Orlando Figes erzählt brillant vom Beginn der Moderne. "Die Europäer handelt von der Entstehung Europas, und wenn man diese Geschichte heute liest, gewinnt sie eine fast utopische Qualität." Karl Ove Knausgård 1843 - Die berühmte Opernsängerin Pauline Viardot reist nach Russland, wo die Eisenbahnstrecken gerade ausgebaut werden und europäische Ideen auf der Tagesordnung stehen. An ihrer Seite der Kunstkritiker Louis Viardot, ihr Ehemann. Während Pauline in St. Petersburg auftritt, kann ein Schriftsteller im Publikum seinen Applaus kaum im Zaum halten. Iwan Turgenew wird von nun an der ständige Begleiter der Viardots sein: Es entfaltet sich eine lebenslange Dreiecksbeziehung, in der sich die Entwicklung einer neuen Epoche spiegelt: die Moderne. In "Die Europäer" erzählt Orlando Figes nicht weniger als die Entstehung unseres kulturellen Selbstverständnisses.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D, L ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Arno Widmann entdeckt mit dem Buch des britischen Historikers Orlando Figes die Ursprünge europäischer Kultur. Das Zusammenwirken von Eisenbahn, Zeitungswesen, Urheberrecht, Theatershops leuchtet ihm ein, wenn der Autor ihm anhand dreier Protagonisten, des Ehepaars Pauline und Louis Viardot sowie Iwan Turgenews, das kosmopolitische Leben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schildert. Dass der Autor die "Geschichte der Kapitalisierung der Kultur" nicht anklagend erzählt, sondern dicht beschreibend und den Leser mit seiner Kenntnis beschenkend, nimmt Widmann dankbar zur Kenntnis.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Als die Kunst ihre Märkte fand
Orlando Figes wirft einen aufschlussreich nüchternen, doch nie lieblosen Blick auf die Entstehung des europäischen Kulturbetriebs.
Von Jan Brachmann
Zur Rechtfertigungsideologie autonomer Kunst im bürgerlichen Zeitalter gehört, dass sie keinerlei äußeren Zwecken zu gehorchen habe, sondern nur ihren Eigengesetzlichkeiten folge. Orlando Figes aber, Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität London, kümmert sich wenig um solch innerästhetische Ventilationen der Eigenbedeutsamkeit von Kunst. Sein neuestes Buch, "Die Europäer", könnte, in Anlehnung an Max Weber, auch heißen "Die europäische Ästhetik und der Geist des Kapitalismus". Denn es beschreibt, durchaus von Karl Marx inspiriert, nichts weniger als die Herausbildung eines europäischen Buch-, Kunst- und Musikmarktes im neunzehnten Jahrhundert aufgrund mehrerer Revolutionen im Verkehr, der Industrie und des Vertriebswesens, will heißen: Kunst als marktkonforme Ware.
Mit der Pionierfahrt eines Dampflokzuges von Paris nach Brüssel am 13. Juni 1846 steigt Figes ein. Die Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, die in den folgenden Jahren fast den gesamten Kontinent zwischen den Britischen Inseln und dem Ural erschloss, ermöglichte es, dass immer größere Anteile der Bevölkerung reisen konnten. Mit ihr entstanden, zunächst in London und Paris, die Bahnhofsbuchhandlungen als Keimzelle einer neuen Einzelhandelsbranche. Taschenbücher lösten die Leinen- und Lederbände ab. Buchreihen entwickelten sich zu Sammlergegenständen, am erfolgreichsten Reclams Universalbibliothek aus Leipzig vom Jahr 1867 an. Ein Kanon des Klassischen entstand, weil sich Bücher in hoher Stückzahl drucken und billiger verkaufen ließen, wenn sie als gut verkäufliche Titel sicheren Umsatz versprachen.
