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So muss es doch wohl gewesen sein: Peter Geimer sieht sich an, wie historische Ereignisse zu Bildern werden.
Als das ZDF vor einigen Wochen Matti Geschonnecks "Die Wannseekonferenz" sendete, stimmten viele Kritiken darin überein, dass sich hier ein dunkler Augenblick der Geschichte miterleben lasse. Da von der Konferenz einzig ein Ergebnisprotokoll existiert, lässt sich zwar nicht einschätzen, wie nahe ihre filmische Rekonstruktion an die historische Wirklichkeit heranreicht. Dennoch könne man sich der Wirkung dieses Fernsehfilms nur schwer entziehen.
In seinem soeben erschienenen Buch zeigt Peter Geimer, Professor für Kunstgeschichte an der FU Berlin und regelmäßiger Beiträger im Feuilleton dieser Zeitung, warum es sich lohnt, unser Verhältnis zur Vergangenheit insbesondere aus dem Blickwinkel der Bildtheorie zu betrachten. Gegenüber Geschonnecks filmischer Reinszenierung der Wannseekonferenz wurden immerhin auch deutliche Vorbehalte formuliert. Geimer nimmt solche Skepsis in monographischer Breite ernst und wendet sie in die grundsätzliche Frage, welche Vorstellung wir uns von einem historischen Geschehen machen, wenn es im Bild wiederaufersteht. Leopold Rankes Idee einer Geschichtsschreibung, die aufzeige, "wie es eigentlich gewesen" ist, wird heute bereits im Proseminar als kuriose Phantasie über die Möglichkeiten historiographischer Objektivierung entlarvt. Doch liegt die Vermutung nahe, dass sich dieser Wunsch gerade dann hartnäckig hält, wenn Bilder ins Spiel kommen.
Dabei sind die "Farben" im Titel von Geimers Buch mehr als eine Metapher: Die zweifelhafte Praxis hat sich etabliert, historische Fotografien und Filme nachträglich zu kolorieren. Für heftige Diskussionen sorgten gerade in jüngerer Zeit Bilder aus dem Warschauer Ghetto und aus den Hinrichtungslagern der Roten Khmer, die durch Farbe gewissermaßen 'aktualisiert' werden sollten. Im Überschreiben des Schwarz-Weiß wird eine historische Spur getilgt, mit ihr soll der historische Zeithorizont auf einen Punkt in unserer Gegenwart geschrumpft werden. Doch geht es Geimer nicht allein um eine Kritik dieser offenkundigen Verfälschung historischer Quellen. Vielmehr interessiert er sich für ein sonderbares Paradox: Ausgerechnet dort, wo solche nachträglichen Bearbeitungen mit dem Anspruch größtmöglicher historischer Authentizität verfolgt werden, entzieht sich die so umworbene Vergangenheit besonders hartnäckig.
Wenn es um eine ins Bild gefasste Vergangenheit geht, kann es schlicht ein Zuviel an Gegenwart geben. Diesen Gedanken entfaltet Geimer, indem er nicht allein Beispiele aus Fotografie und Film untersucht, sondern in zwei einleitenden Kapiteln Schlaglichter auf die Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts sowie die zur selben Zeit populären Geschichtspanoramen wirft. In solchen begehbaren Rundgemälden sollte Vergangenes als Geschichtsschauspiel erlebbar werden; und es ist gewiss kein Zufall, dass die von Geimer ausgezogene Linie bis in Rankes Zeit zurückreicht. Mit dem Geschichtsfernsehen unserer Zeit hatte der französische Maler Ernest Meissonier aber wohl gemeinsam, dass seinen Gemälden, in denen er Napoleon noch einmal zur Schlacht reiten ließ, nicht nur aus Gründen des oft bescheidenen Formats abgesprochen wurde, ganz große Kunst zu sein. Interessant ist das veritable Ausstattungstheater, das er in seinem Atelier inszenierte. Jeder Knopf und jede Sattelschnalle wollten so genau wie möglich studiert sein, bevor sie ins Bild gesetzt wurden. Da sich Meissonier - allen Ernstes aufgrund derselben Schenkelform - überdies für einen legitimen Wiedergänger Napoleons hielt, sah er sich berechtigt, das Bild des Kaisers nach seiner eigenen Figur zu formen.
