Europa irrt, wenn es den Brexit als Betriebsunfall betrachtet. Die Briten, heißt es auf dem Kontinent, befinden sich auf einem Irrweg. Mit dem Abschied von der EU hätten sie ihren Ruf als vernünftige, pragmatische Nation verspielt. Stimmt das? Oder erleben wir gerade das Gegenteil: dass unsere Nachbarn ihren sprichwörtlichen «Common Sense» nur neu und kühn vermessen? Jochen Buchsteiner nimmt in diesem pointierten Buch den Brexit unter die Lupe und kommt zu dem Ergebnis, dass er gar nicht so irrational ist. Auch wenn er die Geschäfte auf beiden Seiten des Kanals erschwert - er fußt auf nachvollziehbaren und redlichen Motiven, die in der Nationalgeschichte und in der Geographie des Königreichs wurzeln. Buchsteiner analysiert dieses «Anderssein», das die Briten leidenschaftlicher auf die Freiheit und kühler auf Europa blicken lässt. Der Brexit, so eine These des Essays, ist nicht das Resultat einer «populistischen Verführung», sondern folgt berechtigter Kritik am Zustand der EU und wehrt sich gegen Fehlentwicklungen des «liberalen Modells». Indem die Briten ihre Souvernität und Identität über den Wohlstand stellen, kehren sie die Prioritäten einer europäischen Einigungslogik um, die in der Krise steckt. Niemand, schreibt Buchsteiner, kann wissen, wohin der Aufbruch der Briten führt. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Insel eine Entwicklung vorwegnimmt, die dem Festland noch bevorsteht. Die Europäer sollten mit Neugier und Demut reagieren, nicht mit Spott und Strafe. Großbritannien den Abschied so schmerzhaft wie möglich zu machen, ist unsouverän und kurzsichtig. Die Skepsis am Status quo, die dem Brexit zugrunde liegt, wächst auch in den Reihen der verbleibenden Mitgliedstaaten. Wenn der britische Abschied nicht das Ende der EU einleiten soll, muss sie Lehren aus ihm ziehen und umsteuern.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2018JOCHEN BUCHSTEINER, Politischer Korrespondent dieser Zeitung in London, hat ein Buch über den Brexit geschrieben. "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie" erscheint in der Endphase der Austrittsgespräche des Königreichs mit der EU, aber die Verhandlungen stehen nicht im Zentrum des Essays. Im ersten Kapitel analysiert es das Votum von 2016 und beschäftigt sich vor allem mit den Argumenten der Brexit-Befürworter. Das zweite Kapitel beleuchtet die "Wurzeln des Andersseins". Im Schlusskapitel widmet sich der Autor den Folgen des Brexits, die er nicht nur negativ sieht. Britanniens Votum für mehr nationale Souveränität sieht er als Teil eines Trends, der die EU zum Wandel zwinge. Die EU werde sich in die Richtung entwickeln, die sich London immer gewünscht habe.
Jochen Buchsteiner: "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie". Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 141 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jochen Buchsteiner: "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie". Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 141 S., 16,- [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2018Über
die Aussteiger
Der Brexit regt an zu pointierten Streitschriften,
aber auch zur nüchternen Analyse. Ein Überblick
VON ALEXANDER MENDEN
Der britische Rückzug aus der Europäischen Union ist, je nach Einschätzung, ein mutiger Schritt in die nationale Unabhängigkeit von einem nicht demokratisch legitimierten „Superstaat“ oder der drastischste Akt politischer Selbstbeschädigung in der britischen Nachkriegsgeschichte. In jedem Fall ist sein Ausgang trotz der von der EU bereits abgesegneten Ausstiegsmodalitäten nicht weniger ungewiss als am 24. Juni 2016, dem Tag nach dem britischen EU-Referendum. Ob der von Theresa May akzeptierte Deal am 11. Dezember vom britischen Unterhaus ebenfalls ratifiziert wird, ist sehr fraglich, was danach kommt, ist vollkommen offen. Dennoch war es unvermeidlich, dass Brexit, einer der bizarrsten und potenziell folgenreichsten politischen Vorgänge unserer Zeit, auch im deutschen Sprachraum rasch eine Reihe erklärender (und verklärender) Bücher nach sich ziehen würde.
