Mit hellsichtiger Schärfe erzählt Marion Messina vom gesellschaftlichen Pulverfass, auf dem wir alle sitzen. Die alleinerziehende Lehrerin Sabrina stößt einen ihrer Schüler gegen die Wand. Und fragt sich später, wohin das System sie getrieben hat. Der parismüde Literaturwissenschaftler Paul gibt die Hoffnung auf einen prekären Job an der Uni auf und wird Fleischer in einem Großsupermarkt in der Ardèche. Seinen Freund Aurélien, Kastanienbauer in siebter Generation, zwingen die staatlichen Auflagen indes langsam in die Knie. Als der öffentliche Selbstmord eines Studenten zum Symbol aller Missstände wird und die Armee auf die protestierenden Massen schießt, stehen alle drei vor der Frage: In welcher Zukunft wollen wir leben - und zu welchem Preis?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2024Frankreich kocht über
Der Griff von Darwins unsichtbarer Hand soll gelockert werden: Marion Messinas Roman "Die Entblößten" zeichnet ein Land im Aufruhr
Ein gutes Gespür kann man Marion Messina nicht absprechen. Weniger fürs Timing, denn dass die deutsche Übersetzung ihres zweiten Romans ausgerechnet in einer Zeit erscheint, in der Frankreich so gründlich durchgeschüttelt wird wie in dieser, ist zum guten Teil dem Zufall geschuldet. Doch ein gutes Gespür für Unzufriedenheit und Wut vieler Franzosen, für das Gären im Grund, das sich in den vergangenen Wochen vielfach Bahn brach, hat die junge Autorin unbedingt bewiesen.
Hatte man ihr Buch im vergangenen Herbst, als es in Frankreich erschien, noch als Zukunftsvision lesen können, als einen "Blick auf unsere möglichen Leben von morgen", wie es ein französischer Journalist formulierte, so ist man nun versucht, es als literarische Analyse der gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen zu durchforsten, die Frankreich gegenwärtig erlebt. Und bei dieser Suche wird man fündig. Denn der Auseinandersetzung mit dem, was im Buch als "herrschendes System" bezeichnet und auf mehreren Ebenen ausbuchstabiert wird, ordnet Marion Messina sowohl Handlung wie auch Figurenzeichnung unter. Es beginnt mit der online live übertragenen Selbstverbrennung von Enzo Brunet, einem mittellosen Studenten, der sich am helllichten Tag mitten in Paris anzündet - aus Verzweiflung, wie seine Mutter im Fernsehen berichtet, wobei sie die Schuldigen an der Misere ihres Sohnes vor der Kamera beim Namen nennt. Sie haben ihren Sohn vergewaltigt und sind alle Kinder einflussreicher Politiker oder Unternehmer, jedenfalls Angehörige einer Klasse, zu der die Brunets nicht gehören und nie gehören werden.
Das aber ist entscheidend bei Marion Messina, deren Figuren fast alle Repräsentanten eines Milieus sind, das ihr jeweiliges Schicksal bestimmt. Das gilt für Enzo Brunet, dem Geld und Zeit fehlen, um das erste Jahr des Medizinstudiums zu überstehen, wie für Sabrina, die aus einer algerischen Familie stammende alleinerziehende Lehrerin, die in einem Moment des Kontrollverlusts einen Schüler gegen die Wand stößt. Es gilt auch für Aurélien, den Kastanienbauern in fünfter Generation, der mit seinem uralten Hof in der Auvergne keine Chance hat, gegen das Kartell von Konzernen, das die Preise diktiert, zu bestehen. Stets geht es Messina darum, zu zeigen, wie sich der Einzelne in der hochindividualisierten, kapitalistischen Gesellschaft abmüht und seine Kräfte dabei ohne Aussicht auf Erfolg verschleißt.