In solchen Marotten der Authentizität legt Geimer einen Wunsch frei, der sich - bei aller augenfälligen Kuriosität - auch in unserer Gegenwart findet: Denn was ist eigentlich damit gewonnen, einen frei erdachten Verlauf der Wannseekonferenz als Fernsehspiel zu geben? Was lässt sich über historische Ereignisse erfahren, wenn wir auf sie wie durch ein Fenster zu blicken meinen? Geimers Buch interessiert sich dabei auffallend wenig für die seit wenigstens zwei Jahrzehnten entfaltete "Visual History" und deren Verfahren, die Vielfalt von Bildquellen zum Sprechen zu bringen. Er versteht sein Buch als Einspruch gegen eine popularisierende Geschichtsschreibung, die auf das ganz große Bild setzt, es mit verführerischen Wirklichkeitseffekten anfüllt und dabei historische Distanz einzig als ein Problem ansieht, das überwunden werden muss.
Mit guten Gründen hält Geimer solchen Phantasien eine Idee von Geschichte entgegen, die immer nur von Resten ausgehen kann und stets mit Leerstellen rechnen muss. Es wäre reizvoll gewesen, diesen Gegensatz noch stärker zeitdiagnostisch zu akzentuieren, also danach zu fragen, warum sich heute die visuellen Reanimationen von Geschichte solcher Popularität erfreuen. Sind es inzwischen nicht mehr die Geister der Vergangenheit, die die Gegenwart heimsuchen, sondern ist es gerade umgekehrt unsere eigene Zeit, die sich der historischen Quellen bemächtigt? Technologisch jedenfalls sehen wir uns hervorragend gerüstet: Fotografische Porträts lassen sich täuschend echt animieren, historische Filme können automatisch koloriert werden. Noch mündet dies oft genug in schwer erträglichen Kitsch. Peter Geimer erinnert in seinem lesenswerten Buch bereits jetzt daran, dass zukünftig wohl nichts so gegenwärtig sein wird wie die Vergangenheit. STEFFEN SIEGEL
Peter Geimer: "Die Farben der Vergangenheit". Wie Geschichte zu Bildern wird.
C.H. Beck Verlag,
München 2022. 304 S., Abb., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung, Achim Landwehr
"Peter Geimer beschreibt präzise und mit souveräner Kennerschaft, wie die technische Entwicklung der Bildmedien den täuschenden Eindruck erzeugt hat, als ob die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit überwindbar wäre. ... Die Leserin lernt, mit welchen Mitteln Bilder ihre unheimliche Verführungskraft entfalten - und ist vielleicht ein wenig mehr dagegen gewappnet."
Besondere Empfehlung von Barbara Stollberg-Rilinger auf der Sachbuch-Bestenliste von WELT, NZZ, RBB Kultur und ORF im August 2022
"Peter Geimer erinnert in seinem lesenswerten Buch bereits jetzt daran, dass zukünftig wohl nichts so gegenwärtig sein wird wie die Vergangenheit."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Steffen Siegel
"Der Kunsthistoriker Peter Geimer untersucht, wie Geschichte in Bildern festgehalten wird ... faszinierend"
Tagesspiegel, Bernhard Schulz
"Geimers gut und flüssig geschriebenes Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es ist ein 'Tableaux von Fallstudien'."
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Peter Körte
"Geimer ist ein guter Erzähler"
taz, Katrin Bettina Müller
"Der Berliner Kunsthistoriker Peter Geimer zeigt in seinem Band 'Die Farben der Vergangenheit', wie das in Gemälden und Fotos immer wieder versucht wurde - und warum es nicht gelingen kann."
Deutschlandfunk Kultur, Ingo Arend
"Eine gedankliche Fundgrube, nicht nur für Historiker und Geschichtslehrer - sondern auch für heutige Maler, Filmemacher oder Fotografen, wenn sie darüber sinnieren, was ihre Bilder einmal von der Welt des Jahres 2022 erzählen werden"
SWR 2 Lesenswert, Michael Kuhlmann
"Die Farben der Vergangenheit' ermöglicht einen Blick in einige der sonst nicht zugänglichen Werkstätte, in denen die Bilder für unser kollektives visuelles Gedächtnis hergestellt wurden und werden. Dass dabei nicht nur Sorgfalt und technisches Können nötig sind, sondern auch der Blick aufs Ganze und die Akzeptanz des Vergangenseins der Vergangenheit, zeigt Peter Geimer überzeugend."
ORF Hörfunk, Georg Renöckl
"Das Buch hilft, kritisch auf die Bildsprache der auf die Bildsprache der Vergangenheitsvergegenwärtigung zu blicken."
Göttinger Tageblatt, Kristian Teetz