Tessa Szyszkowitz, Historikerin und Autorin für österreichische Publikationen wie Profil und Falter, ist sichtlich bemüht, eine Balance zwischen Alltagsbeobachtung, Verständlichkeit und Analyse zu bieten. „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“ lautet der Titel ihres Buches, in dem sie vor allem einen Überblick über Voraussetzungen des Brexit-Referendums und die innenpolitischen Faktoren der derzeitigen verfahrenen Situation zu geben versucht. In leicht verdaulichen Kurzabschnitten werden sämtliche britischen Zentralthemen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte betrachtet: Kolonialismus und das Verhältnis zu den USA, die abgehängten Regionen und die Londoner Ausnahmestellung, polnische Handwerker und russische Oligarchen, der Rechtsruck der Tories und der Linksruck von Labour, Ukip, die Queen und, natürlich, die EU. Das meiste ist wohlinformiert und ausgewogen, eine gute Einführung, wenn Kenner der Materie auch wenig Neues erfahren werden.
Einige Einschätzungen, zu denen Szyszkowitz gelangt, sind allerdings nicht ganz nachzuvollziehen. Die Einschätzung, ein komplexes Gebilde wie das Vereinigte Königreich habe „heute einen altmodischen, konservativen Touch“, ist unpräzise und spielt denkfaulen Klischees in die Hände. Zudem nennt die Autorin den derzeitigen Innenminister Sajid Javid als Beispiel für den Aufstieg eines nicht weißen Immigrantenkindes in die Regierung. Wenn sie betont, Javid habe die von Theresa May ausgerufene „feindliche Umgebung“ umgehend abgeschafft, erweckt sie den Eindruck, Javid sei ein gemäßigter Realpolitiker. In Wirklichkeit steht er weitgehend in Mays innenpolitischer Tradition, vor allem, was ihre extrem restriktive Haltung zur Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU angeht – sein sogenanntes „settlement scheme“ für Europäer, die bereits im Vereinigten Königreich leben, ist mit vielen administrativen Hürden und reduzierten Rechten verbunden.
Die Darstellung des sogenannten Windrush-Skandals, in dessen Verlauf Menschen aus der Karibik, die ihr ganzes Leben in Großbritannien verbracht hatten, plötzlich ausgewiesen wurden, ist hingegen präzise und beleuchtet exemplarisch die chaotische Einwanderungspolitik der Insel. Nicht zuletzt aus dieser erklärt sich auch die Ungläubigkeit ehemaliger Kolonien angesichts der Überzeugung vieler Brexit-Fans, die Commonwealth-Struktur werde als Blaupause für ein künftiges globales Handelsnetzwerk mit England in seinem Zentrum dienen. „Nach der Erfahrung von Empire 1.0 kann ich wirklich nicht verstehen, warum irgendjemand gedacht hat, dass Empire 2.0 eine gute Marketingstrategie sein könnte“, zitiert Tessa Szyszkowitz den indischen Autor und Politiker Shashi Tharoor. Das Ergebnis, zu dem die Autorin selbst kommt, ist so folgerichtig wie korrekt: „Alles, was den Briten heilig ist, wird durch den EU-Austritt infrage gestellt. Demokratie, Parlament, Toleranz, selbst die sprichwörtliche Gelassenheit. Die alten Sicherheiten gelten nicht mehr. Das EU-Votum zeigte 2016, dass die Briten keine klaren Vorstellungen mehr haben, wer sie eigentlich sind.“
Steht einem der Sinn nach einer den Prognosen der Mehrheit der Beobachter sich entschlossen entgegenstemmenden Bewertung, so greife man zu Jochen Buchsteiners Essay „Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie“. Hier erhält man zugleich einen recht guten Einblick in die Haltung der borniertesten unter den Ultra-Brexiteers wie Jacob Rees-Mogg, David Davis oder Dominic Raab, die der Londoner Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sich stellenweise zu eigen macht.
