Die Frau mit den vier Armen erzählt von traurigen Jungs, die das Glück suchen und den Tod finden. Abgründig, voller schräger Figuren und mit Witz zeigt Jakob Nolte ein Hannover, das es so noch nie gegeben hat, und erfindet den Niedersachsen Noir. Es geht um Polizeiarbeit, Gerechtigkeit und die Frage, ob man sich am Denken anderer schuldig machen kann.
Inlineskates an den Füßen, Würgemale am Hals, Kopfhörer in den Ohren. Am Ufer der Ihme in Hannover liegt die Leiche eines jungen Mannes. Ein Fall für die genauso brillante wie schroffe Rita Aitzinger und ihren Kollegen Ilia Schuster von der Mordkommission. Zwischen Oper, Bahnhofskneipe und Burgerladen geraten sie immer tiefer in ein Dickicht aus Verweisen: Popsongs, Datingapp-Profile, mysteriöse Tattoos – sie sind der Schlüssel zur Lösung des Falls, davon ist Rita überzeugt. Oder ist sie in die Schlinge eines Psychokillers geraten? War Sebastian Tamm gar nicht das erste Opfer? Und was hat der schüchterne Streifenpolizist Gerd Lampe damit zu tun?
Inlineskates an den Füßen, Würgemale am Hals, Kopfhörer in den Ohren. Am Ufer der Ihme in Hannover liegt die Leiche eines jungen Mannes. Ein Fall für die genauso brillante wie schroffe Rita Aitzinger und ihren Kollegen Ilia Schuster von der Mordkommission. Zwischen Oper, Bahnhofskneipe und Burgerladen geraten sie immer tiefer in ein Dickicht aus Verweisen: Popsongs, Datingapp-Profile, mysteriöse Tattoos – sie sind der Schlüssel zur Lösung des Falls, davon ist Rita überzeugt. Oder ist sie in die Schlinge eines Psychokillers geraten? War Sebastian Tamm gar nicht das erste Opfer? Und was hat der schüchterne Streifenpolizist Gerd Lampe damit zu tun?
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Fritz Göttler findet lobende Worte für Jakob Noltes Krimi um eine mordende Dame und eine unerschrockene Tatortuntersucherin. Besonders die nicht direkt zielführende Handlungs- und Diaologführung haben ihm imponiert. Dabei ist der Text durchaus sehr "genregerecht", erklärt Göttler. Rhythmisch entfaltet der Autor ein "Kaleidoskop" der Möglichkeiten "und dann klickt es", schreibt der Rezensent begeistert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2024Dating in Hannover
Krimis in Kürze: Carlsson, Nolte und Karina Urbach
Schon als vor zwei Jahren "Was ans Licht kommt" erschien, war absehbar, dass Christoffer Carlsson nicht zum kaum mehr überschaubaren Mittelmaß der Skandinavienkrimiautoren gehört. Sein neuer Roman "Wenn die Nacht endet" (Kindler, 464 S., geb., 25,- Euro) bestätigt das eindrucksvoll. Auch er spielt in der südschwedischen Region Halland, und der Sohn des Polizisten Jörgensson aus dem ersten Roman begegnet einem wieder. Erneut sind anhaltende Schuld und Verstrickung, die Menschen nicht freigeben, ein Leitmotiv.
Nach einer Party im Jahr 1999 wird ein Achtzehnjähriger ermordet aufgefunden. Es gibt Verdächtige, vor allem zwei eng befreundete Gleichaltrige, aber die Ermittlungen versanden, eine Polizistin gibt ihren Job auf. Ein Erdrutsch nach einer Sprengstoffexplosion verwischt weitere Spuren. Auch hier fehlt ein Täter. Zwanzig Jahre später fällt noch einmal Licht auf das Vergangene, als der jüngere Bruder des damals Ermordeten ebenfalls zum Mordopfer wird.