Ähnliches geschah an den Opernhäusern: Das Reisen sorgte in den Metropolen für ein überregionales Publikum, welches es gestattete, Opernproduktionen länger im Spielplan zu halten, da es ständig neue Gäste gab. So haben die Eisenbahn und die durch sie bewirkte Marktveränderung großen Anteil an der Entstehung des Repertoirekanons. Die Opern Giuseppe Verdis - allen voran "La Traviata", "Rigoletto", "Il Trovatore" und "Aida" - gehörten früh zum internationalen Kernbestand dessen, was als Standard europäischer Zivilisation galt. Dazu - wenigstens zu ihrer Zeit - die Grand Opéras von Giacomo Meyerbeer. Mit der Erfindung der Lithographie, welche die Herstellung von Notendrucken vereinfachte, und dem Aufschwung des Klavierbaus, der für die Herstellung von Gussrahmen und Saiten wiederum von der Stahlindustrie abhing, ließen sich Opern-Potpourris massenhaft verbreiten für den häuslichen Gebrauch.
Das zu Geld gelangte Bürgertum interessierte sich auch in der Kunst nicht mehr für die Vorzugsgenres des alten Adels. Stattdessen stiegen Landschaftsbilder in der Gunst der Käufer. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird das Kunstwerk als Kapitalanlage entdeckt: Man kauft junge, unbekannte Maler in der Hoffnung, dass sie binnen kurzem so berühmt werden, dass man ihre Bilder gewinnbringend wieder verkaufen kann.
Durch den aufkommenden Kunstdruck wurden Meisterwerke zur Massenware. Gustave Courbet erfand gar, zu Reklamezwecken für eine Ausstellung 1853, die Kunstpostkarte. Zu den besonderen Pointen des Buchs von Figes gehört es, dass die Freiluftmalerei der Schule von Barbizon sich dem Vertrieb von Tubenfarben amerikanischer Fabriken verdankte, die außerhalb des Ateliers leichter zu handhaben waren, weil die Maler sie nicht mehr selbst anrühren mussten. Die Landschaftskunst der Barbizonisten, die so viele zivilisationsmüde Großstädter ansprach, war also nur möglich geworden durch Fortschritte der Industrie.
Doch der Untertitel des Buchs von Figes spricht von etwas anderem: "Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur". Die drei sind exemplarisch gewählt: der französische Kunsthistoriker Louis Viardot, seine Frau, die aus spanischer Familie stammende Sängerin Pauline Viardot-García, und beider Freund, der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew. Alle drei stehen für je einen Wirtschaftszweig des Kulturbetriebs: Kunstmarkt, Musikmarkt, Buchmarkt. Zugleich verkörpern sie ein besonderes Bild von Europa: Frankreich als Zentrum der Zivilisation, gerahmt von den asiatisch geprägten Rändern des Kontinents. Wer "Spanien" sagte, meinte immer auch Arabien; wer "Russland" sagte, dachte zugleich an Tataren und Mongolen. Alle drei Protagonisten waren europaweit aktiv, beherrschten mehrere Sprachen und vermittelten zwischen den Nationalkulturen, sorgten also auch für neue Marktzugänge von Kunst als Ware.
Figes verbindet, wie in einem großen Roman des neunzehnten Jahrhunderts, das Epochenbild der Zeit mit dem privaten Schicksal der drei, bis hin zu Spekulationen, dass Iwan Turgenjew der Vater von Paul Viardot sei. Turgenjew ist in diesem Trio ohne Zweifel seiner Leistung und Bildung nach die bedeutendste Figur. Er hat Enormes für die Verbreitung englischer und französischer Literatur in Russland und russischer Literatur in Frankreich getan. Zudem war er ein kenntnisreicher Musikvermittler. Er gab den Anstoß zu Georges Bizets "Carmen", kannte Brahms und Fauré; er machte Émile Zola in Russland zum Bestseller-Autor, noch bevor in Frankreich jemand von ihm wusste. Er setzte sich für Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski im Ausland ein. Sein russischer Landsmann, der Diplomat Maurice Prozor, tat von Dänemark aus Ähnliches für die skandinavischen Autoren Ibsen, Bang und Bjørnson.
Figes weiß auch hier wieder zu verblüffen: In keinem Land Europas wurde mehr Literatur übersetzt als in Russland. Dort las man früh George Sand und Charles Dickens, Heine, Goethe und Schiller. Umgekehrt machte Turgenjew 1871 während eines Besuches bei Alfred Lord Tennyson die Beobachtung, dass dieser von ausländischer Literatur gar nichts kannte. Und dies ist vielleicht der vernichtendste Befund bei Figes: Die Intelligenz gerade der Nationen, die sich das Europäertum besonders fett auf ihre Fahnen schrieben, hatte am wenigsten Kenntnis von anderen Ländern. Frankreich und Großbritannien schneiden in der Bilanz miserabel ab. Victor Hugo erscheint als Figur, für die Internationalismus immer nur bedeutet hat, die kulturelle Hegemonie Frankreichs zu sichern. Eine europäische Union war für ihn schon 1849 nur unter Frankreichs Führung denkbar.