Ausführungen wie jene, der Brexit sei „weniger ein Abbruch der Beziehungen zu Europa als ein Aufbruch“, die Briten wollten künftig den Kontinent als „Freund an der Seite“ haben, wenn sie sich „(wieder) verstärkt den Regionen in Asien und Afrika“ zuwenden, decken sich eins zu eins mit der Einschätzung des Handelsministers Liam Fox. Der hatte allerdings auch vorhergesagt, ein Abkommen mit der EU werde „das leichteste in der Geschichte der Menschheit“ werden. Ausgerechnet den zurückgetretenen Brexit-Minister Davis, den ein konservativer Parteifreund einmal sehr treffend als „dumm wie Hackfleisch“ bezeichnete, sieht der Autor als Repräsentanten von „Cool Britannia“ (ein untrennbar mit Tony Blair, der bête noire der Tories, verknüpfter Begriff), der bei den Brexit-Verhandlungen auf einen „steifen, manchmal etwas schwermütigen Kontinent“ getroffen sei. Dass Davis stets völlig unvorbereitet in die Gespräche ging, sieht Buchsteiner nicht etwa als Ausweis von Inkompetenz, sondern von „Flexibilität“.
Dabei decken sich viele seiner Beobachtungen mit denen von Tessa Szyszkowitz: So konstatiert er, die „dunkleren Kapitel der nationalen Erzählung“ seien unterrepräsentiert: „Sklavenhandel und Kolonialverbrechen führen sowohl in den Museen als auch in Schul-Curricula ein stiefmütterliches Dasein.“ Die Schlussfolgerung fällt jedoch anders aus: „Der Verlust des Empires und die lange wirtschaftliche Schwäche, die dem Zweiten Weltkrieg folgte, haben die Briten verdrossen, aber nicht wirklich verunsichert“, meint Jochen Buchsteiner.
Den vermeintlich ungetrübten britischen Patriotismus (tatsächlich ist dieser Begriff in einem sich aus mehreren Nationen zusammensetzenden Gebilde natürlich ein Widerspruch in sich) scheint er angesichts der „europäischen Integrationsgymnastik“ als wohltuend zu empfinden. An solcherart nationalem Gemeinschaftsgefühl könnten die Deutschen sich seiner Meinung nach ein Beispiel nehmen. Der Brexit erscheint bei Buchsteiner so letztlich nicht nur als heilsames Korrektiv für den völlig aus dem Ruder laufenden EU-Kurs, sondern sogar als möglicher Katalysator eines wiedererwachenden deutschen Nationalstolzes.
Als Gegengewicht zu den beiden einander in ihren Schlussfolgerungen zwar diametral entgegengesetzten, aber gleichermaßen meinungsstarken Bänden dient (auch, was die Länge angeht) „Brexit aus Versehen – Europäische Union zwischen Desintegration und neuer EU“ von Paul Welfens. Der Wuppertaler Volkswirtschaftler legt eine ebenso konsequent sachliche wie für Leser, die sich einen allgemeinen Überblick verschaffen wollen, womöglich etwas zu detailreiche Analyse aus wirtschaftlicher Sicht vor. Dennoch ist es wichtig, dass auch ein ausgewiesener Experte in nachgerade exquisit leidenschaftslosem Duktus darauf hinweist, wie hohl die Behauptung Theresa Mays und vieler „Euroskeptiker“ ist, man verlasse „zwar die EU, aber nicht Europa“. Die geografische Nähe habe „die Intensität des Außenhandels“ sowie „Direktinvestitionen multinationaler Unternehmen begünstigt“, so Welfens. Der größte Teil der Investitionen im Vereinigten Königreich komme aus EU-27-Ländern: „Der britische EU-Austritt heißt, dass ein Teil des Handelsnetzwerks mit den EU-27-Ländern entwertet und auch zerstört wird.“
Eingedenk der Brexit-Entwicklung in all ihren irrsinnigen Volten, die kommende Woche auf einen neuen Höhepunkt zusteuert, wirkt der Stil dieses mehr als 500 dicht bedruckte Seiten umfassenden Werkes bisweilen fast amüsant. „Da der No-Deal-Fall für UK hohe Wohlfahrtsverluste bedeutet, gibt es einen gewissen Anreiz für die May-Regierung, diesen Fall zu vermeiden“, konstatiert Welfens. „Allerdings sind möglicherweise auch die internen Konflikte der May-Regierung relativ groß.“ Trockener kann man die möglichen Katastrophenszenarien von Flugverboten für britische Airlines, Medizin- und Nahrungsknappheit sowie unendliche Lastwagenschlangen an den Fährhäfen von Dover und Calais im Falle eines No Deal einerseits und den offenen Bürgerkrieg innerhalb der Konservativen Partei andererseits kaum umreißen.