Carlssons Souveränität besteht darin, es nicht mit den Koinzidenzen zu übertreiben und das Geschehen ebenso plausibel wie in einem angemessenen erzählerischen Rhythmus zu entfalten. Neben den Mordfällen geht es vor allem um die Jungen, die älter wurden und enttäuschter, deren Träume und Pläne grauem Alltag wichen. Carlsson hat dabei einen ganz eigenen Ton, der entfernt an die Bücher von Håkan Nesser erinnert.
Auch Jakob Nolte, der neben seinen Romanen einige Theaterstücke geschrieben hat, weiß genau, wie sich mit einer nuancierten literarischen Sprache lebendige Außen- und Innenwelten hervorbringen lassen. "Die Frau mit den vier Armen" (Suhrkamp, 235 S., geb., 20,- Euro) spielt in Hannover, und wenn daraus auch nicht gleich, wie der Verlag meint, "Niedersachsen Noir" wird, so ist es doch ein geglückter Versuch, einen als notorisch langweilig verrufenen Ort zu einem Krimi-Schauplatz zu machen. Der schräge Titel ist leicht erklärt: Eine verdächtige junge Frau hat von ihren beiden Großmüttern jeweils einen Pelzmantel geerbt, sie zu einem einzigen umarbeiten lassen und die vier Ärmel behalten.
Verdächtigt wird sie, einen jungen Mann umgebracht zu haben, der mit Inlinern an den Füßen und Würgemalen am Hals an einem Baum lehnte. Hat man es mit einem Serienmörder zu tun?, fragt sich bald die Kommissarin, die mit sich, ihrer Ernährung und einem Kollegen hadert: "Warum begann noch mal jeden Tag ein Tag?" Die Ermittlungen führen die Beamten in den Alltag der Generation Z und in Dating-Apps. Ohne sich anzubiedern, schildert Nolte einschlägige Lebensstile und Gewohnheiten. Seine Begabung für Dialoge ist unverkennbar, das Gespräch zwischen einem Streifenpolizisten beim Date mit der mysteriösen Frau ist eines der Highlights, wenn sie ihn fragt, wo sie eine Leiche spurlos verschwinden lassen könne.
Noltes literarische Anspielungen wirken nie aufdringlich. Der Fall wird auch gelöst, ohne dass deshalb gleich die Welt wieder in Ordnung käme. Alles endet mit einer öfter in diesem Roman eingesetzten Erzählerpassage, die, wie in einer langen Montagesequenz im Kino, alle Akteure bei ihren jeweiligen Tätigkeiten zeigt.
Karina Urbach ist Historikerin und hat vor sieben Jahren unter dem Pseudonym Hannah Coler den Spionageroman "Cambridge 5 - Zeit der Verräter" veröffentlicht. Auch "Das Haus am Gordon Place" (Limes, 384 S., br., 18,- Euro) führt ins Milieu der Agenten, ins Wien des Jahres 1948, die Dreharbeiten zu "Der dritte Mann" werden dabei sehr geschickt als Handlungselement eingebunden. Auf einer zweiten Ebene geht es um einen Mord in der Gegenwart. Im Wohnzimmer eines Historikers wird eine Leiche gefunden. Er hat die Wohnung in teuerster Londoner Lage von einer Freundin geerbt, zuvor wohnte eine MI6-Agentin darin, die 1948 in den Wiener Abhörtunneln gearbeitet hatte. Ein Fall für den Geheimdienst.
Der Plot ist gut konstruiert, das Wechselspiel zwischen den Zeiten sorgt für Cliffhanger, ohne dass daraus jedoch allzu große Spannungseffekte entstünden. Dafür erfährt man einiges über ein Kapitel der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dass der Roman gründlich recherchiert ist und Urbach in einem Nachwort ausführlich Ereignisse und Akteure vorstellt, die als reale Vorbilder dienten, verrät das Ethos der Historikerin. Es wirkt nachhaltiger als der literarische Impetus. PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Krimis in Kürze: Carlsson, Nolte und Karina Urbach
Schon als vor zwei Jahren "Was ans Licht kommt" erschien, war absehbar, dass Christoffer Carlsson nicht zum kaum mehr überschaubaren Mittelmaß der Skandinavienkrimiautoren gehört. Sein neuer Roman "Wenn die Nacht endet" (Kindler, 464 S., geb., 25,- Euro) bestätigt das eindrucksvoll. Auch er spielt in der südschwedischen Region Halland, und der Sohn des Polizisten Jörgensson aus dem ersten Roman begegnet einem wieder. Erneut sind anhaltende Schuld und Verstrickung, die Menschen nicht freigeben, ein Leitmotiv.
