»Meine Mutter war eine Naturgewalt.« Violaine Huisman erzählt die Geschichte ihrer manisch-depressiven Mutter - und schreibt grandiose Literatur. Ihr Fahrstil war sportlich, mit quietschenden Reifen fuhr sie über jede rote Ampel der Champs-Elysées, in der linken Hand die Zigarette, in der rechten das Steuer, auf dem Rücksitz die beiden Töchter. Catherine konnte ausrasten, ihre Kinder unflätig beschimpfen, um sie gleich danach in Liebe zu ertränken. Die kleine Violaine und ihre Schwester lieben die Mutter abgöttisch, aber sie ist krank, sie ist manisch-depressiv. Mit gnadenloser Aufrichtigkeit und großer Wärme erinnert sich Violaine Huisman an ihre schöne, witzige und widersprüchliche Mutter. Ein temporeicher, aufwühlender Roman über eine sehr unkonventionelle Familie.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2019Wo die Wärme nicht reicht, macht diese Frau Feuer
Nicht nur das Krankheitsbild ist komplex: Violaine Huisman schreibt romanhaft vom Leben und Sterben ihrer Mutter
Auch für eine Pariserin ist der Fahrstil extrem: "Immer und überall zu spät, fuhr sie manchmal über den Bürgersteig, wenn es nicht voranging - eine bewährte Methode, Staus zu umgehen. Mit der Zigarette in der linken Hand beschimpfte sie die Gaffer. Aus dem Weg! Wir haben es eilig!" Wenn Ordnungshüter einschreiten, müssen die zwei Töchter schwere Krankheit vortäuschen. Größere Wirkung entfaltet allerdings die "Charmenummer" der Mutter, einer ehemaligen Balletttänzerin, die Polizisten mühelos um den Finger wickelt. Was nach den nonchalanten Manieren einer Pariser Großbürgerin klingt, sind in Wahrheit Züge einer Manisch-Depressiven oder, um die Liste komplett aufzuzählen, einer Frau, die an folgenden Krankheitsbildern leidet: "Schizophrenie, Mythomanie, Kleptomanie, Alkoholismus, abwechselnd Depression und Hysterie."
Die Person, um die es geht, ist Catherine Cremnitz, 1947 geboren: Ihre Tochter Violaine Huisman, Jahrgang 1979, Lektorin und Übersetzerin, die seit 1998 in New York lebt, hat ihr "Die Entflohene" gewidmet. Es handelt sich um einen Roman, der nur insofern einer ist, als die literarische Gestaltung eine wichtige Rolle spielt; die Schilderungen sind wohl faktenbasiert. Im Französischen würde man von einem "récit de filiation", einer Abstammungsgeschichte, sprechen. Jedenfalls ist Catherines Leben an sich schon romanesk: die von schwerer Krankheit geprägte Kindheit, das Balletttanzen trotz eines verkürzten Beins, der übergriffige leibliche Vater, eine erste Ehe und ein Leben als Tanzlehrerin in Marseille, eine zweite Existenz in Paris als Gattin eines großbürgerlichen Kulturschaffenden ("der leibhaftige Salonbolschewist"), die Mutterschaft und eine Geliebte, das Ferienhaus in der Corrèze, die dritte Ehe mit einem Betrüger, eine späte Randexistenz in Westafrika, schließlich der Suizid.
Huisman erzählt in drei Teilen: Der erste berichtet aus der Ich-Perspektive der Tochter, ausgehend von den Ereignissen des Jahres 1989, als die Mutter der Zehnjährigen eingewiesen wird. Der zweite erzählt Catherines Geschichte bis 1989, und zwar chronologisch und aus der Außensicht; durch die dritte Person wirkt er unpersönlicher. Der dritte und kürzeste Teil berichtet von Tod und Seebestattung der Mutter 2009, folgt dem Erleben der dreißigjährigen Violaine.
