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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Schilderung des Kampfes der Frauen in Belarus öffnet den Blick in die Gesellschaft des Landes
Ihr Buch solle eine "Übersetzungshilfe" sein, schreibt die Autorin im Vorwort zu "Die Frauen von Belarus": "Es will eine Gesellschaft, die fern und fremd erscheint, in Deutschland vertrauter machen." Das gelingt ihr mit diesem gut lesbaren Buch. In seinem Zentrum stehen die Proteste gegen den Machthaber Alexandr Lukaschenko, die nach der gefälschten Präsidentenwahl vor einem Jahr begonnen haben. Aber es bleibt nicht bei der - für sich genommen schon lesenswerten - Schilderung dieser Bewegung und der brutalen Reaktion des Machtapparates stehen, die auf zahlreichen Gesprächen mit Beteiligten beruht.
Alice Bota zeichnet ein plastisches Porträt jener Gesellschaft, ihrer Wurzeln, Widersprüche und Wandlungen, aus der diese Proteste erwachsen sind, deren Größe und Ausdauer alle überrascht haben - den Machthaber, die Protestierenden und die Beobachter innerhalb wie außerhalb des Landes. Der Ansatz, die Frauen von Belarus in den Vordergrund zu stellen, ist dabei keine Verengung auf einen Aspekt. Er ist vielmehr ein überzeugendes Mittel, um die Lebensumstände sowie das Denken und Fühlen sichtbar werden zu lassen, die den Alltag eines großen Teils der Menschen in Belarus bestimmen.
Die Bedeutung der Frauen für die Proteste in Belarus ist in der Berichterstattung über die Ereignisse immer wieder hervorgehoben worden. Zweimal im Laufe des Sommers 2020 waren es Frauen, die den Ereignissen eine entscheidende Wende gaben. Das erste Mal im Frühsommer, als sich zwei Ehefrauen und die Wahlkampfmanagerin der drei Männer zusammentaten, die Lukaschenko als seine gefährlichsten Widersacher angesehen und deshalb ausgeschaltet hatte - zwei durch Verhaftung, der dritte konnte Belarus gerade noch rechtzeitig verlassen. Lukaschenko nahm das weibliche Trio anfangs nicht ernst - aber nicht das wurde zu seinem größten Problem. Die drei Frauen Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Marija Kolesnikowa, die Bota in einfühlsamen Porträts vorstellt, bildeten in allem, in Wortwahl, Auftreten und Aussehen, den maximalen Kontrast zu dem breitbeinigen, manchmal vulgären Machthaber und ließen so die nach Veränderung strebenden Teile der Gesellschaft umso deutlicher erkennen, warum sie seiner überdrüssig waren.
Das zweite Mal in der Woche nach der gefälschten Wahl im August, als sich nach drei Nächten der Gewaltorgien der Sicherheitskräfte an einem Morgen vor einem Markt in Minsk hell gekleidete Frauen mit Blumen in der Hand den behelmten Männern in den schwarzen Uniformen entgegenstellten. Das war der Moment, in dem jene Massenbewegung wirklich begann, die in den folgenden Wochen mehrmals Hunderttausende auf die Straßen brachte. Die Frauen hatten nicht nur starke Bilder geschaffen, die den Gegensatz zwischen dem gewalttätigen Regime und seinen gewaltfreien Gegnern versinnbildlichten - sie hatten die Sicherheitskräfte auch vor ein ernstes Problem gestellt. Der Ehrenkodex einer patriarchalen Gesellschaft verbot ihnen, in der Öffentlichkeit auf die vermeintlich schwachen Frauen ebenso einzuprügeln wie auf Männer. Der Moment der Unsicherheit des Regimes darüber, wie es gegen diesen Gegner vorgehen sollte, machte die Großdemonstrationen möglich. Als die Sicherheitskräfte im Herbst ihre Hemmungen abzulegen begannen und auch auf Frauen ungehemmt eindroschen, ging auch die Zeit der großen Kundgebungen zu Ende.
Die belarussischen Proteste werden gerne auch als weibliche Emanzipationsbewegung, als Selbstermächtigung von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft beschrieben. Die große Stärke von Alice Botas Buch ist, dass sie nicht bei dieser naheliegenden Darstellung stehen bleibt, sondern genau hinschaut: Wie haben diese Frauen vorher gelebt? Woran haben sie ihr Leben ausgerichtet, was haben sie vom Staat erwartet? Wie wirkt das zwiespältige Erbe der Sowjetunion fort, in der Frauen zwar einerseits voll in die Arbeitswelt integriert waren, in der andererseits aber im privaten Leben traditionelle Rollenbilder dominierten? Wie haben sich die sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche der vergangenen 30 Jahre auf Frauen ausgewirkt? Über diesen Zugang erklärt die Autorin nicht nur den Aufruhr gegen Lukaschenko, sondern auch das lange Funktionieren seiner Herrschaft - schließlich waren Frauen eine wichtige Stütze seiner Herrschaft, als er noch Zustimmung in der Gesellschaft erfuhr.
Alice Bota schreibt über die in vielem konservative belarussische Gesellschaft aus einer klar feministischen Perspektive. Aber sie lässt ihre eigene Haltung hinter die Neugier und den Respekt zurücktreten, mit denen sie den belarussischen Frauen in ihrer Lebenswelt begegnet. Deutlich wird das zum Beispiel an ihrer Beschreibung des Wegs, den die oppositionelle Präsidentschaftskandidatin (und mutmaßliche Wahlsiegerin) Swetlana Tichanowskaja zurückgelegt hat. Zu Beginn ihrer Kandidatur war Tichanowskaja vor allem Hausfrau und Mutter, die nur vorübergehend ihren verhafteten Mann Sergej Tichanowski vertreten wollte; der hatte sich zu seiner Kandidatur gegen Lukaschenko noch entschlossen, ohne sie auch nur um ihre Meinung zu fragen. Tichanowskajas öffentliche Aussage, am liebsten würde sie wieder Frikadellen für ihre Familie braten, ließ Lukaschenko spotten - und sorgte dafür, dass sich in ihr viele belarussische Frauen wiedererkannten, die zuvor nicht auf die Idee gekommen wären, sich politisch zu engagieren.
Alice Bota, die für die Wochenzeitung Die Zeit aus Moskau berichtet, ist keine unbeteiligte Beobachterin. Sie steht auf der Seite ihrer Protagonistinnen - und das ist auch gut so. Es gibt Umstände, unter denen Journalisten nicht neutral bleiben können. Belarus ist ein solcher Fall. Besonders deutlich wird das in dem Kapitel, in dem die Autorin das Engagement einer jungen Ärztin schildert, die Fälle von Folter und Misshandlung in Haft dokumentiert. An diesen Stellen wird die Lektüre unangenehm - und gerade dann wünscht man dem Buch viele Leser, damit im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gegenwärtiger wird, was weniger als tausend Kilometer entfernt von der deutschen Grenze gerade geschieht. Denn auch wenn Belarus und seine Gesellschaft in Deutschland vielen fern und fremd erscheinen, ist der Kampf der Belarussinnen und Belarussen das, als was Alice Bota ihn gleich zu Beginn ihres Buches charakterisiert: "Eine zutiefst europäische Geschichte."
REINHARD VESER
Alice Bota: Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit.
Berlin Verlag, Berlin 2021. 240 S., 18,- [Euro].
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