Henry James, der schon als Jugendlicher in den Vereinigten Staaten das Werk Turgenjews zur Kenntnis genommen hatte, besuchte in Paris den Kreis um Gustave Flaubert, bei dem auch Turgenjew verkehrte. Er kam zu dem Schluss, dass der Russe der Einzige in dem Zirkel gewesen sei, der wirklich über eine europäische Bildung verfügt habe, und machte ihn zu seinem literarischen Idol. Nicht von ungefähr verwendet Figes den Titel von James' Roman "Die Europäer". Ein bis heute charakteristisches Lernund Kenntnisgefälle ist schon hier erfasst: Der Osten orientiert sich am Westen und weiß viel mehr über ihn als umgekehrt.
Man kann einige Flüchtigkeitsfehler in diesem Buch und seiner schön zu lesenden Übersetzung anmerken: etwa dass es in Petersburg kein Bolschoi-Theater, sondern nur ein Mariinski-Theater gibt, dass das westliche Preußen zwischen Köln und Hannover nicht "Westpreußen" ist oder dass es sich bei Peter Tschaikowskys Lied "Nichts als das einsame Herz" um Goethes "Nur wer die Sehnsucht kennt" handelt. Man könnte einwenden, dass ein antideutsches Ressentiment bedient werde mit der Ansicht, der Sieg Preußens gegen Frankreich 1870/71 habe die kosmopolitische Kultur in Europa beendet. Denn die Internationalisierung schritt auch danach unverdrossen fort, während Kosmopolitismus zuvor nichts anderes bedeutete als die kulturelle Vorherrschaft Frankreichs. Eher lässt sich wohl sagen, dass Kosmopolitismus und Nationalismus wohl seit den Napoleonischen Kriegen konkurrierende Strömungen im gesamten neunzehnten Jahrhundert - im Grunde bis heute - waren als dass sie einander abgelöst hätten.
Figes' Buch ist glänzend gebaut, faktenreich, nicht unbedingt stark in der Begriffsbildung, aber originell in der Erzählung. Es beschreibt auch, wie Zola, als abgebrühter Zyniker, zum Ekel Flauberts und Turgenjews früh den politischen Skandal als Marketingstrategie einsetzte. Auch hier kann unsere Gegenwart, man denke ans Regietheater, erfahren, wie sie wurde, was sie ist. Will man boshaft sein, erscheint sogar das "Europäertum" - der Anspruch, für ein kontinentales Publikum zu sprechen - als Reklame, um die Absatzmärkte für Kunst auszudehnen. Auf diese Ausweitung des Marktes antworteten dann die "nationalen Schulen" mit dem branding von unique selling points, um das Exotismusbedürfnis der anderen Nationen zu bedienen. Das ist ein erfrischend nüchterner, aber nie liebloser Blick auf die Kunst.
Orlando Figes: "Die Europäer". Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Verlag, Berlin 2020, 640 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Orlando Figes wirft einen aufschlussreich nüchternen, doch nie lieblosen Blick auf die Entstehung des europäischen Kulturbetriebs.
Von Jan Brachmann
Zur Rechtfertigungsideologie autonomer Kunst im bürgerlichen Zeitalter gehört, dass sie keinerlei äußeren Zwecken zu gehorchen habe, sondern nur ihren Eigengesetzlichkeiten folge. Orlando Figes aber, Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität London, kümmert sich wenig um solch innerästhetische Ventilationen der Eigenbedeutsamkeit von Kunst. Sein neuestes Buch, "Die Europäer", könnte, in Anlehnung an Max Weber, auch heißen "Die europäische Ästhetik und der Geist des Kapitalismus". Denn es beschreibt, durchaus von Karl Marx inspiriert, nichts weniger als die Herausbildung eines europäischen Buch-, Kunst- und Musikmarktes im neunzehnten Jahrhundert aufgrund mehrerer Revolutionen im Verkehr, der Industrie und des Vertriebswesens, will heißen: Kunst als marktkonforme Ware.
