Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Christina Morina porträtiert die Generation der Schüler von Karl Marx, die aus den Schriften des Meisters den Marxismus destillierte
Wann war doch noch der Marxismus? Wenn man ihn, wie Christina Morina, als genuine Idee versteht und nicht bloß als die propagandistische Verbrämung autoritärer Herrschaftstechniken, dann hat er einen Lebenszyklus von etwa einem Jahrhundert durchlaufen: vom Erscheinen des ersten Bandes von Karl Marx' "Das Kapital" 1867 bis in die frühen siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Danach hat es kaum noch originelle Theoriearbeit gegeben, auch nicht in einem staatssozialistischen Land wie China, das sich immer noch offiziell mit Zitaten und Porträts von Marx und Engels schmückt. Als 1976, zunächst auf Polnisch und in Paris, Leszek Kolakowskis unübertroffene Gesamtdarstellung "Die Hauptströmungen des Marxismus" erschien, war der Zeitpunkt für ein post mortem bereits gekommen. Christina Morina hat nun das Bild, das der polnische Philosoph zeichnete, für die Jahrzehnte um 1900 bereichert und vertieft.
Das marxistische Jahrhundert beginnt nicht schon mit den frühen Schriften von Karl Marx. Der Meister selbst bestritt, Marxist zu sein. Erst eine Generation von Schülern verbreitete die Lehre in Europa, beraten und ermutigt vom alten Friedrich Engels in London. Diese Nachfolger waren eher Transformatoren als Epigonen. Sie übersetzten die Kompliziertheiten des späteren Marx in eine massenwirksame Sprache, wandten sie auf die Analyse ihrer eigenen Gesellschaften an und münzten sie um in revolutionäre Strategien. Geboren wurden sie zwischen 1845 (Jules Guesde) und 1871 (Rosa Luxemburg); um 1900 hatten sie führende Stellungen in den sozialistischen Bewegungen ihrer Länder erlangt, manchmal aus dem Exil.
Neun Protagonisten werden in einer Gruppenbiographie dargestellt: neben der feurigen Luxemburg und dem moralisch empörten Parteigründer Guesde der Büchermensch und unverdrossene Theoretisierer Karl Kautsky, der gelehrte Humanist Jean Jaurès, der praxisnahe Wiener Armenarzt und Parlamentarier Victor Adler, der vermittelnde Engels-Vertraute Eduard Bernstein, der dogmenskeptische Bewunderer von Marx' Denkstil Peter Struve und der Russifizierer der Marxschen Lehren Georgij Plechanow, schließlich auch der "kühle Realist" Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin), über den man hier keine neuen Aufschlüsse erwarten darf.
Dem Buch gelingt eine kunstvolle Verflechtung der Lebensläufe dieser Gründerfiguren, durchsetzt mit hilfreichen Paraphrasen und Interpretationen ihrer emsig produzierten Schriften. Die meisten nahmen zumindest Notiz voneinander, trafen sich gelegentlich, schrieben sich Briefe, waren mitunter befreundet und bekämpften sich zuweilen mit einer Schärfe, die von Hingabe an die Sache geheiligt zu sein schien: Bernstein versus Kautsky, Luxemburg versus Lenin. Kurz: sie bildeten eine transnationale Gemeinschaft von Intellektuellen mit erheblicher politischer Durchschlagskraft. In Russland gelang 1917 sogar ein politischer Umsturz.
Zweierlei waren diese Leute nicht: Klassenverräter und Utopisten. Einige stammten aus soliden bürgerlichen Verhältnissen, andere aus eher ärmlichen Milieus, die aber niemals bildungsfern waren. Sie alle bekamen in der Familie einen Wissensdrang anerzogen, der sie zu unersättlichen und mehrsprachigen Lesern machte. Das Marx-Erlebnis, von Christina Morina für jeden einzelnen Fall sorgfältig rekonstruiert, war überhaupt nur möglich, weil bereits ein Habitus anspruchsvoller Lernbereitschaft vorhanden war. Nur mit solchem Rüstzeug konnten die schwierigeren Argumentationsgänge der marxschen Politökonomie bewältigt werden. Keiner unter den neun hat den mehr oder weniger deutlich ausgeprägten bildungsbürgerlichen Hintergrund verleugnet und sich scharf von der eigenen Herkunft abgegrenzt.
Weder die Marx-Lektüre noch die nicht seltenen politischen Enttäuschungen führten zur Flucht in den Utopismus. Vielmehr vollzog die Generationen, die den Marxismus "erfand", eine Bewegung mit, die Engels noch zu Lebzeiten von Marx 1880 in effektvoller Selbsthistorisierung auf eine schlichte Formel gebracht hatte: die Entwicklung des Sozialismus "von der Utopie zur Wissenschaft". Alle neun hatten Darwin studiert und waren von der Wissenschaftsgläubigkeit ihrer Zeit infiziert. Im Einklang mit den quasi-natürlichen Bewegungsgesetzen der Geschichte, genauer: des Klassenkampfes, werde man früher oder später siegen. Christina Morina weiß nicht so recht, was sie davon halten soll. Einerseits distanziert sie sich von Karl Marx' "vermeintlich wissenschaftlich fundierter" Gegenwartsanalyse. Andererseits beruft sie sich zustimmend auf die Historikern geläufige These einer allgemeinen "Verwissenschaftlichung des Sozialen", die in den 1880er Jahren begann. In diese Tendenz passen ihre Protagonisten perfekt hinein.
Ob Pseudowissenschaft oder nicht: die Verführungskraft der marxschen Theorie ist leicht zu verstehen. Sie war ein gekonnt konstruiertes Gedankengebäude auf der Höhe der Zeit, dem auch politische Gegner den Respekt nicht versagten. Zugleich offerierte sie, in Morinas Worten, "ein unwiderstehliches Verwirklichungsversprechen". Die soziale Frage, also ein proletarisches ebenso wie bäuerliches Elend, das sämtliche Mitglieder der Gründergeneration moralisch berührte und ihr Rechtsempfinden verletzte, sei prinzipiell lösbar, sofern engagierte Intellektuelle tatkräftig Nachhilfe leisteten.
Es war dieser "Selbstwirksamkeitsglaube", der Karl Marx' gläubige Erben zur Untersuchung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, zum Denken und zum Schreiben motivierte und nicht zuletzt auch zu einer oft beträchtlichen persönlichen Risikobereitschaft. Nach solchen Dynamisierungsquellen zu fragen macht den emotionsgeschichtlichen Ansatz aus, den Morina selbst für das Markenzeichen ihres Buches hält. Er wird mit erfreulicher Dezenz in einem Buch vertreten, das über weite Strecken biographisch fundierte Ideengeschichte bietet: "ideas in context".
Hat aber der Marxismus wirklich "die Welt erobert"? Unter den Großideologien des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ist es viel eher der Nationalismus, von dem sich dies sagen lässt. Er triumphiert in allen Winkeln des Planeten. Als in den zwanziger Jahren die letzten Vertreter der Gründergeneration verstummten (der greise Karl Kautsky beobachtete von Amsterdam aus noch den Aufstieg des Nationalsozialismus), da hatte der Marxismus, nunmehr in leninistischer Version, allein in der Sowjetunion die Macht übernommen, außerdem in deren Satellitenstaat, der Mongolischen Volksrepublik. Der Untertitel dieses Buches ist mächtig übertrieben.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Christina Morina: "Die Erfindung des Marxismus". Wie eine Idee die Welt eroberte.
Siedler Verlag, München 2017. 592 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH