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Der Lebensstandard in Deutschland zwischen 1920 und 1960
"Wohlstand für alle" strebte Ludwig Erhard an - und wie enttäuscht war er, als der gestiegene Lebensstandard nicht dazu führte, dass die Menschen zufriedener wurden. Was überhaupt bestimmt "Wohlstand", und wie ist seine Entwicklung zu messen? 1990 haben die Vereinten Nationen den jährlich erhobenen "Human Development Index" (HDI) als internationales Wohlfahrtsmaß eingeführt. Statt nur nach Bruttosozialprodukt beziehungsweise Pro-Kopf-Einkommen bemisst er sich nach einer Kombination aus Bildung (Alphabetisierungs- und Schulbesuchsraten), Gesundheit (Sterblichkeit bzw. Lebenserwartung bei Geburt) und Einkommen (Bruttosozialprodukt pro Kopf). Dies sind ebenso begrenzte wie standardisierte Indikatoren für Wohlfahrt. Und doch sind sie so aussagekräftig, wie Statistiken und Messzahlen sind: nicht als umfassende qualifizierende Aussagen auf die Stelle hinter dem Komma, wohl aber als Größenordnungen, Vergleichsgrößen und als Indikatoren für Entwicklungsrichtungen.
Dies in historischer Perspektive zu tun, hat sich Andrea Wagner vorgenommen. Während für die fünfziger Jahre eine "Wohlstandsexplosion" in Deutschland unstrittig ist, gehen die Meinungen über die Zwischenkriegszeit auseinander. Die Studie vergleicht beide Zeitabschnitte in drei Perspektiven: einer nationalen im internationalen Vergleich, einer regionalen und einer geschlechterspezifischen. Dabei modifiziert sie die Indikatoren des HDI für deutsche Verhältnisse, indem beispielsweise nicht die wenig aussagekräftigen Alphabetisierungs- und Schulbesuchsraten an sich zugrunde gelegt werden, sondern die tertiäre Bildung.
Dieser breiter als nur materiell-ökonomisch verstandene Wohlstand nahm in den fünfziger Jahren deutlich stärker zu als in der Zwischenkriegszeit, für die aber ebenfalls unter dem Strich eine Steigerung konstatiert wird, freilich mit charakteristischen Unterschieden: In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik waren es insbesondere der Faktor Gesundheit, aber auch Bildung, die einen Wohlstandszuwachs trugen. Er fällt umso stabiler aus, je mehr konjunkturell bedingte Indikatoren herausgerechnet werden - was die Wohlstandsindexierung freilich an die Schwelle zum Elfenbeinturm führt, weil der konjunkturelle Faktor "Weltwirtschaftskrise" mit ihren materiellen Folgen von Massenarbeitslosigkeit und -verelendung natürlich elementarer auf einen wie breit auch immer definierten Lebensstandard durchschlug als alles andere.
Dennoch ist der Hinweis auf die konjunkturellen Bedingungen von Belang, war doch die Wohlstandsentwicklung während des "Dritten Reiches" vorrangig vom Einkommenswachstum im Gefolge der rückläufigen Arbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise getragen. Demgegenüber bewirkte die nationalsozialistische Herrschaft eine "Unterbrechung der Bildungsexpansion", wie sie in der Weimarer Republik eingesetzt hatte. Die Ausweitung tertiärer Bildung prägte wiederum in hohem Maße den Wohlstandszuwachs der fünfziger Jahre, schon vor den Bildungsreformen der sechziger und siebziger Jahre, wenn auch in geringerem Maße als in anderen westeuropäischen Ländern. Die Studie bestätigt mithin das Bild der fünfziger Jahre als einer keineswegs nur muffigen Vormoderne, und sie belegt zugleich die deutsche Verspätung beim Übergang zur industriellen Dienstleistungswirtschaft.
Dass die Messungen nach dem Muster des Human Development Index andere Akzente hervorbringen als die reine Einkommensorientierung, erweist sich in regionaler Perspektive am Beispiel Schleswig-Holsteins. Das Land galt zwar ökonomisch als Armenhaus, stand aber insbesondere durch den Faktor Gesundheit - wegen der guten Seeluft? - an der Spitze der Wohlstandsentwicklung in den fünfziger Jahren, während sowohl das ebenso ländliche Bayern als auch Nordrhein-Westfalen - trotz seines hohen BSP - demgegenüber abfielen. Dass freilich, während sich regionale Disparitäten in der Bundesrepublik verringerten, die Städte zugleich allenthalben konstant besser abschnitten als das Land, passt mit diesen Befunden nicht erkennbar zusammen - und eröffnet wohl auch den Blick auf die Grenzen der ökonometrischen Analyse.
Im Hinblick auf die geschlechterspezifische Dimension erhebt Frau Wagner - nicht wirklich überraschend - Unterschiede vor allem im Hinblick auf die tertiäre Bildung, die sich in den fünfziger Jahren leicht verringerten. Insgesamt aber war, so ein Befund, der manchem Mainstream zuwiderläuft, die allgemeine Wohlfahrtsentwicklung für beide Geschlechter wichtiger als die geschlechterspezifischen Unterschiede. Nach sozialen Schichten differenziert die Studie nicht, so dass schichtenspezifische Entwicklungen und ihre Unterschiede nicht erfasst werden. Auch vor diesem Hintergrund geben die abstrakten, hoch aggregierten Daten langfristige Entwicklungstrends wieder, die für die Zeitgenossen so aber kaum spürbar waren. Mithin schlug sich die in dieser Studie sorgfältig und reflektiert erhobene Steigerung des Lebensstandards auch nicht unmittelbar in subjektiver Lebenszufriedenheit nieder - und erklärt einen Teil von Ludwig Erhards Enttäuschung.
ANDREAS RÖDDER
Andrea Wagner: Die Entwicklung des Lebensstandards in Deutschland zwischen 1920 und 1960. Akademie Verlag, Berlin 2008. 405 S., 79,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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