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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mädchen
denken
Adam Thirlwells Roman
„Die fernere Zukunft“ erzählt von einer Frau,
die den Kampf gegen eine Welt aufnimmt,
in der für sie kein Platz vorgesehen ist.
VON FELIX STEPHAN
Auf der Plotebene handelt Adam Thirlwells fiebrig von allem Möglichen erzählender Roman „Die fernere Zukunft“ von einer Frau namens Celine, die die Französische Revolution durchlebt. Celine stellt bald fest, dass sie auch nach dem Epochenbruch immer noch eine Frau ist und dies in vielerlei Hinsicht nach wie vor ein Problem darstellt. Sie ist letztlich nur von einer Welt, die von Männern für Männer entworfen ist, in die nächste hinübergewechselt, in der die Tyrannei zwar niedergerungen ist und der Mensch in das Zeitalter der Freiheit aufbricht, sie aber nicht besser dasteht als vorher. Der nur auf den ersten Blick trivialen Beobachtung, dass das konkrete Erlebnis einzelner Zeitzeugen von der epochalen Großerzählung namens Geschichte oft sehr verschieden ist, hat der Historiker Reinhart Koselleck einige Essays gewidmet, und vor diesem Hintergrund ist vermutlich auch dieser Roman zu lesen. Der Originaltitel „The Future Futures“ bezieht sich direkt auf den Titel von Kosellecks Aufsatzsammlung „Die vergangene Zukunft“.
Celine empfindet ihre Rolle auch deshalb als so entwürdigend, weil sie eigentlich ganz gern eine Frau ist, nur „manchmal wünschte sie sich, ein Mann zu sein, nicht wirklich und nicht immer, aber manchmal doch, einfach wegen der Freiheit und der Leichtigkeit. Sie konnte nicht lässig sein, nicht auf die Art und Weise, wie Männer in der Welt existieren konnten“. Celines Verhältnis zur Welt ist vielmehr geprägt von permanenter Gefechtsbereitschaft. Wie eine Feldherrin ahnt sie Verschiebungen im Machtgefüge frühzeitig voraus und versucht, sie strategisch zu kontern, weil ihr eben immer, immer, immer von irgendwoher Gefahr droht, und zwar in der Regel von Männern, die sie denunzieren, einsperren oder sich zum Beispiel an ihr rächen wollen, weil sie irgendwann einmal ihre Avancen zurückgewiesen hat. Noch der geringste unter ihnen hätte theoretisch die Macht, ihre Existenz mit ein paar geschickten Handgriffen zu vernichten. Der Roman setzt in den letzten Tagen des Ancien Régime ein, begleitet Céline dann ins amerikanische Exil, und als sie wieder in ihre Heimatstadt zurückkehrt, regiert dort schon Napoleon. Zum Gestaltungsprinzip gehört aber auch, dass der historische Hintergrund unentwegt andere Epochen durchscheinen lässt, in denen der Roman genauso gut hätte spielen können. Celines Ehemann ist ein eitler „Faschist“, zu ihren Verehrern gehört unter anderem ein einflussreicher Mann, der beruflich „Produzent“ ist. Und am Anfang sieht sich Celine einer anonymen Schmutzkampagne ausgesetzt – kleinen Pornoheftchen, die ihr unterschiedliche Affären andichten und in der ganzen Stadt verteilt werden, und fundamental anders funktionieren Mobbingkampagnen gegen Frauen in den sozialen Netzwerken oder Desavouierungsoperationen einstiger sozialistischer Inlandsgeheimdienste auch nicht.
Man kann sich das vielleicht wie in Sofia Coppolas Film „Marie Antoinette“ vorstellen, in dem auf einmal unter all dem Plüsch und Velours in Versailles Converse Chucks zu sehen sind. Oder in Dominik Grafs Film „Fabian“, der in den Zwanzigerjahren spielt, in dem aber trotzdem schon Stolpersteine auf dem Bürgersteig eingelassen sind. Oder eben wie bei Reinhart Koselleck, der den Gedanken, dass historische Sinnzusammenhänge nicht unbedingt ordentlich aufeinanderfolgen, sondern größtenteils nebeneinander her existieren, mit dem Bild der Altbauten und Neubauten illustriert hatte, die in denselben Straßen direkt nebeneinanderstehen, aber jeweils völlig unterschiedliche Zeithorizonte aufrufen.