Nach einer Party im Jahr 1999 wird ein Achtzehnjähriger ermordet aufgefunden. Es gibt Verdächtige, vor allem zwei eng befreundete Gleichaltrige, aber die Ermittlungen versanden, eine Polizistin gibt ihren Job auf. Ein Erdrutsch nach einer Sprengstoffexplosion verwischt weitere Spuren. Auch hier fehlt ein Täter. Zwanzig Jahre später fällt noch einmal Licht auf das Vergangene, als der jüngere Bruder des damals Ermordeten ebenfalls zum Mordopfer wird.
Carlssons Souveränität besteht darin, es nicht mit den Koinzidenzen zu übertreiben und das Geschehen ebenso plausibel wie in einem angemessenen erzählerischen Rhythmus zu entfalten. Neben den Mordfällen geht es vor allem um die Jungen, die älter wurden und enttäuschter, deren Träume und Pläne grauem Alltag wichen. Carlsson hat dabei einen ganz eigenen Ton, der entfernt an die Bücher von Håkan Nesser erinnert.
Auch Jakob Nolte, der neben seinen Romanen einige Theaterstücke geschrieben hat, weiß genau, wie sich mit einer nuancierten literarischen Sprache lebendige Außen- und Innenwelten hervorbringen lassen. "Die Frau mit den vier Armen" (Suhrkamp, 235 S., geb., 20,- Euro) spielt in Hannover, und wenn daraus auch nicht gleich, wie der Verlag meint, "Niedersachsen Noir" wird, so ist es doch ein geglückter Versuch, einen als notorisch langweilig verrufenen Ort zu einem Krimi-Schauplatz zu machen. Der schräge Titel ist leicht erklärt: Eine verdächtige junge Frau hat von ihren beiden Großmüttern jeweils einen Pelzmantel geerbt, sie zu einem einzigen umarbeiten lassen und die vier Ärmel behalten.
Verdächtigt wird sie, einen jungen Mann umgebracht zu haben, der mit Inlinern an den Füßen und Würgemalen am Hals an einem Baum lehnte. Hat man es mit einem Serienmörder zu tun?, fragt sich bald die Kommissarin, die mit sich, ihrer Ernährung und einem Kollegen hadert: "Warum begann noch mal jeden Tag ein Tag?" Die Ermittlungen führen die Beamten in den Alltag der Generation Z und in Dating-Apps. Ohne sich anzubiedern, schildert Nolte einschlägige Lebensstile und Gewohnheiten. Seine Begabung für Dialoge ist unverkennbar, das Gespräch zwischen einem Streifenpolizisten beim Date mit der mysteriösen Frau ist eines der Highlights, wenn sie ihn fragt, wo sie eine Leiche spurlos verschwinden lassen könne.
Noltes literarische Anspielungen wirken nie aufdringlich. Der Fall wird auch gelöst, ohne dass deshalb gleich die Welt wieder in Ordnung käme. Alles endet mit einer öfter in diesem Roman eingesetzten Erzählerpassage, die, wie in einer langen Montagesequenz im Kino, alle Akteure bei ihren jeweiligen Tätigkeiten zeigt.