Mit der Pionierfahrt eines Dampflokzuges von Paris nach Brüssel am 13. Juni 1846 steigt Figes ein. Die Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, die in den folgenden Jahren fast den gesamten Kontinent zwischen den Britischen Inseln und dem Ural erschloss, ermöglichte es, dass immer größere Anteile der Bevölkerung reisen konnten. Mit ihr entstanden, zunächst in London und Paris, die Bahnhofsbuchhandlungen als Keimzelle einer neuen Einzelhandelsbranche. Taschenbücher lösten die Leinen- und Lederbände ab. Buchreihen entwickelten sich zu Sammlergegenständen, am erfolgreichsten Reclams Universalbibliothek aus Leipzig vom Jahr 1867 an. Ein Kanon des Klassischen entstand, weil sich Bücher in hoher Stückzahl drucken und billiger verkaufen ließen, wenn sie als gut verkäufliche Titel sicheren Umsatz versprachen.
Ähnliches geschah an den Opernhäusern: Das Reisen sorgte in den Metropolen für ein überregionales Publikum, welches es gestattete, Opernproduktionen länger im Spielplan zu halten, da es ständig neue Gäste gab. So haben die Eisenbahn und die durch sie bewirkte Marktveränderung großen Anteil an der Entstehung des Repertoirekanons. Die Opern Giuseppe Verdis - allen voran "La Traviata", "Rigoletto", "Il Trovatore" und "Aida" - gehörten früh zum internationalen Kernbestand dessen, was als Standard europäischer Zivilisation galt. Dazu - wenigstens zu ihrer Zeit - die Grand Opéras von Giacomo Meyerbeer. Mit der Erfindung der Lithographie, welche die Herstellung von Notendrucken vereinfachte, und dem Aufschwung des Klavierbaus, der für die Herstellung von Gussrahmen und Saiten wiederum von der Stahlindustrie abhing, ließen sich Opern-Potpourris massenhaft verbreiten für den häuslichen Gebrauch.
Das zu Geld gelangte Bürgertum interessierte sich auch in der Kunst nicht mehr für die Vorzugsgenres des alten Adels. Stattdessen stiegen Landschaftsbilder in der Gunst der Käufer. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird das Kunstwerk als Kapitalanlage entdeckt: Man kauft junge, unbekannte Maler in der Hoffnung, dass sie binnen kurzem so berühmt werden, dass man ihre Bilder gewinnbringend wieder verkaufen kann.
Durch den aufkommenden Kunstdruck wurden Meisterwerke zur Massenware. Gustave Courbet erfand gar, zu Reklamezwecken für eine Ausstellung 1853, die Kunstpostkarte. Zu den besonderen Pointen des Buchs von Figes gehört es, dass die Freiluftmalerei der Schule von Barbizon sich dem Vertrieb von Tubenfarben amerikanischer Fabriken verdankte, die außerhalb des Ateliers leichter zu handhaben waren, weil die Maler sie nicht mehr selbst anrühren mussten. Die Landschaftskunst der Barbizonisten, die so viele zivilisationsmüde Großstädter ansprach, war also nur möglich geworden durch Fortschritte der Industrie.
Doch der Untertitel des Buchs von Figes spricht von etwas anderem: "Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur". Die drei sind exemplarisch gewählt: der französische Kunsthistoriker Louis Viardot, seine Frau, die aus spanischer Familie stammende Sängerin Pauline Viardot-García, und beider Freund, der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew. Alle drei stehen für je einen Wirtschaftszweig des Kulturbetriebs: Kunstmarkt, Musikmarkt, Buchmarkt. Zugleich verkörpern sie ein besonderes Bild von Europa: Frankreich als Zentrum der Zivilisation, gerahmt von den asiatisch geprägten Rändern des Kontinents. Wer "Spanien" sagte, meinte immer auch Arabien; wer "Russland" sagte, dachte zugleich an Tataren und Mongolen. Alle drei Protagonisten waren europaweit aktiv, beherrschten mehrere Sprachen und vermittelten zwischen den Nationalkulturen, sorgten also auch für neue Marktzugänge von Kunst als Ware.
