"Die Frau in Blau" ist eine Erzählung, in der es um Einsamkeit und Liebe in der Großstadt geht. Vier Frauen und drei Männer treffen aufeinander und entwickeln, im Verlauf von nur knapp vier Wochen, ein komplexes Beziehungsgeflecht, das ihr Selbstbild und ihre Lebenswelt tiefgreifend verändert. Die Personen sind zunächst Esther, Chefin einer auf Edelstahl spezialisierten Schlosserei, Cora, eine an ihrer Diplomarbeit feilende Studentin und Eva, eine drogenabhängige Prostituierte, außerdem Manfred, Coras Professor, Roland, einer von Esthers führenden Angestellten und Franz, leitender Psychologe einer psychatrischen Klinik. Im Zentrum der Geschehnisse steht jedoch die vierte Frau, Maria König, eine von Franzens Patientinnen, die unter psychotischen Wahnvorstellungen leidet und in diesem Zustand unbewußt die Straßen der Stadt durchwandert. In einer Art Trance gefangen hält sie immer wieder still und starrt in einer seltsamen Pose regungslos in den Himmel. Regelmäßiges Ziel ihrer Ausflüge ist dabei die städtische Anlage und insbesondere der dortige Teich, an dessen Ufer sie, häufig auch nachts, lange verweilt. Durch eine Reihe mehr oder weniger zufälliger Ereignisse werden die Wege dieser Personen immer enger miteinander verflochten. Maria mit ihrem eigentümlichen, in sich gekehrten Wesen und ihren befremdlichen Gebärden hat auf die übrigen Beteiligten eine zunehmend faszinierende, beinahe suggestive Wirkung und wird, wiewohl meistens geistesabwesend und unansprechbar, ohne eigenes Zutun zum eigentlichen Motor der Geschichte. Mehr und mehr entwickelt sich der nächtliche Park und jener Teich zu einem quasi allegorischen Ort, an dem, von Maria ausgelöst, eine bis dahin unbemerkte und verschüttete Lebenswirklichkeit in die großstädtische Welt der handelnden Figuren bricht. Ganz allmählich entwickeln diese gewisse, nur für den Leser deutliche, archaisch-mythologische Bezüge, die ihre Handlungen und Empfindungen vorausformen und über ihre alltägliche Lebenswelt hinaus in einen allgemein-menschlichen, zeitlosen Kontext stellen. So erinnert der Psychloge Franz, der Maria heimlich auf einem ihrer nächtlichen Gänge zu jenem Teich folgt, an den Jäger Aktaion, der Artemis beim Baden zusieht. Die Beziehung des Professors zu seiner Studentin spielt mit dem Motiv der durch Hades geraubten Persephone, Esther entwickelt Züge der Pallas Athene, Roland erinnert an den unglücklichen Adonis, Eva an Aphrodite. Der offensichtlich blinde Erzähler der Geschichte erweist sich als der Seher Teiresias, der einst von einem Mann in eine Frau und dann wieder zurück in einen Mann verwandelt wurde und seine Blindheit, wie auch seine Sehergabe, ebenfalls der Beobachtung einer Göttin beim Baden verdankt. Auf diese Weise entwickelt die Geschichte eine zweite Erzählebene: Unterhalb der rationalen, alltäglichen, mit dem Tag und der Sonne verbundenen Ebene entsteht eine unbewußte, traumartige, mit der Nacht und dem Mond verknüpfte Schicht, die, aufgeladen mit jenen mythologischen "Seelenbildern", aus dem Unterbewußten heraus in das Leben dieser modernen Großstadtmenschen hineinwirkt. Ausgelöst durch Marias nächtliche Gänge in die mondbeschienene Stille jenes Parks gewinnen die Figuren allmählich eine verlorene Dimension ihrer persönlichen Existenz zurück. Obwohl ihren Bemühungen um Erfüllung ihrer Wünsche und Sehnsüchte sehr unterschiedlicher Erfolg beschieden ist, bleibt doch allen Beteiligten am Ende eine erweiterte Perspektive auf sich selbst und ihr Leben.
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