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Bernd Brunner verfolgt die Geschichte der Erzählungen und Bilder vom hohen Norden
Was ist das: der Norden? Die Antwort dürfte unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob man in Frankfurt oder irgendwo in Afrika wohnt. Aber für uns heute und hier ist "Norden" vermutlich alles ab Hamburg, erst alles recht nördlich des Polarkreises, von Alaska und Grönland bis nach Russland hinüber. Eine kühle, herbe, landschaftlich atemberaubende einsame Welt voller Geschichten.
Der in Berlin lebende Kulturwissenschaftler Bernd Brunner, ein produktiver Sachbuch-Autor, der sich unter anderem bereits mit der "Erfindung des Aquariums", der "Faszination Mond" und der "Kulturgeschichte des Winters" befasste, hat nun ein Buch über unser Bild vom Norden geschrieben - oder wie er es sagt: über die "Erfindung des Nordens", und es ist ein kurzweiliges Buch geworden. Eingeleitet wird es mit der Besichtigung eines Raritätenkabinetts, durch das der dänische Mediziner Ole Worm im siebzehnten Jahrhundert Berühmtheit erlangte: eine "Wunderkammer", zu deren Prachtstücken unter andrem ein toter Riesenalk, ein Kajak mit Miniatureisbär, ein Hocker aus Walknochen und Mineralien aus norwegischen und schwedischen Bergwerken gehört haben sollen.
Und auch Brunner hat fleißig gesammelt - als Rechercheur. Er beschreibt die Vorstellungen vom "Norden" seit der Antike, beschäftigt sich mit Mythen, Reisebeschreibungen und fatal einflussreichen Vordenkern wie Johann Gottfried Herder, der in der altnordischen Mythologie die Urgeschichte der Deutschen zu erkennen meinte, oder Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, dessen Werke sowohl dem Kaiser wie Hitler gefielen.
Brunner zeichnet einen Weg nach, der immer dunkler wird und zu den "Abgründen der Rassenkunde", der "Nordischen Bewegung" und den ideologischen Ergüssen eines Alfred Rosenberg führt. Aber er hat auch andere, lichtere Themen im Blick wie die unglaublich detaillierte Karte der nördlichen Welt, die der schwedische Bischofs Olaus Magnus 1539 in Venedig drucken ließ, die viktorianischen Schwärmereien für die Wikinger, die arktischen Entdeckungsreisen oder die sozialpolitischen Reformen im Skandinavien der dreißiger Jahre.
Wer Zitate und Nerdwissen sucht, hat in dem Buch eine Fundgrube. Sofort notiert haben wir uns etwa: dass das Fährwesen auf den Åland-Inseln Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in Frauenhand war; dass der Erfolg Schwedens im Dreißigjährigen Krieg von Zeitgenossen mit Zauberkünsten der Samen erklärt wurde; dass die Inuit-Kinder in Kanada 1910 "den nördlichsten Fußball" spielten und die Wochenschau den Überfall auf Kreta 1941 mit dem "Walkürenritt" untermalte wie Francis Ford Coppola fast vier Jahrzehnte später die Hubschrauberbilder aus Vietnam.
Schade ist nur, dass alles so zügig an uns vorbeirauscht. Das gilt insbesondere für Brunners Beschäftigung mit den Vorstellungen vom Norden nach 1945. Hier beschränkt er sich auf die eher pflichtschuldige Erwähnung, dass es Kontinuitätslinien der romantischen Nordlandbilder bis in die Gegenwart gibt (bis hin zum "Hygge"-Kult). Und auf die Frage, was heute das Bild vom Norden prägt, fällt ihm kaum mehr ein als "Game of Thrones", Björk, Schwedenkrimis, skandinavisches Kino oder die Eisschmelze durch den Klimawandel.
Letztere ist allerdings ein schlaues Ende des Buches. Denn die Eisschmelze, mit der die Suche nach Öl, Gas und Mineralien und die Befahrbarkeit der Nordostpassage einhergeht, wird unser Nordlandbild von morgen prägen. Wie es aussehen könnte, erahnt man bei der Lektüre einer anderen Neuerscheinung, die der italienische Journalist Marzio Mian vorgelegt hat. Im Reportagestil, sehr anschaulich, erläutert Mian in "Die neue Arktis" (Folio Verlag) den "Kampf" um die eisfreien Polargebiete von morgen. Zur Auffrischung der eigenen Nord-Begeisterung und als Ergänzung für Brunners Buch, in dem ein kanadischer Abenteurer auftritt, der bereits 1922 vom Nordmeer als Mittelmeer der Zukunft ausging, ist dieser Band sehr zu empfehlen.
MATTHIAS HANNEMANN
Bernd Brunner:
"Die Erfindung des
Nordens". Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung.
Galiani Verlag, Berlin 2019. 320 S., geb., 24,- [Euro].
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