Die Teile dienen dem Versuch, durch wechselnde Blickwinkel einem menschlichen Phänomen näherzukommen, das sich durch stete Grenzverletzung auszeichnet und droht unfassbar zu werden. Catherine ist eine Frau des Exzesses, verschlingt Alkohol, Zigaretten, Medikamente, Sexpartner, bis hin zum Metzger - "ein fetter Widerling" -, mit dem sie es auf dem Hackblock treibt. Ihre Umgebung wird Teil des Versuchs, die als Kind erlittene Vernachlässigung - während eines jahrelangen Krankenhausaufenthalts hat ihre Mutter sie nicht besucht - mittels eines permanenten Ausnahmezustandes erträglich zu machen: "Mamans Haushalt war eine Feuerstelle, sie heizte gut ein, damit dort das Feuer der Gefühle loderte, die leidenschaftliche Wärme ihres Vertrauens in die menschliche Seele." Wo die Wärme nicht reicht, fängt sie neu an, daher eine Vielzahl von Identitäten und Ehen, Abbrüchen - teils im wörtlichen Sinne: Eine Tanzschule fackelt Catherine ab - und Neuanfängen jeder Art.
So hart das Urteil bei einem Band klingt, der mehr sein will als "nur" ein gelungener Roman: Das Resultat ist literarisch gesehen gemischt. Gegen Ende fällt "Die Entflohene" ab. Teil zwei ist konventionell erzählt, manche Ereignisse werden wiederholt, was nur teilweise eine neue Sicht eröffnet, besonders das Verhalten von Catherines Mutter betreffend. Teil drei wiederum, der am direktesten auf emotionale Momente losgeht, ist zwar rührend, aber literarisch mau. Wir folgen darin Violaine und ihrer Schwester durch die Leichenhalle, sehen sie bei der Trauerfeier und beim Schmuggeln der Asche ins Flugzeug, wohnen deren Verteilen auf dem Meer vor Dakar bei. Die Erzählung spiegelt die Hilflosigkeit der jungen Frauen leider unbedarft wider - eine Erinnerung an die Einsicht, dass Sprache paradoxerweise oft am überzeugendsten wirkt, wenn sie am kunstvollsten vorgeht. An demselben heiklen und persönlichen Gegenstand - einem verrückten, verstorbenen Elternteil - hat das eine andere Französin, Gwenaëlle Aubry, unlängst vorgemacht: In "Niemand" (2009) umkreist sie in alphabetisch organisierten Stichwörtern das Leben ihres Vaters, ein Kunstgriff, der formalistisch scheinen mag, tatsächlich jedoch eine packende Darstellung ermöglicht.
Gegen diese Vorbehalte steht der wunderbare erste Teil von "Die Entflohene": Er berichtet über die Verwirrung der zehn Jahre alten Tochter angesichts der mütterlichen Krankheit. In einem Tonfall, der alles andere als weinerlich ist, zeigt Huisman ein extravagantes Leben, das verstört, aber vor Intensität glüht wie die kettengerauchten Kippen. Auch ohne den Versuch, die kindliche Wahrnehmung zu übernehmen, gelingt es Huisman, das Erlebte in einer halb chronologischen, halb assoziativen Verkettung, die ihrer eigenen Logik zu folgen scheint, glaubwürdig darzustellen. Hier erlaubt der Roman die Entdeckung eines faszinierenden Charakters, der sich aus dem Arbeitermilieu und einer schwierigen Familienkonstellation zu befreien sucht.
Das verrät schon Catherines Sprache, denn sie schmückte "diesen mondänen Stil mit Anspielungen auf die Popkultur, Sprüchen, billigem Argot, sie konnte einfach nicht anders, als ihre Sätze mit Schimpfwörtern zu spicken, so wie andere grundsätzlich ihr Essen nachsalzen". "Die Entflohene" profitiert von der lebhaften, phantasievollen, oft deftigen Sprache der Hauptfigur, und Eva Scharenberg überträgt diese über weite Strecken gut. An ein paar Stellen holpert es, zum Beispiel beim Einsatz der bestimmten Artikel bei französischen Wendungen, die angepasst werden sollten ("die Place", nicht "der"), sowie bei Regionen, wo es skurrilerweise "in Corrèze" heißt (statt "in der"). Von den genannten Einschränkungen abgesehen, ist "Die Entflohene" aber ein spannender, berührender und burlesker Lebensbericht, der die Lektüre lohnt.
NIKLAS BENDER
Violaine Huisman: "Die Entflohene". Roman.
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht nur das Krankheitsbild ist komplex: Violaine Huisman schreibt romanhaft vom Leben und Sterben ihrer Mutter
Auch für eine Pariserin ist der Fahrstil extrem: "Immer und überall zu spät, fuhr sie manchmal über den Bürgersteig, wenn es nicht voranging - eine bewährte Methode, Staus zu umgehen. Mit der Zigarette in der linken Hand beschimpfte sie die Gaffer. Aus dem Weg! Wir haben es eilig!" Wenn Ordnungshüter einschreiten, müssen die zwei Töchter schwere Krankheit vortäuschen. Größere Wirkung entfaltet allerdings die "Charmenummer" der Mutter, einer ehemaligen Balletttänzerin, die Polizisten mühelos um den Finger wickelt. Was nach den nonchalanten Manieren einer Pariser Großbürgerin klingt, sind in Wahrheit Züge einer Manisch-Depressiven oder, um die Liste komplett aufzuzählen, einer Frau, die an folgenden Krankheitsbildern leidet: "Schizophrenie, Mythomanie, Kleptomanie, Alkoholismus, abwechselnd Depression und Hysterie."
Die Person, um die es geht, ist Catherine Cremnitz, 1947 geboren: Ihre Tochter Violaine Huisman, Jahrgang 1979, Lektorin und Übersetzerin, die seit 1998 in New York lebt, hat ihr "Die Entflohene" gewidmet. Es handelt sich um einen Roman, der nur insofern einer ist, als die literarische Gestaltung eine wichtige Rolle spielt; die Schilderungen sind wohl faktenbasiert. Im Französischen würde man von einem "récit de filiation", einer Abstammungsgeschichte, sprechen. Jedenfalls ist Catherines Leben an sich schon romanesk: die von schwerer Krankheit geprägte Kindheit, das Balletttanzen trotz eines verkürzten Beins, der übergriffige leibliche Vater, eine erste Ehe und ein Leben als Tanzlehrerin in Marseille, eine zweite Existenz in Paris als Gattin eines großbürgerlichen Kulturschaffenden ("der leibhaftige Salonbolschewist"), die Mutterschaft und eine Geliebte, das Ferienhaus in der Corrèze, die dritte Ehe mit einem Betrüger, eine späte Randexistenz in Westafrika, schließlich der Suizid.
Huisman erzählt in drei Teilen: Der erste berichtet aus der Ich-Perspektive der Tochter, ausgehend von den Ereignissen des Jahres 1989, als die Mutter der Zehnjährigen eingewiesen wird. Der zweite erzählt Catherines Geschichte bis 1989, und zwar chronologisch und aus der Außensicht; durch die dritte Person wirkt er unpersönlicher. Der dritte und kürzeste Teil berichtet von Tod und Seebestattung der Mutter 2009, folgt dem Erleben der dreißigjährigen Violaine.
Die Teile dienen dem Versuch, durch wechselnde Blickwinkel einem menschlichen Phänomen näherzukommen, das sich durch stete Grenzverletzung auszeichnet und droht unfassbar zu werden. Catherine ist eine Frau des Exzesses, verschlingt Alkohol, Zigaretten, Medikamente, Sexpartner, bis hin zum Metzger - "ein fetter Widerling" -, mit dem sie es auf dem Hackblock treibt. Ihre Umgebung wird Teil des Versuchs, die als Kind erlittene Vernachlässigung - während eines jahrelangen Krankenhausaufenthalts hat ihre Mutter sie nicht besucht - mittels eines permanenten Ausnahmezustandes erträglich zu machen: "Mamans Haushalt war eine Feuerstelle, sie heizte gut ein, damit dort das Feuer der Gefühle loderte, die leidenschaftliche Wärme ihres Vertrauens in die menschliche Seele." Wo die Wärme nicht reicht, fängt sie neu an, daher eine Vielzahl von Identitäten und Ehen, Abbrüchen - teils im wörtlichen Sinne: Eine Tanzschule fackelt Catherine ab - und Neuanfängen jeder Art.
