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Literaturbetriebstemperaturen am Gefrierpunkt: Ernst-Wilhelm Händlers neuer Roman erzählt vom Ringen eines Schriftstellers um die Autorschaft am eigenen Leben
Meine Lieblingsfrage: Ist Klarheit ohne Kälte möglich?" schrieb Ernst-Wilhelm Händler in seiner Würdigung von Thomas Bernhards Roman "Das Kalkwerk", einem Beitrag zur Serie "Mein Lieblingsbuch" in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 22. Juli 2004). Schon in dieser Erklärung steckt eine Menge typisch Händlerscher Selbstironie. Das Warme, Kaminfeuerhafte, Genießerische des Etiketts stößt auf den seinerseits metallisch-kühlen Inhalt einer existentiellen Frage. Klarheit - das versprechen die reibungslos nach ihrer eigenen Sachlogik arbeitenden Institutionen, mitleidlos rechnende Elektronengehirne, die von Sachzwängen bestimmten Systemprozesse in Wirtschaft und Politik oder Wissenschaft. Wo Klarheit herrscht, da fehlt der Mensch. Aber so einfach ist es nicht: Denn ist dort, wo der Mensch ist, schon automatisch Wärme? Meine Lieblingsbeschäftigung: Im Kalkwerk arbeiten, hätte Händler auch sagen können. Wie kommt die Wärme ins Werk?
Ernst-Wilhelm Händler, geboren 1953, ist ein Sonderfall in der deutschsprachigen Literatur. Nicht deswegen, weil er Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens ist, das Schaltschränke und Installationsverteiler herstellt, und so einer der wenigen Autoren von Rang ist, die nur in der Freizeit schreiben. Nein, ein Sonderfall ist Händler wegen der unglaublichen Konsequenz, mit der er seine "Lieblingsfrage" literarisch durchdekliniert. Ein Zyklus soll hier entstehen, dessen Obertitel "Grammatik der vollkommenen Klarheit" lautet - ein gigantomanisches Erzählprojekt, das in seinen einzelnen Teilen jeweils eine andere Sphäre der Wirklichkeit ausmißt und sich an Vorbildern der klassischen Moderne, an Broch oder Musil, mißt. Also: Ist vollkommene Klarheit ohne Kälte möglich? Und: Ist vollkommene Klarheit in der Literatur möglich?
Die Frage so zu stellen enthält eine kühne Voraussetzung - nämlich, daß die Literatur ein Widerpart gegen all das ist, was das Humane, das Menschliche, das Warme bedroht: den Markt, die Institutionen, die Entwertung des Individuums. Besonders Händlers zweiter Roman "Fall" von 1997 legt eine solche Entgegensetzung nahe. "Fall" erzählt einerseits vom Machtkampf in einem Familienunternehmen, bei dem Georg Voigtländer aus der Firma gedrängt wird. Zugleich aber flüchtet sich Georg zunehmend in die Parallelwelt der Literatur. Er verkehrt mit Figuren aus Werken Bernhards, Paul Wührs und Gert Hofmanns und erfindet sich eine völlig neue Biographie. Dort also die kalte, von juristischen Winkelzügen und ökonomischem Scheuklappendenken bestimmte Firmenwelt, hier die helle, meistens auf römischen Piazzen auf und ab flanierende Geisteswelt der Literatur. Poesie als Flucht vor dem Geschäftsbericht, der Prosa der Verhältnisse. Hier die Vielflieger der corporate world, dort die Schwingen der Einbildungskraft.
Man muß so weit ausholen, um den neuen Roman Händlers zu verstehen oder jedenfalls, und das ist schon schwierig genug, um ihn nicht mißzuverstehen. Denn "Die Frau des Schriftstellers" ist eine Korrektur an der geläufigen Entgegensetzung von Markt und Poesie, Ökonomie und Literatur, letztlich: Realität und Fiktion. "Ich weiß jetzt, die Wahrheit eines späteren Buches ist nur dann eine Wahrheit, wenn sie die Wahrheit eines früheren Buches unwahr macht", sagt "der Schriftsteller" (das Alter ego des Geschäftsmanns Georg Voigtländer) im "Fall". "Der Schriftsteller" eben ist, nimmt man den Titel ernst, der sonst anonym bleibende Ich-Erzähler des neuen Buchs. Und dessen Wahrheit lautet: Auch und vielleicht gerade in der Literatur herrschen Betriebstemperaturen nahe dem Gefrierpunkt.