Karina Urbach ist Historikerin und hat vor sieben Jahren unter dem Pseudonym Hannah Coler den Spionageroman "Cambridge 5 - Zeit der Verräter" veröffentlicht. Auch "Das Haus am Gordon Place" (Limes, 384 S., br., 18,- Euro) führt ins Milieu der Agenten, ins Wien des Jahres 1948, die Dreharbeiten zu "Der dritte Mann" werden dabei sehr geschickt als Handlungselement eingebunden. Auf einer zweiten Ebene geht es um einen Mord in der Gegenwart. Im Wohnzimmer eines Historikers wird eine Leiche gefunden. Er hat die Wohnung in teuerster Londoner Lage von einer Freundin geerbt, zuvor wohnte eine MI6-Agentin darin, die 1948 in den Wiener Abhörtunneln gearbeitet hatte. Ein Fall für den Geheimdienst.
Der Plot ist gut konstruiert, das Wechselspiel zwischen den Zeiten sorgt für Cliffhanger, ohne dass daraus jedoch allzu große Spannungseffekte entstünden. Dafür erfährt man einiges über ein Kapitel der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dass der Roman gründlich recherchiert ist und Urbach in einem Nachwort ausführlich Ereignisse und Akteure vorstellt, die als reale Vorbilder dienten, verrät das Ethos der Historikerin. Es wirkt nachhaltiger als der literarische Impetus. PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2024Wenn der Gangster spricht
Der Schriftsteller und Dramatiker Jakob Nolte hat einen Hannover-Krimi
geschrieben: „Die Frau mit den vier Armen“ ist BRD Noir in ganz großer Form.
Halt dein Maul, sagt Rita Aitzinger, und steckt dem jungen Mann, der bewegungslos im Ihmepark in Hannover an einem Baum lehnt, den Zeigefinger unter die Nase – sie spürt keinen Atem. Er hat Inlineskates an den Füßen und Kopfhörer über den Ohren, ein Pirol saß auf seiner Schulter, der bei Ritas Näherkommen davonflog. Wenn man ihre süddeutsche Herkunft bedenkt, ist der Ausruf wohl nicht so grob gemeint, wie es in der norddeutschen Landschaft klingen mag. Auf dem Mobilphon des Mannes läuft „Never forget you“ von Zara Larsson und MNEK in Endlossschleife. Der junge Mann wurde erwürgt, der Ausweis in seiner Tasche gibt seinen Namen an: Sebastian Tamm, Es ist nicht der erste junge tote Mann, den Rita findet. (Der andere hatte unaufhörlich einen Song von Taylor Swift gehört.)
Jakob Nolte erzählt von einer jungen Frau in der Fremde, von den Irritationen, die sie mit ihrem Namen erdulden muss, dieses tägliche „Anzweifeln ihrer Daseinsberechtigung in Hannover als Bayerin“. Dazu kommt, dass sie vor einiger Zeit beschlossen hat, vegetarisch zu leben. Jeden Morgen setzt sich Rita ein paar Minuten ans Ihme-Ufer, sie hat Kaffee dabei und ein Stück Bananenbrot.
In einem Modellbauladen am Steintor hat Rita einen Baukasten des 1980er Fiat 131 Abarth Rally bestellt, im Verhältnis 1:18, an den Wagentüren die Namen Mouton und Arrii, der aus Japan geliefert werden musste. Zu Hause zieht sie weiße Stoffhandschuhe über und beginnt die Teile des Wagens auszuschneiden und zusammenzukleben. In der Arbeit hantiert sie dagegen oft mit Einweggummihandschuhen, bei der Untersuchung von Tatorten – sie ist bei der Kriminalfachinspektion 1 von Hannover tätig und kümmert sich dort um den Fall des toten Tamm.
Die meisten der Irritationen gehen auf Männer zurück, Sebastian und andere Mordopfer, immer wieder auch Kollegen. Jakob Nolte kann gnadenlos boshaft sein, wenn er männliche Unzulänglichkeit skizziert, schreckt vor Kalauern nicht zurück: „An seiner Klingel im Hausflur hatte er einen roten Warnhinweis angebracht, diese nicht zu verwenden, um Licht zu machen.“ Er solle eine Therapie machen, erklären Rita einem Kollegen in einem besonders trüben Moment – Therapie, Saufen oder Sport, sonst halte man den Job nicht aus.