So hart das Urteil bei einem Band klingt, der mehr sein will als "nur" ein gelungener Roman: Das Resultat ist literarisch gesehen gemischt. Gegen Ende fällt "Die Entflohene" ab. Teil zwei ist konventionell erzählt, manche Ereignisse werden wiederholt, was nur teilweise eine neue Sicht eröffnet, besonders das Verhalten von Catherines Mutter betreffend. Teil drei wiederum, der am direktesten auf emotionale Momente losgeht, ist zwar rührend, aber literarisch mau. Wir folgen darin Violaine und ihrer Schwester durch die Leichenhalle, sehen sie bei der Trauerfeier und beim Schmuggeln der Asche ins Flugzeug, wohnen deren Verteilen auf dem Meer vor Dakar bei. Die Erzählung spiegelt die Hilflosigkeit der jungen Frauen leider unbedarft wider - eine Erinnerung an die Einsicht, dass Sprache paradoxerweise oft am überzeugendsten wirkt, wenn sie am kunstvollsten vorgeht. An demselben heiklen und persönlichen Gegenstand - einem verrückten, verstorbenen Elternteil - hat das eine andere Französin, Gwenaëlle Aubry, unlängst vorgemacht: In "Niemand" (2009) umkreist sie in alphabetisch organisierten Stichwörtern das Leben ihres Vaters, ein Kunstgriff, der formalistisch scheinen mag, tatsächlich jedoch eine packende Darstellung ermöglicht.
Gegen diese Vorbehalte steht der wunderbare erste Teil von "Die Entflohene": Er berichtet über die Verwirrung der zehn Jahre alten Tochter angesichts der mütterlichen Krankheit. In einem Tonfall, der alles andere als weinerlich ist, zeigt Huisman ein extravagantes Leben, das verstört, aber vor Intensität glüht wie die kettengerauchten Kippen. Auch ohne den Versuch, die kindliche Wahrnehmung zu übernehmen, gelingt es Huisman, das Erlebte in einer halb chronologischen, halb assoziativen Verkettung, die ihrer eigenen Logik zu folgen scheint, glaubwürdig darzustellen. Hier erlaubt der Roman die Entdeckung eines faszinierenden Charakters, der sich aus dem Arbeitermilieu und einer schwierigen Familienkonstellation zu befreien sucht.
Das verrät schon Catherines Sprache, denn sie schmückte "diesen mondänen Stil mit Anspielungen auf die Popkultur, Sprüchen, billigem Argot, sie konnte einfach nicht anders, als ihre Sätze mit Schimpfwörtern zu spicken, so wie andere grundsätzlich ihr Essen nachsalzen". "Die Entflohene" profitiert von der lebhaften, phantasievollen, oft deftigen Sprache der Hauptfigur, und Eva Scharenberg überträgt diese über weite Strecken gut. An ein paar Stellen holpert es, zum Beispiel beim Einsatz der bestimmten Artikel bei französischen Wendungen, die angepasst werden sollten ("die Place", nicht "der"), sowie bei Regionen, wo es skurrilerweise "in Corrèze" heißt (statt "in der"). Von den genannten Einschränkungen abgesehen, ist "Die Entflohene" aber ein spannender, berührender und burlesker Lebensbericht, der die Lektüre lohnt.
NIKLAS BENDER
Violaine Huisman: "Die Entflohene". Roman.
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wurde je so klug, elegant und, ja, heiter, über Depressionen geschrieben wie in dieser Mutter-Tochter-Geschichte aus Paris? Mara Delius Welt.de 20191212