Dem Erzähler, mit seinen Romanen mäßig erfolgreich, wird eines Tages über den Edel-Literaturagenten La Trémoïlle ein Angebot des charismatischen Verlegergiganten Guggeis vermittelt. Es stellt sich heraus, daß der Umworbene eigentlich zu einem anderen Zweck geködert wurde: Er soll das unvollendete Manuskript des Guggeis-Erfolgsautors und Literaturstars Pototsching fertigschreiben. Als der ihm im Hotel daraus vorliest, muß der Schriftsteller erkennen, daß dieses Buch die minutiös recherchierte Geschichte seiner, also des Schriftstellers, Kindheit im österreichischen St. Pankraz erzählt - eine Autobiographie aus fremder Hand sozusagen, die das uneingeweihte Objekt dieser dreisten Aneignung selbst fertigschreiben soll: "Das Schlimmste, was mir passieren konnte, war passiert: Ein anderer hatte genau das Buch geschrieben, das ich schreiben wollte. Ein anderer hatte mir meine Kindheit geraubt. Ein anderer hatte mein Buch geschrieben." Fortan streiten zwei Autoren erbittert um die Deutungshoheit über eine Lebensgeschichte. Ihre Rivalität wird zusätzlich verkompliziert durch beider Verhältnis zu einer Schriftstellerin namens Laura Turner, die Pototschings Geliebte war und nun dessen Rivalen verführt.
Händler-Leser kennen diese erotisch aufgeladenen Spielchen um Kontrolle und Herrschaft; in der Unternehmenswelt von "Wenn wir sterben" etwa entpuppten sich die allerrationalsten Geschäftsbeziehungen als Ausfluß (selbst-)zerstörerischer Triebschicksale. Nun wendet Händler seinen erbarmungslosen Blick auf jenes System, in dem er selbst, als Autor, agiert. Ein solches Unternehmen bietet eine naheliegende Achillesferse - man ist sofort versucht, das Buch als Schlüsselroman zu lesen. Denn Guggeis trägt unverkennbar Züge Siegfried Unselds; sein Verlag, Heimat der "Guggeis-Kultur", ist dem Suhrkamp Verlag zum Verwechseln ähnlich. Hinzu kommt die Pointe, daß Händler bei Joachim Unseld erscheint, dessen, um es vorsichtig zu sagen, gespanntes Verhältnis zu seinem übermächtigen Vater und dessen Witwe längst selbst Teil der Literaturgeschichte ist.
Diese Lesart ist freilich eine nicht ohne Hinterlist gestellte Falle, die eine angemessene Rezeption des Romans verbaut. Die Realität kennt keine Agentenfigur wie den taubstummen La Trémoïlle und auch keinen Autor wie den schönen Schweizer Tonio Pototsching, einen ehemaligen Fußballer, dessen vollständig im Konjunktiv verfaßtes Romandebüt Kritik und Publikum verzückt. Händler macht das Genre Schlüsselroman vielmehr selbst zum Thema. Zuletzt ist ja das Verhältnis von Romanfiguren zu ihren Vorbildern immer wieder zum Brennpunkt literarischer Debatten geworden - von Maxim Billers "Esra" bis zu Feridun Zaimoglus "Leyla" in diesem Frühjahr. Auf den Streit um Martin Walsers versuchte Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki in "Tod eines Kritikers" wird dabei in einem Brief des Erzählers an Laura bis hin zu wörtlichen Zitaten angespielt. Die Brisanz des hier verhandelten Themas steht also außer Frage. Worum aber geht es Händler dabei, wenn nicht nur um die - triviale - Erkenntnis, daß Schriftsteller auch keine besseren Menschen sind und die Verlagsszene einem Piranhabecken gleicht?
