Demut und Neugier an den Tag legen. Kulturaustausch, Handel und Politik sind verschiedene Sphären der Begegnung, aber man trifft sich fast zwangsläufig auf Empfängen oder in Luxushotels und ist durch Gefälligkeiten, Beziehungen und gemeinsame Erfahrungen verbunden.
Für einen Döner-Brater in Istanbul oder einen Taxifahrer in Bombay gibt es keinen großen Unterschied zwischen einem Geschäftsmann aus Hannover und einer prekär beschäftigten Fotografin aus Berlin: Beide sind privilegiert, nur auf Zeit da und als Kunden interessant. Holle Schulz hadert entsprechend mit sich und ihrer Rolle. Sie weigert sich, Menschen zu fotografieren, um nicht mit romantischen Elendsbildern und marktkonformer Aktionskunst schuldig zu werden; sie meidet Partys und Vernissagen, obwohl ihr Smalltalk ganz guttäte, ganz zu schweigen von einem geregelten Einkommen. Holle ist entwurzelt, einsam und verloren zwischen zwei Männern und zwei Städten und entsprechend empfänglich für unmoralische Angebote. Als der reiche Bauunternehmer und Kunstsammler Wanka ihr drei Bilder für fünfzehntausend Euro abkauft und anbietet, ihr einen Studienaufenthalt in Bombay zu finanzieren, ist sie geschmeichelt. Natürlich ist der Handel anrüchig: Wankas Geschäft ist die Gentrifizierung, der Abriss von Slums, und kritische Kunst ist für ihn Dekoration und Investition. Aber er ist kein teuflischer Versucher, sondern charmant, souverän und ein kluger Gesprächspartner. Ganz im Gegensatz zu Holles Istanbuler Freund Celal: Der "schönste Türke der Welt" und Inhaber des "Döner Paradise" ist melodramatisch, drollig, dröhnend viril und vergöttert sein "artist baby", aber sein naiver Besitzerstolz, sein "anatolisches Wüstlingselement", seine Mafiakumpel und seine Verwandtschaft können ziemlich nerven. Celal ist für Holle eine exotische Trophäe, Wanka eine stete Herausforderung, aber im Grunde will sie sich nur fallenlassen.
Die Journalistin Theresa ist so etwas wie ihre Doppelgängerin: Sie lebt in einer Wohnung in Bombay, die Wanka gehört, und übergibt dem Unternehmer die Bilder, die Holle nicht rausrücken will. Die Frauen wissen: "Kein Text wird jemals dem gerecht, was wirklich ist", keine Kunst an der Grenze zwischen Orient und Okzident kann unschuldig sein. Und doch verfallen alle der "Illusion des Bescheidwissens", anstatt ihr Nichtwissen und Ausgeliefertsein zu akzeptieren.
Die Künstlerin und die Journalistin leiden an ähnlichen Aporien, aber das macht sie noch nicht zu Verbündeten, im Gegenteil. Theresa instrumentalisiert Holle als Tür- und Augenöffnerin und wird umgekehrt als Waffe in Holles Liebeskrieg benutzt. Theresas Reportagen über Nomaden, die in Hochhäusern zelten, sollen Wankas Bauwahn diskreditieren, aber der gewiefte Geschäftsmann macht aus der hässlichen Wirklichkeit eine Kunstinstallation und aus dem arglosen Celal einen Komplizen. Am Ende irrt Holle, von allen guten Geistern und Männern verlassen, ziel- und obdachlos durch Istanbul: "Jede Stadt ruft eine Gestalt deiner selbst wach", erst recht die brodelnden Megastädte des einundzwanzigsten Jahrhunderts, in denen sich alle westlichen Selbstgewissheiten, rationalen Strategien und Identitäten auflösen. Was für Theresa ein Spiel, für Wanka eine Geldanlage und für Celal ein Abenteuer ist, ist für Holle "eine Lebensweise, ein Schicksal, eine Art Religion".
"Die unendliche Stadt" ist ein starkes Stück Prosa, aber nur, solange Ulla Lenze quasi absichtslos den Alltag in Bombay und Istanbul beschreibt. Die Straßenszenen, Stimmungen und Porträts sind genau beobachtet und kunstvoll verdichtet. Aber weil die Figuren über Bedingungen, Möglichkeiten und Widersprüche ihres Tuns reflektieren, erinnert der Roman manchmal an Stipendiatenprosa: Die essayistischen Betrachtungen über Kompromisse, Selbstzweifel und Schuld des Künstlers in einer global entgrenzten Welt werden durch die sprunghafte Erzählweise, eine bisweilen schematische Konstruktion und schlaue Bemerkungen über die "Affirmation des eigenen maskulinen Selbstbilds" oder die "Analyse der urbanen Determiniertheitsdichte" nicht eben flüssiger lesbar. Holle fragt sich, "ob Orte wie Mumbai, wo das Überleben Zufall war, nicht auch die Grenzen von Kunst ans Licht brachten. War Kunst sozialkritisch, war sie keine Kunst mehr, sondern Botschaft. War sie autark, wurde sie höhnisch." Da möchte man dann fast ihrem Widersacher Wanka zustimmen: "Wenn Künstler über ihre Kunst reden, sollte man lieber weghören."
MARTIN HALTER
Ulla Lenze: "Die unendliche Stadt". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2015. 319 S., geb., 19,90 [Euro].
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