Dass sie dieses Ansinnen so konsequent verfolgt, ist insofern schade, als sie ihren Figuren dadurch die Möglichkeit nimmt, ein Eigenleben zu führen. Das Zeug dazu hätten sie aber allemal. Messinas Porträts sind scharf, präzise und unerbittlich und erinnern in ihrem Verzicht auf Floskeln und Nachsicht an ihren besten Stellen durchaus an Nicolas Mathieu und Virginie Despentes, die zwei großen Autoren der gesellschaftlichen Landvermessung in Frankreich. Auch bei Marion Messina ist Frankreich ein Land ohne Mitte, aber voller randständiger Existenzen, deren trostlose Aussichten sie, je nach Temperament, defätistisch oder wütend haben werden lassen. Über diese Wut hätte man gerne mehr gelesen. Weil in "Die Entblößten" aber so gut wie alle Figuren im Dienst der Sozialkritik stehen, sind sie schnell überzeichnet, mit Klischees überfrachtet und zu Karikaturen ihrer selbst verzerrt.
Am meisten trifft das sicher auf "die Präsidentin" zu, die im Buch keinen Namen hat, aber wie eine Mischung aus Emmanuel Macron und Marine Le Pen im Élysée-Palast thront, wo sie kopfschüttelnd die Nachrichten von den Aufständen entgegennimmt, die sich nach der Selbstverbrennung des jungen Enzo Brunet im ganzen Land ausbreiten. Die Präsidentin ist, obwohl sie allzu menschlich Cola mit Whisky trinkt, die Verkörperung all dessen, was schlecht ist in Frankreich (und darüber hinaus): Im vollen Bewusstsein der eigenen Brillanz tritt sie für eine pervertierte Form von Liberalisierung, Privatisierung und Selbstoptimierung ein. "Sie und ihresgleichen stellen die ersten Vertreter einer höher entwickelten Art dar - die anderen sind die Schimpansen der Zukunft. So wie man einen Baum auslichtet, wie man Unkraut ausreißt, wie die Gebärmutter die Embryonen ausstößt, die nicht lebensfähig sind, so entledigt sich die Gesellschaft derer, die mit der Entwicklung nicht Schritt halten. Sie ist nichts anderes als Darwins unsichtbare Hand." Diese bösen pointierten Spitzen mögen unterhaltsam sein. Aber sie laufen vollkommen ins Leere, weil Marion Messina jene Genauigkeit, die ihre Figurenzeichnung so unbestechlich macht, beim Blick auf die wirtschaftlichen, politischen und historischen Dimensionen, in denen ihr Personal lebt, vermissen lässt. Diese Bequemlichkeit aber lässt die Sozialkritik zu einem unguten Raunen gerinnen. Und das schmälert die Wirkkraft auch ihrer Erzählung. LENA BOPP
Marion Messina: "Die Entblößten". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Hanser Verlag,
München 2024.
171 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Der Griff von Darwins unsichtbarer Hand soll gelockert werden: Marion Messinas Roman "Die Entblößten" zeichnet ein Land im Aufruhr
Ein gutes Gespür kann man Marion Messina nicht absprechen. Weniger fürs Timing, denn dass die deutsche Übersetzung ihres zweiten Romans ausgerechnet in einer Zeit erscheint, in der Frankreich so gründlich durchgeschüttelt wird wie in dieser, ist zum guten Teil dem Zufall geschuldet. Doch ein gutes Gespür für Unzufriedenheit und Wut vieler Franzosen, für das Gären im Grund, das sich in den vergangenen Wochen vielfach Bahn brach, hat die junge Autorin unbedingt bewiesen.