Jakob Nolte hat in seinen Romanen bislang von Menschen erzählt, die bizarre Wandlungen durchmachen, in sehr unterschiedlichen Dimensionen, und auch diese Geschichte, die mit schöner Detailbesessenheit in der Hannoverschen Realität verankert ist, lässt immer wieder unglaubliche Fantasy-Momente durchschimmern. Natürlich steckt eine mysteriöse Frau hinter den Morden, das dürfte angesichts des Titels kein Spoiler sein – man sollte sehr aufmerksam beim Lesen auf ungewöhnliche Signale achten, denn sie tritt recht früh und unvermutet in Erscheinung. Leser, die Doderers „Strudlhofstiege“ kennen, sind hier im Vorteil. Nolte ist zudem ein erfolgreicher Theaterautor, seine Dialoge sind scharf konzentriert, wie in den klassischen (amerikanischen) Hard-boiled-Romanen. Ein Stakkato von einfachen Sätzen, Rhythmen, Wiederholungen, manchmal durchbrochen von irrwitzigen Ausbrüchen ins Universelle. Das erinnert an den schönen Satz von Roland Barthes zum Gangsterfilm: „Wenn der Gangster spricht, dann in Bildern, die Sprache ist für ihn nur Poesie … Sprechen ist seine Art, müßig zu sein und es zu zeigen.“
Die Frau mit den vier Händen ist eine souveräne femme fatale, sie lockt Männer an über eine Datingapp, manipuliert sie auf recht gemeine Art. Geduldig befragen Rita und ihre Kollegen Eltern und Befreundete der Opfer, die Untersuchungen führen an die Oper Hannover, es gibt kühne Spekulationen zur Struktur des Falles – in einer besonders artifiziellen wird man an „Kühe in Halbtrauer“ und „Schwarze Spiegel“ erinnert, zwei frühe Erzählungen von Arno Schmidt. Es gibt Todesinszenierungen, die von Marilyn Monroes Tod inspiriert sind oder von dem Abschiedsbrief von Marius Jacob, dem Verbrecher-Anarchisten, der das Vorbild war für den fiktiven Meisterdieb Arsène Lupin.
Das Buch ist ein durch und durch genregerechter Kriminalroman, aber man erkennt auf einmal, dass das Genre nie so zielbewusst war, wie oft behauptet. Es wird nicht von der konsequenten Suche nach einem Täter oder nach Beweisen bestimmt, nach der Leerstelle, die alles definiert und uns von der Ungewissheit erlöst. Noltes Buch bleibt bis ans Ende in der Möglichkeitsform, es ist eine Art Kaleidoskop, in dem funkelnde kleine Steinchen an immer wieder neue Stellen klicken und sich in überraschende Bilder und Konstellationen zusammensetzen – eine magische, in sich geschlossene Bewegung, in der jeder auf jeden reagiert und alles wie von selbst geschieht oder – so sagt man im Süden – wo etwas „eh ausgeht“.
Und dann klickt es, es gibt das „Wochenende, an dem sich Träume erfüllen sollten“. Rita und Ilia fliegen nach Marseille, dort herrschen 35 Grad: „Wie jeden Sommer war es der heißteste seit Beginn der Aufzeichnungen von Sommern“, von dort fahren sie nach Narbonne, sie mieten sich einen Wagen, mit dem geht es zu einem Weingut, wo sie den Hinweis auf die Mörderin erhalten. Der Wagen kostet über tausend Euro am Tag, bei einer Agentur, die historische Rallye-Wagen vermietet, und es ist ein gelber Fiat 131 Abarth (mit dem einst Michèle Mouton gefahren ist, die beste Rallye-Fahrerin der Siebziger und Achtziger, mit ihrer Partnerin Annie Arrii). Noltes Buch ist kein feministischer Krimi, aber einer, in dem einen männliches Gehabe auf die Nerven gehen muss und vor allem – eine schlimme Form des Machismus – männliche Wehleidigkeit. „Es herrschen Krieg, Krankheit, Hunger und Ungerechtigkeit. Dazu ist der Planet dem klimatischen Untergang geweiht. Man wird nicht geliebt. Und man hat es auch nicht verdient, geliebt zu werden ... Viele Männer reagieren verzweifelt auf das eigene Fehlen, die Welt zu retten ...“
FRITZ GÖTTLER
Ein Stakkato von einfachen Sätzen: Jakob Nolte im Berliner Zoo-Palast.
