Rebellin, Kraftprotz oder Influencer: Jede Graugans hat ihren eigenen Charakter. Ihre aus-geprägten Persönlichkeitsmerkmale entscheiden über ihren Erfolg in der Liebe, im sozialen Miteinander und letztendlich über das Überleben. Sie gehören zu den faszinierendsten Wildtieren, die wir auch in unseren Breitengraden erleben können. Die unglaublich klugen Pflanzenfresser erkennen einander am Ruf und an ihren unverwechselbaren Gesichtern — und sie vergessen kein Gesicht, auch nicht das von uns Menschen. Mehr als 100 Stundenkilometer schnell können sie fliegen, aus zwei Kilometern Entfernung erkennen sie nicht nur einen Adler, sondern auch, was er im Schnabel trägt. Vielleicht können wir auch etwas in Sachen Zusammenleben von den Graugänsen lernen: Die sozialen Tiere, von denen man lange annahm, dass sie streng monogam sind, leben vielmehr in vielen verschiedenen Beziehungsformen. In einer Gänseschar gibt es immer viel Drama — manchmal mit dem Ergebnis, dass ein enttäuschter Liebespartner in ein anderes Land zieht, um dort sein Glück zu versuchen. Kein Wunder also, dass mit der Erforschung der Graugänse durch Konrad Lorenz vor 50 Jahren auch die moderne Verhaltensforschung beginnt. In diesem Buch nimmt uns die Verhaltensbiologin Sonia Kleindorfer, die heute die Konrad Lorenz Forschungsstelle im Almtal leitet, mit in die Lebenswelt der einst als gottähnlich verehrten Tiere. Die mutige Triton, die einflussreiche Leia, der schüchterne Edes, Dorothea, die als Gössel rebellisch war, heute aber besonders sanftmütig ist, oder Iwan, der Casanova: Mit Leidenschaft und mit den neuesten Erkenntnissen ihrer Forschung er-zählt Kleindorfer vom Leben mit den Graugänsen im Almtal — und von einem neuen Mo-dell für das Denken in Sachen Artenvielfalt in einer Welt, die von äußerst wachsamen Pflanzenfressern, die Ökosysteme stabilisieren, profitieren könnte.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Michael Lange hat sich von Sonia Kleindorfers leidenschaftlichem Interesse für Wildgänse anstecken lassen. Seit mehreren Jahren leitet die Biologin aus Philadelphia eine Forschungsstation im Almtal in Österreich. Nun hat sie ihre Beobachtungen und ihre Erkenntnisse für das breite Publikum aufbereitet. Auf leicht verständliche, mitreißende Weise und schön bebildert schildert die Autorin darin, wie die Tiere untereinander kommunizieren, wie sie Beziehungen bilden und vertiefen, Wissen weitergeben, Traditionen bilden und vor allem: Wie sie, geprägt von unterschiedlichen Erfahrungen, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten ausbilden. Denn dies ist eine Hauptthese der Schülerin von Jane Goodall, die in den 1960ern durch ihre Verhaltensforschung an Schimpansen bekannt wurde: Gänse, genau wie Schimpansen sind keine bloßen "Verhaltens-Automaten", sondern Individuen, mit individuellen Vorlieben, Charakteren und Arten, sich "auszudrücken". Dieses Buch eröffnet eine neue Perspektive und schafft ein breiteres Verständnis für die Wesen, mit und unter denen wir leben und es macht Lust, selbst zum Beobachter oder zur Beobachterin zu werden - Vogelpersönlichkeiten gibt es ja zum Glück nicht nur im Almtal, freut sich der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Da ist wirklich einiges Erstaunliches drinnen! Hinnerk Baumgarten NDR DAS! 20240320