Hatte man ihr Buch im vergangenen Herbst, als es in Frankreich erschien, noch als Zukunftsvision lesen können, als einen "Blick auf unsere möglichen Leben von morgen", wie es ein französischer Journalist formulierte, so ist man nun versucht, es als literarische Analyse der gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen zu durchforsten, die Frankreich gegenwärtig erlebt. Und bei dieser Suche wird man fündig. Denn der Auseinandersetzung mit dem, was im Buch als "herrschendes System" bezeichnet und auf mehreren Ebenen ausbuchstabiert wird, ordnet Marion Messina sowohl Handlung wie auch Figurenzeichnung unter. Es beginnt mit der online live übertragenen Selbstverbrennung von Enzo Brunet, einem mittellosen Studenten, der sich am helllichten Tag mitten in Paris anzündet - aus Verzweiflung, wie seine Mutter im Fernsehen berichtet, wobei sie die Schuldigen an der Misere ihres Sohnes vor der Kamera beim Namen nennt. Sie haben ihren Sohn vergewaltigt und sind alle Kinder einflussreicher Politiker oder Unternehmer, jedenfalls Angehörige einer Klasse, zu der die Brunets nicht gehören und nie gehören werden.
Das aber ist entscheidend bei Marion Messina, deren Figuren fast alle Repräsentanten eines Milieus sind, das ihr jeweiliges Schicksal bestimmt. Das gilt für Enzo Brunet, dem Geld und Zeit fehlen, um das erste Jahr des Medizinstudiums zu überstehen, wie für Sabrina, die aus einer algerischen Familie stammende alleinerziehende Lehrerin, die in einem Moment des Kontrollverlusts einen Schüler gegen die Wand stößt. Es gilt auch für Aurélien, den Kastanienbauern in fünfter Generation, der mit seinem uralten Hof in der Auvergne keine Chance hat, gegen das Kartell von Konzernen, das die Preise diktiert, zu bestehen. Stets geht es Messina darum, zu zeigen, wie sich der Einzelne in der hochindividualisierten, kapitalistischen Gesellschaft abmüht und seine Kräfte dabei ohne Aussicht auf Erfolg verschleißt.
Dass sie dieses Ansinnen so konsequent verfolgt, ist insofern schade, als sie ihren Figuren dadurch die Möglichkeit nimmt, ein Eigenleben zu führen. Das Zeug dazu hätten sie aber allemal. Messinas Porträts sind scharf, präzise und unerbittlich und erinnern in ihrem Verzicht auf Floskeln und Nachsicht an ihren besten Stellen durchaus an Nicolas Mathieu und Virginie Despentes, die zwei großen Autoren der gesellschaftlichen Landvermessung in Frankreich. Auch bei Marion Messina ist Frankreich ein Land ohne Mitte, aber voller randständiger Existenzen, deren trostlose Aussichten sie, je nach Temperament, defätistisch oder wütend haben werden lassen. Über diese Wut hätte man gerne mehr gelesen. Weil in "Die Entblößten" aber so gut wie alle Figuren im Dienst der Sozialkritik stehen, sind sie schnell überzeichnet, mit Klischees überfrachtet und zu Karikaturen ihrer selbst verzerrt.
Am meisten trifft das sicher auf "die Präsidentin" zu, die im Buch keinen Namen hat, aber wie eine Mischung aus Emmanuel Macron und Marine Le Pen im Élysée-Palast thront, wo sie kopfschüttelnd die Nachrichten von den Aufständen entgegennimmt, die sich nach der Selbstverbrennung des jungen Enzo Brunet im ganzen Land ausbreiten. Die Präsidentin ist, obwohl sie allzu menschlich Cola mit Whisky trinkt, die Verkörperung all dessen, was schlecht ist in Frankreich (und darüber hinaus): Im vollen Bewusstsein der eigenen Brillanz tritt sie für eine pervertierte Form von Liberalisierung, Privatisierung und Selbstoptimierung ein. "Sie und ihresgleichen stellen die ersten Vertreter einer höher entwickelten Art dar - die anderen sind die Schimpansen der Zukunft. So wie man einen Baum auslichtet, wie man Unkraut ausreißt, wie die Gebärmutter die Embryonen ausstößt, die nicht lebensfähig sind, so entledigt sich die Gesellschaft derer, die mit der Entwicklung nicht Schritt halten. Sie ist nichts anderes als Darwins unsichtbare Hand." Diese bösen pointierten Spitzen mögen unterhaltsam sein. Aber sie laufen vollkommen ins Leere, weil Marion Messina jene Genauigkeit, die ihre Figurenzeichnung so unbestechlich macht, beim Blick auf die wirtschaftlichen, politischen und historischen Dimensionen, in denen ihr Personal lebt, vermissen lässt. Diese Bequemlichkeit aber lässt die Sozialkritik zu einem unguten Raunen gerinnen. Und das schmälert die Wirkkraft auch ihrer Erzählung. LENA BOPP
Marion Messina: "Die Entblößten". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Hanser Verlag,
München 2024.
171 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Für Kritiker Stefan Michalzik hat Marion Messina den plötzlichen Ruhm und den Vergleich mit Michel Houellebecq verdient. Denn nach ihrem Überraschungserfolg mit dem Debütroman "Fehlstart" von 2017 demonstriere die Autorin nun auch in ihrem zweiten Buch ihr Talent zur effektvollen Zuspitzung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse in Frankreich: Im Setting einer sehr nahen Zukunft werde die Schraube des zunehmenden Rechtspopulismus um eine Windung "weitergedreht", so Michalzik, wenn unter einer rechten Präsidentin die Wirtschaft zwar blüht, die Schicht der Wenigerverdienenden jedoch leidet. Davon erzählt Messina durch drei Figurenperspektiven und kommt dabei einer Mentalität "fernab des urban-akademischen Milieus" sehr nahe, lobt Michalzik. Einzig manche Passagen stoßen ihm als etwas "papieren", auf, hier merkt er Messina den journalistischen Hintergrund an. Dass die Schilderung der katastrophalen Situation an anderer Stelle wiederum "kabarettistische" Züge annehme und der Kritiker ein verstecktes "Pamphlet" vermutet, scheint für ihn letztlich dem Roman und seinem Wahrheitsgehalt keinen Abbruch zu tun - er bezeichnet ihn abschließend als insgesamt "sehr gelungen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Messinas Porträts sind scharf, präzise und unerbittlich." Lena Bopp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.24
"Die einzelnen, mit wenigen Strichen aussagekräftig skizzierten Porträts verwachsen zopfartig ineinander, bis ein Gesellschaftsbild entsteht, das düster ist, voller Klassenkampf - und gerade in diesen Monaten erschreckend realistisch." Deborah von Wartburg, Kulturtipp CH, 27.08.24
"[Marion Messina] beherrscht den literarischen Kassandraruf wie wenige ihrer Generation, und sie beweist wie schon in ihrem ersten Buch 'Fehlstart', dass sie nicht nur eine moralische Haltung hat, sondern auch verdammt gut schreiben kann." Romy Straßenburg, Der Freitag, 23.08.24
"Klug, bissig, gelegentlich überzeichnet. ... Messina kann brillant beschreiben." Ulrike Baureithel, Der Tagesspiegel Online, 23.08.24
"Die einzelnen, mit wenigen Strichen aussagekräftig skizzierten Porträts verwachsen zopfartig ineinander, bis ein Gesellschaftsbild entsteht, das düster ist, voller Klassenkampf - und gerade in diesen Monaten erschreckend realistisch." Deborah von Wartburg, Kulturtipp CH, 27.08.24
"[Marion Messina] beherrscht den literarischen Kassandraruf wie wenige ihrer Generation, und sie beweist wie schon in ihrem ersten Buch 'Fehlstart', dass sie nicht nur eine moralische Haltung hat, sondern auch verdammt gut schreiben kann." Romy Straßenburg, Der Freitag, 23.08.24
"Klug, bissig, gelegentlich überzeichnet. ... Messina kann brillant beschreiben." Ulrike Baureithel, Der Tagesspiegel Online, 23.08.24