Foto: Friedrich Bungert
Jakob Nolte:
Die Frau mit den
vier Armen. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2024.
235 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Schriftsteller und Dramatiker Jakob Nolte hat einen Hannover-Krimi
geschrieben: „Die Frau mit den vier Armen“ ist BRD Noir in ganz großer Form.
Halt dein Maul, sagt Rita Aitzinger, und steckt dem jungen Mann, der bewegungslos im Ihmepark in Hannover an einem Baum lehnt, den Zeigefinger unter die Nase – sie spürt keinen Atem. Er hat Inlineskates an den Füßen und Kopfhörer über den Ohren, ein Pirol saß auf seiner Schulter, der bei Ritas Näherkommen davonflog. Wenn man ihre süddeutsche Herkunft bedenkt, ist der Ausruf wohl nicht so grob gemeint, wie es in der norddeutschen Landschaft klingen mag. Auf dem Mobilphon des Mannes läuft „Never forget you“ von Zara Larsson und MNEK in Endlossschleife. Der junge Mann wurde erwürgt, der Ausweis in seiner Tasche gibt seinen Namen an: Sebastian Tamm, Es ist nicht der erste junge tote Mann, den Rita findet. (Der andere hatte unaufhörlich einen Song von Taylor Swift gehört.)
Jakob Nolte erzählt von einer jungen Frau in der Fremde, von den Irritationen, die sie mit ihrem Namen erdulden muss, dieses tägliche „Anzweifeln ihrer Daseinsberechtigung in Hannover als Bayerin“. Dazu kommt, dass sie vor einiger Zeit beschlossen hat, vegetarisch zu leben. Jeden Morgen setzt sich Rita ein paar Minuten ans Ihme-Ufer, sie hat Kaffee dabei und ein Stück Bananenbrot.
In einem Modellbauladen am Steintor hat Rita einen Baukasten des 1980er Fiat 131 Abarth Rally bestellt, im Verhältnis 1:18, an den Wagentüren die Namen Mouton und Arrii, der aus Japan geliefert werden musste. Zu Hause zieht sie weiße Stoffhandschuhe über und beginnt die Teile des Wagens auszuschneiden und zusammenzukleben. In der Arbeit hantiert sie dagegen oft mit Einweggummihandschuhen, bei der Untersuchung von Tatorten – sie ist bei der Kriminalfachinspektion 1 von Hannover tätig und kümmert sich dort um den Fall des toten Tamm.
Die meisten der Irritationen gehen auf Männer zurück, Sebastian und andere Mordopfer, immer wieder auch Kollegen. Jakob Nolte kann gnadenlos boshaft sein, wenn er männliche Unzulänglichkeit skizziert, schreckt vor Kalauern nicht zurück: „An seiner Klingel im Hausflur hatte er einen roten Warnhinweis angebracht, diese nicht zu verwenden, um Licht zu machen.“ Er solle eine Therapie machen, erklären Rita einem Kollegen in einem besonders trüben Moment – Therapie, Saufen oder Sport, sonst halte man den Job nicht aus.