Figes verbindet, wie in einem großen Roman des neunzehnten Jahrhunderts, das Epochenbild der Zeit mit dem privaten Schicksal der drei, bis hin zu Spekulationen, dass Iwan Turgenjew der Vater von Paul Viardot sei. Turgenjew ist in diesem Trio ohne Zweifel seiner Leistung und Bildung nach die bedeutendste Figur. Er hat Enormes für die Verbreitung englischer und französischer Literatur in Russland und russischer Literatur in Frankreich getan. Zudem war er ein kenntnisreicher Musikvermittler. Er gab den Anstoß zu Georges Bizets "Carmen", kannte Brahms und Fauré; er machte Émile Zola in Russland zum Bestseller-Autor, noch bevor in Frankreich jemand von ihm wusste. Er setzte sich für Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski im Ausland ein. Sein russischer Landsmann, der Diplomat Maurice Prozor, tat von Dänemark aus Ähnliches für die skandinavischen Autoren Ibsen, Bang und Bjørnson.
Figes weiß auch hier wieder zu verblüffen: In keinem Land Europas wurde mehr Literatur übersetzt als in Russland. Dort las man früh George Sand und Charles Dickens, Heine, Goethe und Schiller. Umgekehrt machte Turgenjew 1871 während eines Besuches bei Alfred Lord Tennyson die Beobachtung, dass dieser von ausländischer Literatur gar nichts kannte. Und dies ist vielleicht der vernichtendste Befund bei Figes: Die Intelligenz gerade der Nationen, die sich das Europäertum besonders fett auf ihre Fahnen schrieben, hatte am wenigsten Kenntnis von anderen Ländern. Frankreich und Großbritannien schneiden in der Bilanz miserabel ab. Victor Hugo erscheint als Figur, für die Internationalismus immer nur bedeutet hat, die kulturelle Hegemonie Frankreichs zu sichern. Eine europäische Union war für ihn schon 1849 nur unter Frankreichs Führung denkbar.
Henry James, der schon als Jugendlicher in den Vereinigten Staaten das Werk Turgenjews zur Kenntnis genommen hatte, besuchte in Paris den Kreis um Gustave Flaubert, bei dem auch Turgenjew verkehrte. Er kam zu dem Schluss, dass der Russe der Einzige in dem Zirkel gewesen sei, der wirklich über eine europäische Bildung verfügt habe, und machte ihn zu seinem literarischen Idol. Nicht von ungefähr verwendet Figes den Titel von James' Roman "Die Europäer". Ein bis heute charakteristisches Lernund Kenntnisgefälle ist schon hier erfasst: Der Osten orientiert sich am Westen und weiß viel mehr über ihn als umgekehrt.
Man kann einige Flüchtigkeitsfehler in diesem Buch und seiner schön zu lesenden Übersetzung anmerken: etwa dass es in Petersburg kein Bolschoi-Theater, sondern nur ein Mariinski-Theater gibt, dass das westliche Preußen zwischen Köln und Hannover nicht "Westpreußen" ist oder dass es sich bei Peter Tschaikowskys Lied "Nichts als das einsame Herz" um Goethes "Nur wer die Sehnsucht kennt" handelt. Man könnte einwenden, dass ein antideutsches Ressentiment bedient werde mit der Ansicht, der Sieg Preußens gegen Frankreich 1870/71 habe die kosmopolitische Kultur in Europa beendet. Denn die Internationalisierung schritt auch danach unverdrossen fort, während Kosmopolitismus zuvor nichts anderes bedeutete als die kulturelle Vorherrschaft Frankreichs. Eher lässt sich wohl sagen, dass Kosmopolitismus und Nationalismus wohl seit den Napoleonischen Kriegen konkurrierende Strömungen im gesamten neunzehnten Jahrhundert - im Grunde bis heute - waren als dass sie einander abgelöst hätten.