Literarische Autorschaft erscheint hier allgemein als Quelle (oder Folge?) eines pathologisch übersteigerten Narzißmus, das Schreiben als monströses Aufblasen des Schriftsteller-Ichs, neben dem reale menschliche Beziehungen keinen Raum haben. Noch einmal potenziert wird dieser Größenwahn im Verleger Guggeis, der sich in langen Monologen als Urheber gleich einer ganzen literarischen Kultur versteht, als Super-Autor mit dem Verlagsprogramm als Opus magnum. Hier wird dann tatsächlich das singuläre Vorbild Siegfried Unseld als Typus bedeutsam.
Das ist nicht auf die Literatur beschränkt. In "Sturm" verkörpert der Architekt Hant diese künstlerische Omnipotenzphantasie, die dort noch viel deutlicher in die Nähe zur deutschen Katastrophengeschichte, zu Weltmachtstreben und Vernichtungswillen gerückt wurde. Hier sind die Hinweise zunächst versteckter: Beatrice, eine zweite Geliebte des Schriftstellers in der Rahmenhandlung, ist Psychohistorikerin und forscht über die fortwirkenden Pathologien der deutschen Moderne - und dann auch ihres Liebhabers. Das Kindheitsdrama aus doppelter Feder wiederum spielt auf jenem Reitbauerngut unterhalb Wolfeggs, dessen Geschichte Bernhards "Auslöschung" erzählt. In "Fall" hatte sich Voigtländer eine Kindheit als einfacher, aber begabter Pächtersohn fingiert, der von der "Gnädigen" (der Mutter Muraus) und deren Geliebten, dem "italienischen Priester" Spadolini, protegiert und aufs ferne Stiftsinternat geschickt wurde.
Nun erzählt Pototsching diese Geschichte aus der Perspektive des Jungen weiter. Ins Zentrum der Handlung rückt aber ein regelmäßig im Nachbarhaus gastierender Deutscher, ein weiterer Schützling (und wohl Geliebter) der Gnädigen, der sich als ein früherer SS-Statistiker entpuppt - womit Händler die Bernhardsche Abrechnung des Wolfsegg-Erben Murau mit der NS-Verstrickung seiner Familie weiterspinnt. Einmal, als der Junge die Jause zu Spadolini auf die Hütte bringen muß, liest dieser gerade in der Zeitung über die Verhaftung Ricardo Klements, also Adolf Eichmanns, in Buenos Aires.
Händler will also, und das ist starker Tobak, eine Fernwirkung der nationalsozialistischen Vergangenheit bis in die Gegenwart demonstrieren. Der "Herkunftskomplex", wie es bei Bernhard heißt, schleicht sich in die narzißtischen Größenphantasien des Schriftstellers, dessen reale Beziehungen mehr und mehr durch einen Umgang mit seinen eigenen Romanfiguren ersetzt werden. Als Kind hat er einmal in einem Bildband von 1943 menschenleere Architekturphantasien Albert Speers bewundert; später schaut er zu, wie die lebendig gewordenen Figuren seiner eigenen Bücher, schließlich seine eigene Familie verhaftet, deportiert und schließlich ermordet werden - der Autor als zwanghafter Nachfolger der Nazi-Massenmörder. Das ist eine provozierende These und als Darstellung einer individuellen Obsession eindrucksvoll. Wollte Händler allerdings hier, wofür einiges spricht, eine Kollektivdiagnose der deutschen Gegenwart stellen, wäre das einigermaßen fragwürdig.
Was aber hat die Frau des Schriftstellers damit zu tun - abgesehen davon, daß sie mit der Behauptung ihrer eigenen prekären Autorschaft (angeblich schreibt sie nur in einer totalen Symbiose mit dem Star Pototsching) selbst im narzißtischen Bücherreigen mitmischt? Sie ist vor allem, wie auch Beatrice, Opfer der Beziehungsunfähigkeit des vollkommen mit seinen eigenen Kopfgeburten befaßten Autor-Ichs. Am Ende scheint sie schwanger zu sein; der Schriftsteller bringt lieber sein eigenes Baby, sein Buch, hervor; die Frau soll abtreiben. Das Böse ist, so lehrten die Alten, nur ein Mangel an Sein. Wer sich auf Händlers dichtes, selbstreflexives und in seiner Tiefendimension kaum ganz auszulotendes Buch einläßt, kann die Dämonen in den so geordneten, menschenleeren Räumen der Fiktion finden lernen.
Ernst-Wilhelm Händler: "Die Frau des Schriftstellers". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006. 640 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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