Jedes Buch über den Brexit kann derzeit nur eine Momentaufnahme, eine notwendigerweise begrenzte und voreingenommene Innenansicht einer heiß laufenden Phase der Geschichte sein. Die Autoren der vorliegenden Bände werden in Zukunft aber immerhin darauf verweisen können, so ziemlich am Anfang einer gewaltigen Flut von Büchern über diese Phase gestanden zu haben.
Man erhält einen guten Einblick
in die Haltung der borniertesten
unter den Ultra-Brexiteers
Trockener kann man
die Katastrophenszenarien
nicht schildern
Tessa Szyszkowitz:
Echte Engländer.
Britannien und der Brexit. Picus-Verlag, Wien 2018. 264 Seiten, 22 Euro.
Jochen Buchsteiner:
Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie. Rowohlt, Reinbek 2018. 144 Seiten, 16 Euro.
E-Book: 12,99 Euro.
Paul Welfens:
Brexit aus Versehen – Europäische Union
zwischen Desintegration und neuer EU. Springer-Verlag, Berlin 2018.
568 Seiten, 19,99 Euro.
E-Book: 14,99 Euro.
Schwere Last: Premierministerin Theresa May nach einer Pressekonferenz in Brüssel am 25. November.
Foto: EMMANUEL DUNAND/AFP
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die Aussteiger
Der Brexit regt an zu pointierten Streitschriften,
aber auch zur nüchternen Analyse. Ein Überblick
VON ALEXANDER MENDEN
Der britische Rückzug aus der Europäischen Union ist, je nach Einschätzung, ein mutiger Schritt in die nationale Unabhängigkeit von einem nicht demokratisch legitimierten „Superstaat“ oder der drastischste Akt politischer Selbstbeschädigung in der britischen Nachkriegsgeschichte. In jedem Fall ist sein Ausgang trotz der von der EU bereits abgesegneten Ausstiegsmodalitäten nicht weniger ungewiss als am 24. Juni 2016, dem Tag nach dem britischen EU-Referendum. Ob der von Theresa May akzeptierte Deal am 11. Dezember vom britischen Unterhaus ebenfalls ratifiziert wird, ist sehr fraglich, was danach kommt, ist vollkommen offen. Dennoch war es unvermeidlich, dass Brexit, einer der bizarrsten und potenziell folgenreichsten politischen Vorgänge unserer Zeit, auch im deutschen Sprachraum rasch eine Reihe erklärender (und verklärender) Bücher nach sich ziehen würde.
Tessa Szyszkowitz, Historikerin und Autorin für österreichische Publikationen wie Profil und Falter, ist sichtlich bemüht, eine Balance zwischen Alltagsbeobachtung, Verständlichkeit und Analyse zu bieten. „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“ lautet der Titel ihres Buches, in dem sie vor allem einen Überblick über Voraussetzungen des Brexit-Referendums und die innenpolitischen Faktoren der derzeitigen verfahrenen Situation zu geben versucht. In leicht verdaulichen Kurzabschnitten werden sämtliche britischen Zentralthemen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte betrachtet: Kolonialismus und das Verhältnis zu den USA, die abgehängten Regionen und die Londoner Ausnahmestellung, polnische Handwerker und russische Oligarchen, der Rechtsruck der Tories und der Linksruck von Labour, Ukip, die Queen und, natürlich, die EU. Das meiste ist wohlinformiert und ausgewogen, eine gute Einführung, wenn Kenner der Materie auch wenig Neues erfahren werden.
Einige Einschätzungen, zu denen Szyszkowitz gelangt, sind allerdings nicht ganz nachzuvollziehen. Die Einschätzung, ein komplexes Gebilde wie das Vereinigte Königreich habe „heute einen altmodischen, konservativen Touch“, ist unpräzise und spielt denkfaulen Klischees in die Hände. Zudem nennt die Autorin den derzeitigen Innenminister Sajid Javid als Beispiel für den Aufstieg eines nicht weißen Immigrantenkindes in die Regierung. Wenn sie betont, Javid habe die von Theresa May ausgerufene „feindliche Umgebung“ umgehend abgeschafft, erweckt sie den Eindruck, Javid sei ein gemäßigter Realpolitiker. In Wirklichkeit steht er weitgehend in Mays innenpolitischer Tradition, vor allem, was ihre extrem restriktive Haltung zur Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU angeht – sein sogenanntes „settlement scheme“ für Europäer, die bereits im Vereinigten Königreich leben, ist mit vielen administrativen Hürden und reduzierten Rechten verbunden.