Figes' Buch ist glänzend gebaut, faktenreich, nicht unbedingt stark in der Begriffsbildung, aber originell in der Erzählung. Es beschreibt auch, wie Zola, als abgebrühter Zyniker, zum Ekel Flauberts und Turgenjews früh den politischen Skandal als Marketingstrategie einsetzte. Auch hier kann unsere Gegenwart, man denke ans Regietheater, erfahren, wie sie wurde, was sie ist. Will man boshaft sein, erscheint sogar das "Europäertum" - der Anspruch, für ein kontinentales Publikum zu sprechen - als Reklame, um die Absatzmärkte für Kunst auszudehnen. Auf diese Ausweitung des Marktes antworteten dann die "nationalen Schulen" mit dem branding von unique selling points, um das Exotismusbedürfnis der anderen Nationen zu bedienen. Das ist ein erfrischend nüchterner, aber nie liebloser Blick auf die Kunst.
Orlando Figes: "Die Europäer". Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Verlag, Berlin 2020, 640 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Wunderwerk." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 26.2.2021
"... facettenreich und lebendig .... Große Geschichtsschreibung war schon immer große Erzählkunst. Auch Orlando Figes ist ein großer und kluger Erzähler." Peter Meisenberg, WDR3, 5.2.2021
"Unendlich spannend - auch mit Blick aufs Heute." Simon Hadler, ORF, 17.12.2020
"Wie entstand der gemeinsame europäische Kulturraum? Der angesehene britische Historiker Orlando Figes hat dieser kosmopolitischen Geschichte des Kontinent sein neues Werk gewidmet. Das Material, das seine Thesen untermauert, ist ungeheuer weit gestreut, jede Seite liefert neue Einsichten." Günther Haller, Presse am Sonntag, 29.11.2020
"Der Autor schafft es, die drei Biografien in ein großes Panorama zu betten und ein allgemeines Verständnis zu schaffen für die neue Art der Kulturproduktion, die im 19. Jahrhundert entstand. ... Figes' Buch ist ein Gewinn, gerade wenn man das ganze Panorama aus heutiger Warte betrachtet. Es zeigt nämlich nicht zuletzt auch eine Zeit, in der sich kulturelle Integration und nationaler Rückzug überkreuzten." Claudia Mäder, NZZ, 16.11.2020
"Figes ist selbst ein großer Erzähler. ... Die große Frage dieses wunderbaren und am Ende ziemlich melancholischen Buchs ist allerdings noch eine andere: Wenn Europa so wunderbar begann, warum flog der Kontinent dann im Ersten Weltkrieg auseinander? Figes beschreibt, wie die kosmopolitische Kultur mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zerbröselte." Tobias Rapp, Spiegel, 07.11.2020
"Orlando Figes ... gibt in 'Die Europäer' den souveränen Historiker, der die großen Bögen im Auge hat, auf vielen Themenfeldern enormes Detailwissen ausbreiten und gleichzeitig die große Geschichte auf die Vita einzelner Personen herunterbrechen kann. Der kühne Bauplan des Buches überzeugt, es liest sich gut, Figes bringt jede Menge Farbtupfen in Form von Geschichten und Zitaten ein und schildert überzeugend den technischen Epochenbruch." Alfred Pfoser, Falter, 23.10.20
"Figes' Buch ist glänzend gebaut, faktenreich ... ein erfrischend nüchterner, aber nie liebloser Blick auf die Kunst." Jan Brachmann, FAZ, 10.10.2020
"Ein monumentales, opulentes und ebenso gelehrsames wie unterhaltsames Werk." Sigrid Löffler, Radio Bremen, 11.10.2020
"Figes zeigt sich als glänzender, leichtfüßiger Erzähler mit einem genauen Auge für das scheinbar Nebensächliche, das erst Lebendigkeit erzeugt. Auf seiner Tour d'Horizon durch die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zerlegt Figes außerdem die These der Nationalisten, wonach es so etwas wie unverfälschte, nationale Kunst gebe. 'Die Europäer' ist ein leidenschaftliches Manifest für Völkerverständigung und Kulturaustausch." Roman Kaiser-Mühlecker, SWR2, 09.10.2020
"Orlando Figes gelingt ein faszinierendes, unglaublich detail- und faktenreiches Porträt einer Epoche." Klaus Nüchtern, ORF Radio Ö1, 25.09.20
