Während Fabriken in der Früh- und Hochindustrialisierung weitgehend als düstere Stätten der Arbeit galten, die vom Mittelstand so weit wie möglich gemieden wurden, zog es Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Besucherinnen und Besucher aus dem Bürgertum in die industriellen Produktionsstätten. Die Fabriken wandelten sich durch dieses Interesse von einem Ort der Produktion zu einer touristischen Attraktion. Daniela Mysliwietz-Fleiß arbeitet nicht nur erstmals den Ursprung der noch heute äußerst beliebten Betriebsbesichtigungen in Unternehmen verschiedener Branchen auf, sondern verknüpft zudem die Tourismus- mit der Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums. Die Arbeit wurde 2021 mit dem Conrad-Matschoß-Preis für Technikgeschichte ausgezeichnet. Der Verein Deutscher Ingenieure e.V. zeichnet mit diesem Preis hervorragende Arbeiten aus, die technikhistorische Fragen und ihre Relevanz einem weiten Rezipientenkreis näher bringen und innovative Beiträge zur Disziplin leisten.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Im Gegensatz zum Adel definierte sich das Bürgertum über diffusere Dinge als Geburt und Abstammung. Dieser Mangel an Verwurzelung ließ den Wunsch nach Abgrenzung, nach einem soliden Klassenbewusstein entstehen, weiß Rezensentin Anna Gielas nach der Lektüre von Daniela Mysliwietz-Fleiss' ausführlicher Abhandlung über die Touristenattraktion Fabrik. Die Suche nach einer klar konturierten kollektiven Identität war es denn auch, die laut Autorin die industriellen Fertigungsstätten für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts so interessant machten, lesen wir. Hier in der Hitze, im Ruß, im Lärm der Fabriken konnte sich eine Klasse "ihrer selbst versichern", referiert Gielas. Zugleich entstand so der moderne Tourismus. Die anschaulichen Ausführungen zu derlei gesellschaftlichen Veränderungen sind es, die Mysliwietz-Fleiss' Buch für die Rezensentin lesenswert machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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