Jakob Nolte hat in seinen Romanen bislang von Menschen erzählt, die bizarre Wandlungen durchmachen, in sehr unterschiedlichen Dimensionen, und auch diese Geschichte, die mit schöner Detailbesessenheit in der Hannoverschen Realität verankert ist, lässt immer wieder unglaubliche Fantasy-Momente durchschimmern. Natürlich steckt eine mysteriöse Frau hinter den Morden, das dürfte angesichts des Titels kein Spoiler sein – man sollte sehr aufmerksam beim Lesen auf ungewöhnliche Signale achten, denn sie tritt recht früh und unvermutet in Erscheinung. Leser, die Doderers „Strudlhofstiege“ kennen, sind hier im Vorteil. Nolte ist zudem ein erfolgreicher Theaterautor, seine Dialoge sind scharf konzentriert, wie in den klassischen (amerikanischen) Hard-boiled-Romanen. Ein Stakkato von einfachen Sätzen, Rhythmen, Wiederholungen, manchmal durchbrochen von irrwitzigen Ausbrüchen ins Universelle. Das erinnert an den schönen Satz von Roland Barthes zum Gangsterfilm: „Wenn der Gangster spricht, dann in Bildern, die Sprache ist für ihn nur Poesie … Sprechen ist seine Art, müßig zu sein und es zu zeigen.“
Die Frau mit den vier Händen ist eine souveräne femme fatale, sie lockt Männer an über eine Datingapp, manipuliert sie auf recht gemeine Art. Geduldig befragen Rita und ihre Kollegen Eltern und Befreundete der Opfer, die Untersuchungen führen an die Oper Hannover, es gibt kühne Spekulationen zur Struktur des Falles – in einer besonders artifiziellen wird man an „Kühe in Halbtrauer“ und „Schwarze Spiegel“ erinnert, zwei frühe Erzählungen von Arno Schmidt. Es gibt Todesinszenierungen, die von Marilyn Monroes Tod inspiriert sind oder von dem Abschiedsbrief von Marius Jacob, dem Verbrecher-Anarchisten, der das Vorbild war für den fiktiven Meisterdieb Arsène Lupin.
Das Buch ist ein durch und durch genregerechter Kriminalroman, aber man erkennt auf einmal, dass das Genre nie so zielbewusst war, wie oft behauptet. Es wird nicht von der konsequenten Suche nach einem Täter oder nach Beweisen bestimmt, nach der Leerstelle, die alles definiert und uns von der Ungewissheit erlöst. Noltes Buch bleibt bis ans Ende in der Möglichkeitsform, es ist eine Art Kaleidoskop, in dem funkelnde kleine Steinchen an immer wieder neue Stellen klicken und sich in überraschende Bilder und Konstellationen zusammensetzen – eine magische, in sich geschlossene Bewegung, in der jeder auf jeden reagiert und alles wie von selbst geschieht oder – so sagt man im Süden – wo etwas „eh ausgeht“.
Und dann klickt es, es gibt das „Wochenende, an dem sich Träume erfüllen sollten“. Rita und Ilia fliegen nach Marseille, dort herrschen 35 Grad: „Wie jeden Sommer war es der heißteste seit Beginn der Aufzeichnungen von Sommern“, von dort fahren sie nach Narbonne, sie mieten sich einen Wagen, mit dem geht es zu einem Weingut, wo sie den Hinweis auf die Mörderin erhalten. Der Wagen kostet über tausend Euro am Tag, bei einer Agentur, die historische Rallye-Wagen vermietet, und es ist ein gelber Fiat 131 Abarth (mit dem einst Michèle Mouton gefahren ist, die beste Rallye-Fahrerin der Siebziger und Achtziger, mit ihrer Partnerin Annie Arrii). Noltes Buch ist kein feministischer Krimi, aber einer, in dem einen männliches Gehabe auf die Nerven gehen muss und vor allem – eine schlimme Form des Machismus – männliche Wehleidigkeit. „Es herrschen Krieg, Krankheit, Hunger und Ungerechtigkeit. Dazu ist der Planet dem klimatischen Untergang geweiht. Man wird nicht geliebt. Und man hat es auch nicht verdient, geliebt zu werden ... Viele Männer reagieren verzweifelt auf das eigene Fehlen, die Welt zu retten ...“
FRITZ GÖTTLER
Ein Stakkato von einfachen Sätzen: Jakob Nolte im Berliner Zoo-Palast.
Foto: Friedrich Bungert
Jakob Nolte:
Die Frau mit den
vier Armen. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2024.
235 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»... eine erlösende Lektüre: BRD noir mit hellem Köpfchen.« Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20240721