"Der Historiker Orlando Figes hat ein opulentes Werk darüber geschrieben, was es bedeutet, Europäer zu sein. ... Diese Bruchlinien und Dynamiken anzuerkennen und zu reflektieren, um der eigenen Freiheit willen, dazu lädt Figes mit seiner fulminanten Studie ein. 'Die Europäer - Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur' eröffnet erneut und anders jene 'Welt von Gestern' - als eine noch lange nicht auserzählte Geschichte." Volkmar Mühleis, DLF, 20.09.2020
"... facettenreich und lebendig .... Große Geschichtsschreibung war schon immer große Erzählkunst. Auch Orlando Figes ist ein großer und kluger Erzähler." Peter Meisenberg, WDR3, 5.2.2021
"Unendlich spannend - auch mit Blick aufs Heute." Simon Hadler, ORF, 17.12.2020
"Wie entstand der gemeinsame europäische Kulturraum? Der angesehene britische Historiker Orlando Figes hat dieser kosmopolitischen Geschichte des Kontinent sein neues Werk gewidmet. Das Material, das seine Thesen untermauert, ist ungeheuer weit gestreut, jede Seite liefert neue Einsichten." Günther Haller, Presse am Sonntag, 29.11.2020
"Der Autor schafft es, die drei Biografien in ein großes Panorama zu betten und ein allgemeines Verständnis zu schaffen für die neue Art der Kulturproduktion, die im 19. Jahrhundert entstand. ... Figes' Buch ist ein Gewinn, gerade wenn man das ganze Panorama aus heutiger Warte betrachtet. Es zeigt nämlich nicht zuletzt auch eine Zeit, in der sich kulturelle Integration und nationaler Rückzug überkreuzten." Claudia Mäder, NZZ, 16.11.2020
"Figes ist selbst ein großer Erzähler. ... Die große Frage dieses wunderbaren und am Ende ziemlich melancholischen Buchs ist allerdings noch eine andere: Wenn Europa so wunderbar begann, warum flog der Kontinent dann im Ersten Weltkrieg auseinander? Figes beschreibt, wie die kosmopolitische Kultur mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zerbröselte." Tobias Rapp, Spiegel, 07.11.2020
"Orlando Figes ... gibt in 'Die Europäer' den souveränen Historiker, der die großen Bögen im Auge hat, auf vielen Themenfeldern enormes Detailwissen ausbreiten und gleichzeitig die große Geschichte auf die Vita einzelner Personen herunterbrechen kann. Der kühne Bauplan des Buches überzeugt, es liest sich gut, Figes bringt jede Menge Farbtupfen in Form von Geschichten und Zitaten ein und schildert überzeugend den technischen Epochenbruch." Alfred Pfoser, Falter, 23.10.20
"Figes' Buch ist glänzend gebaut, faktenreich ... ein erfrischend nüchterner, aber nie liebloser Blick auf die Kunst." Jan Brachmann, FAZ, 10.10.2020
"Ein monumentales, opulentes und ebenso gelehrsames wie unterhaltsames Werk." Sigrid Löffler, Radio Bremen, 11.10.2020
"Figes zeigt sich als glänzender, leichtfüßiger Erzähler mit einem genauen Auge für das scheinbar Nebensächliche, das erst Lebendigkeit erzeugt. Auf seiner Tour d'Horizon durch die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zerlegt Figes außerdem die These der Nationalisten, wonach es so etwas wie unverfälschte, nationale Kunst gebe. 'Die Europäer' ist ein leidenschaftliches Manifest für Völkerverständigung und Kulturaustausch." Roman Kaiser-Mühlecker, SWR2, 09.10.2020
"Orlando Figes gelingt ein faszinierendes, unglaublich detail- und faktenreiches Porträt einer Epoche." Klaus Nüchtern, ORF Radio Ö1, 25.09.20
"Der Historiker Orlando Figes hat ein opulentes Werk darüber geschrieben, was es bedeutet, Europäer zu sein. ... Diese Bruchlinien und Dynamiken anzuerkennen und zu reflektieren, um der eigenen Freiheit willen, dazu lädt Figes mit seiner fulminanten Studie ein. 'Die Europäer - Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur' eröffnet erneut und anders jene 'Welt von Gestern' - als eine noch lange nicht auserzählte Geschichte." Volkmar Mühleis, DLF, 20.09.2020