Die Darstellung des sogenannten Windrush-Skandals, in dessen Verlauf Menschen aus der Karibik, die ihr ganzes Leben in Großbritannien verbracht hatten, plötzlich ausgewiesen wurden, ist hingegen präzise und beleuchtet exemplarisch die chaotische Einwanderungspolitik der Insel. Nicht zuletzt aus dieser erklärt sich auch die Ungläubigkeit ehemaliger Kolonien angesichts der Überzeugung vieler Brexit-Fans, die Commonwealth-Struktur werde als Blaupause für ein künftiges globales Handelsnetzwerk mit England in seinem Zentrum dienen. „Nach der Erfahrung von Empire 1.0 kann ich wirklich nicht verstehen, warum irgendjemand gedacht hat, dass Empire 2.0 eine gute Marketingstrategie sein könnte“, zitiert Tessa Szyszkowitz den indischen Autor und Politiker Shashi Tharoor. Das Ergebnis, zu dem die Autorin selbst kommt, ist so folgerichtig wie korrekt: „Alles, was den Briten heilig ist, wird durch den EU-Austritt infrage gestellt. Demokratie, Parlament, Toleranz, selbst die sprichwörtliche Gelassenheit. Die alten Sicherheiten gelten nicht mehr. Das EU-Votum zeigte 2016, dass die Briten keine klaren Vorstellungen mehr haben, wer sie eigentlich sind.“
Steht einem der Sinn nach einer den Prognosen der Mehrheit der Beobachter sich entschlossen entgegenstemmenden Bewertung, so greife man zu Jochen Buchsteiners Essay „Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie“. Hier erhält man zugleich einen recht guten Einblick in die Haltung der borniertesten unter den Ultra-Brexiteers wie Jacob Rees-Mogg, David Davis oder Dominic Raab, die der Londoner Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sich stellenweise zu eigen macht.
Ausführungen wie jene, der Brexit sei „weniger ein Abbruch der Beziehungen zu Europa als ein Aufbruch“, die Briten wollten künftig den Kontinent als „Freund an der Seite“ haben, wenn sie sich „(wieder) verstärkt den Regionen in Asien und Afrika“ zuwenden, decken sich eins zu eins mit der Einschätzung des Handelsministers Liam Fox. Der hatte allerdings auch vorhergesagt, ein Abkommen mit der EU werde „das leichteste in der Geschichte der Menschheit“ werden. Ausgerechnet den zurückgetretenen Brexit-Minister Davis, den ein konservativer Parteifreund einmal sehr treffend als „dumm wie Hackfleisch“ bezeichnete, sieht der Autor als Repräsentanten von „Cool Britannia“ (ein untrennbar mit Tony Blair, der bête noire der Tories, verknüpfter Begriff), der bei den Brexit-Verhandlungen auf einen „steifen, manchmal etwas schwermütigen Kontinent“ getroffen sei. Dass Davis stets völlig unvorbereitet in die Gespräche ging, sieht Buchsteiner nicht etwa als Ausweis von Inkompetenz, sondern von „Flexibilität“.
Dabei decken sich viele seiner Beobachtungen mit denen von Tessa Szyszkowitz: So konstatiert er, die „dunkleren Kapitel der nationalen Erzählung“ seien unterrepräsentiert: „Sklavenhandel und Kolonialverbrechen führen sowohl in den Museen als auch in Schul-Curricula ein stiefmütterliches Dasein.“ Die Schlussfolgerung fällt jedoch anders aus: „Der Verlust des Empires und die lange wirtschaftliche Schwäche, die dem Zweiten Weltkrieg folgte, haben die Briten verdrossen, aber nicht wirklich verunsichert“, meint Jochen Buchsteiner.