Um sich gegen die Flut an Texten zur Wehr zu setzen, richtet Celine, die konsequent ohne accent geschrieben wird, regelmäßig Partys aus, mit dem Ziel, Schriftsteller in ihrem Orbit kreisen zu lassen, denn: „in einer Welt, die aus Schrift besteht, können boshafte Texte nur durch noch mehr Texte ausgelöscht werden“. Als sich die Partys zu einem Erfolg entwickeln und sich schließlich sogar der Polizeichef blickenlässt, stellt Celine in Gedanken die Andy-Warhol-These auf, „dass die Party eine Kunstform war, wie es auch die Konversation war: absolut, anspruchsvoll – und unterschätzt, denn sie war eine Kunstform, die Frauen entwickelt hatten.“
Auf diese Weise gewinnt sie langsam so etwas wie Autonomie. Dann wird sie schwanger. Und die Revolution bricht aus. Ihre Freunde werden mit Prozessen überzogen oder leben längst im Ausland, und Celine entgleitet wieder alles. Selbst die Beziehung zu ihrer besten Freundin Marta, mit der eben noch eine Intimität möglich war, die sie in atemloses Staunen versetzte, geht klanglos in die Brüche: „Plötzlich fand Celine, dass sie nicht mehr sprechen konnten. Es war, als ob Marta ihr vorwerfe, zu sehr wie ein Mädchen zu denken, nicht die Macht an sich zu reflektieren, und das ärgerte Celine sehr, denn sie hatte das Gefühl, dass sie am intensivsten die Macht reflektierte, wenn sie wie ein Mädchen dachte.“
Die Wirklichkeit stellt sich Celine als dreidimensionales Sprachspiel mit einer unbekannten Anzahl von Teilnehmern dar, in dem der Einsatz der eigene Körper ist und in dem man ganz konkret draufgehen kann. Als die Revolution ihre zweite oder dritte Umdrehung genommen hat und sich schon eine allgemeine Ermüdung ob der Machtunordnung andeutet, die bald den Weg für einen neuen Alleinherrscher frei machen wird, beschreibt Thirlwell das Problem der neu errungenen Freiheit so: „Es war, als bestünde das Problem darin, wie man eine Geschichte erzählt, und niemand wusste mehr, wie man eine Geschichte erzählt, die andere Menschen nicht ausschließt oder verletzt. Es gab viele Geschichten, die sich überschnitten, und das war, so dachte Celine, vielleicht das Spannende, allerdings auch das Gefährliche. Es gab immer eine Bewegung zwischen Hinter- und Vordergrund, sodass man nicht sicher sein konnte, wo genau man sich im Bild befand.“
Alles entscheidet sich in und mittels der Sprache. In den Büros der Exekutivkomitees, die unter Napoleon ihre Bürger terrorisieren, als sei er ein zu früh geborener Josef Stalin, ist das Hauptinstrument stets Papier. Und auch als sich nach dem Tod Napoleons eine neue Weltordnung formiert und das Zeitalter der Kongresse und der Diplomatie anhebt, stürzt sich das ganze Land erleichtert in eine Zukunft, die aus einer „nicht enden wollenden Reihe von auszuhandelnden Verträgen“ besteht. Die Magie dieses Moments besteht darin, das entgeht den Figuren nicht, dass jetzt eine Verfassung geschrieben werden muss, gleichzeitig „aber nichts Verfassungsmäßiges daran war, eine Verfassung zu schreiben“.
Celine will an dieser Stelle eigentlich nur noch ihre Ruhe haben und ein Haus auf dem Land bewohnen, aber immer noch flattert gelegentlich ein Haftbefehl herein, wegen Aufruhr oder Steuersachen. Einst bemächtigte sie sich der Sprache, um Autonomie zu erlangen, jetzt gehört die Sprache wieder den Mächtigen. In einem Brief an eine Freundin formuliert sie aus diesem Anlass ein neues, radikales Programm. Der Brief besteht nur aus einer einzigen Zeile, in dem Roman ist sie kursiv gesetzt: „Wenn die Sprache an ihr Ende gekommen ist, schrieb Celine, dann ist das für mich in Ordnung.“
„Wenn die
Sprache
an ihr Ende
gekommen
ist, dann ist
das für mich
in Ordnung.“
Adam Thirlwell:
Die fernere Zukunft.
Roman. Aus dem
Englischen von Jan Wilm.
S. Fischer,
Frankfurt 2023.
387 Seiten, 26 Euro.
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