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Expertisen sind nicht alles: Alexander Bogner über Macht und Ohnmacht des Wissens in der Demokratie
Die Wissenschaften entzaubern die Welt. So hat man sich, in Anlehnung an eine gut hundert Jahre alte Wendung Max Webers, zu sagen angewöhnt. Aber Wissenschaften verzaubern die Welt auch wieder - in dem Maße nämlich, indem das Bild, das ihre Erkenntnisse von der Wirklichkeit zeichnen, immer komplexer wird und bei allem Wissenszuwachs nicht den Anschein erweckt, sich jemals vollenden zu lassen. Einfache Kausalzusammenhänge sind darin, vereinfacht gesagt, nicht so einfach zu finden. Wenig verwunderlich darum, dass die sekundäre Verzauberung und Verkomplizierung der Welt durch fortgesetzte wissenschaftliche Entzauberung ein - zumal unter "wissenschaftlichen Laien" - frei flottierendes Bedürfnis nach Einfachheit, nach konkreter und anschaulicher Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen provoziert. Ausdruck und Luft verschafft sich dies Bedürfnis bisweilen auch in "alternativen Erklärungsansätzen", bis hin zu Verschwörungslegenden.
Mit Blick auf sehr laut gewordene Zweifel an "Corona-Maßnahmen", aber auch an virologischen und epidemiologischen Erkenntnissen, spricht der Soziologe Alexander Bogner in einem lesenswerten neuen Buch von einer "Enträtselungsoffensive ,von unten'". Er tut dies vor dem Hintergrund des angedeuteten Zusammenspiels von wissenschaftlicher Entzauberung und Wiederverzauberung, nimmt indes eine ähnliche Kippbewegung aufseiten derer wahr, die als Wissenschaftsskeptiker auf eigene Faust Ursachenforschung betreiben und dabei Partei "für das Einfache, Konkrete und Anschauliche" ergreifen. Es lebe in derlei Versuchen "in bizarrer Form" der "romantische Impuls einer Wiederverzauberung der Welt" weiter. Mit dieser Sicht auf die Dinge trägt soziologische Zeitgeistdiagnose ihrerseits zur Komplexitätssteigerung der Welterkenntnis bei.
Der "Aufstand gegen das rationalistische Weltbild" der Wissenschaften, der auch in puncto Klimaforschung geprobt werde, gilt Bogner zugleich als "antiautoritärer Aufstand gegen jeden Anspruch auf besseres Wissen". Die "gegenaufklärerische Graswurzelbewegung" sieht er mithin nicht allein von einem Wunsch nach Einfachheit, Eindeutigkeit oder Anschaulichkeit befeuert, sondern ebenso von einem Freiheitsimpuls, einer wie auch immer verwilderten Selbstbehauptung gegen die Kolonisierung der Lebenswelt durch "besserwisserische" Wissenschaft und einer Politik, die mitunter auf wissenschaftliche Erkenntnisse verweist, um ihre "Alternativlosigkeit" zu unterstreichen. Und in der Tat: Ohne den Aspekt - sagen wir - eines revoltierenden Trotzes wäre psychologisch kaum verständlich, wie es im Fall der Klimakrise den "Skeptikern" gelingen kann, die Augen vor einer erdrückenden Beweislage zu verschließen oder "alternative Fakten" zu suchen.
Es kommt noch etwas hinzu zu dieser Problembeschreibung, und das ist ihr eigentlicher Dreh- und Angelpunkt. Bogner nimmt den Aufstand der "Wissensleugner" als Problemanzeige - als Indikator dafür, dass in unserer Wissensgesellschaft etwas schiefläuft. Er nennt, worauf er die Aufmerksamkeit lenken möchte, eine "fixe Idee" oder auch einen "festen Glauben": den sich verbreitenden Glauben daran, "dass viele der gegenwärtigen Krisen, Konflikte oder Streitfragen erst dann richtig begriffen oder richtig formuliert werden können, wenn es im Kern um Wissensdinge geht beziehungsweise wenn wir sie als Wissensprobleme verhandeln". Ebendas ist es, was der Buchtitel in der ein wenig abschreckenden Formel "Epistemisierung des Politischen" zusammenfasst. In anderer Gestalt und unter anderen Vorzeichen hatte ein solcher politisch durchschlagender "Szientismus" bereits im vergangenen Jahrhundert seine Konjunkturen als technokratische Politikvorstellungen den "Sachzwang" zum handlungsleitenden Prinzip erhoben.
Der Autor will selbstredend nicht bestreiten, dass es etwa in den Kontroversen um die richtige Klimapolitik auch um Wissens- und Tatsachenfragen zu tun ist, um belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse. Aber er hält die Fixierung auf diese Fragen für fatal, weil dadurch verdeckt werde, dass der Streit sich letztlich darum drehe, wie wir leben und zusammenleben wollen. Das ist die Frage, die Streitfrage, die den Raum des Politischen - zumal in liberaldemokratisch verfassten Gemeinwesen - markiert oder überhaupt erst eröffnet. Sie lässt sich nicht durch Expertisen beantworten, die den Stand des Wissens in der Erforschung des Klimas oder eines Virus dokumentieren.
Andersherum betrachtet: Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht "eins zu eins" in politische Entscheidungen übersetzen. Tatsachenfeststellungen sind keine normativen Orientierungen. Es bleibt stets ein Handlungsspielraum - und damit ein Rechtfertigungsbedarf im Blick auf Entscheidungen, der nicht durch Rückgriff auf wissenschaftlich gesicherte Wissensbestände gedeckt werden kann. Wird dennoch so getan, als sei genau dies möglich, kann dies zu einem endlosen Wettkampf zwischen Expertisen und Gegenexpertisen führen und damit dazu, dass nötige Entscheidungen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufgeschoben werden.
Alexander Bogner ist erkennbar ein Freund der "Autonomie des Politischen" und der mit offenem normativen Visier - zivilisiert - ausgetragenen Wertekonflikte, aber er ist kein Feind des Wissens und der Wissenschaft. Im Gegenteil: Je mehr Dissens die deliberative Demokratie erzeugt, desto wichtiger erscheint ihm die Bezugnahme streitender Parteien auf eine gemeinsame Welt. Der Begriff der Tatsache avanciert so zur "kognitiven Infrastruktur, die unhinterfragt bleiben muss". Und die Idee der Wahrheit wird am Ende zu einer "Weltanschauung", die den unentbehrlichen "Referenzrahmen" stiftet: "Nur der gemeinsame Glaube an eine überindividuell gültige Wahrheit verhindert, dass widersprüchliche Positionen einfach beziehungslos nebeneinander stehen bleiben." Wie dieser Glaube sich mit dem Relativismus verträgt, den der von Bogner zustimmend zitierte Rechtswissenschaftler Hans Kelsen einst als die der Demokratie angemessene Weltanschauung namhaft machte, das wäre einen eigenen Gedankengang wert. Es ist nicht die einzige anregende Frage, mit der die Lektüre des Buches belohnt wird.
UWE JUSTUS WENZEL
Alexander Bogner: "Die Epistemisierung des Politischen". Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet.
Reclam Verlag, Stuttgart 2021. 132 S., geb., 12,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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