Den vermeintlich ungetrübten britischen Patriotismus (tatsächlich ist dieser Begriff in einem sich aus mehreren Nationen zusammensetzenden Gebilde natürlich ein Widerspruch in sich) scheint er angesichts der „europäischen Integrationsgymnastik“ als wohltuend zu empfinden. An solcherart nationalem Gemeinschaftsgefühl könnten die Deutschen sich seiner Meinung nach ein Beispiel nehmen. Der Brexit erscheint bei Buchsteiner so letztlich nicht nur als heilsames Korrektiv für den völlig aus dem Ruder laufenden EU-Kurs, sondern sogar als möglicher Katalysator eines wiedererwachenden deutschen Nationalstolzes.
Als Gegengewicht zu den beiden einander in ihren Schlussfolgerungen zwar diametral entgegengesetzten, aber gleichermaßen meinungsstarken Bänden dient (auch, was die Länge angeht) „Brexit aus Versehen – Europäische Union zwischen Desintegration und neuer EU“ von Paul Welfens. Der Wuppertaler Volkswirtschaftler legt eine ebenso konsequent sachliche wie für Leser, die sich einen allgemeinen Überblick verschaffen wollen, womöglich etwas zu detailreiche Analyse aus wirtschaftlicher Sicht vor. Dennoch ist es wichtig, dass auch ein ausgewiesener Experte in nachgerade exquisit leidenschaftslosem Duktus darauf hinweist, wie hohl die Behauptung Theresa Mays und vieler „Euroskeptiker“ ist, man verlasse „zwar die EU, aber nicht Europa“. Die geografische Nähe habe „die Intensität des Außenhandels“ sowie „Direktinvestitionen multinationaler Unternehmen begünstigt“, so Welfens. Der größte Teil der Investitionen im Vereinigten Königreich komme aus EU-27-Ländern: „Der britische EU-Austritt heißt, dass ein Teil des Handelsnetzwerks mit den EU-27-Ländern entwertet und auch zerstört wird.“
Eingedenk der Brexit-Entwicklung in all ihren irrsinnigen Volten, die kommende Woche auf einen neuen Höhepunkt zusteuert, wirkt der Stil dieses mehr als 500 dicht bedruckte Seiten umfassenden Werkes bisweilen fast amüsant. „Da der No-Deal-Fall für UK hohe Wohlfahrtsverluste bedeutet, gibt es einen gewissen Anreiz für die May-Regierung, diesen Fall zu vermeiden“, konstatiert Welfens. „Allerdings sind möglicherweise auch die internen Konflikte der May-Regierung relativ groß.“ Trockener kann man die möglichen Katastrophenszenarien von Flugverboten für britische Airlines, Medizin- und Nahrungsknappheit sowie unendliche Lastwagenschlangen an den Fährhäfen von Dover und Calais im Falle eines No Deal einerseits und den offenen Bürgerkrieg innerhalb der Konservativen Partei andererseits kaum umreißen.
Jedes Buch über den Brexit kann derzeit nur eine Momentaufnahme, eine notwendigerweise begrenzte und voreingenommene Innenansicht einer heiß laufenden Phase der Geschichte sein. Die Autoren der vorliegenden Bände werden in Zukunft aber immerhin darauf verweisen können, so ziemlich am Anfang einer gewaltigen Flut von Büchern über diese Phase gestanden zu haben.
Man erhält einen guten Einblick
in die Haltung der borniertesten
unter den Ultra-Brexiteers
Trockener kann man
die Katastrophenszenarien
nicht schildern
Tessa Szyszkowitz:
Echte Engländer.
Britannien und der Brexit. Picus-Verlag, Wien 2018. 264 Seiten, 22 Euro.
Jochen Buchsteiner:
Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie. Rowohlt, Reinbek 2018. 144 Seiten, 16 Euro.
E-Book: 12,99 Euro.
Paul Welfens:
Brexit aus Versehen – Europäische Union
zwischen Desintegration und neuer EU. Springer-Verlag, Berlin 2018.
568 Seiten, 19,99 Euro.
E-Book: 14,99 Euro.
Schwere Last: Premierministerin Theresa May nach einer Pressekonferenz in Brüssel am 25. November.
Foto: EMMANUEL DUNAND/AFP
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Ein fulminantes Buch Christian Hacke Cicero 20181129