Die Reformation gilt als Zäsur, mit der das Mittelalter endet. Volker Leppin zeigt demgegenüber, dass der junge Luther einer von vielen mystischen Schriftstellern war, und führt uns eine Reformation vor Augen, die viel mittelalterlicher und fremder ist, als es die Meistererzählungen von diesem „Umbruch“ wahrhaben wollen. Der Thesenanschlag zu Wittenberg, die Urszene der Reformationsgeschichte, hat nicht stattgefunden. Vielmehr hat Luther an diesem Tag ein „Disputationszettelchen“ verschickt, so wie es akademischer Brauch war. Diese und viele andere überraschende Erkenntnisse lassen sich gewinnen, wenn man Luther konsequent in seinem spätmittelalterlichen Umfeld betrachtet. Rechtfertigungslehre und „Priestertum aller Gläubigen“, Predigtgottesdienst, Papstkritik und landesherrliches Kirchenregiment – all dies war selbstverständlicher Teil des spätmittelalterlichen Spektrums an Positionen und Protesten. Neu war allerdings die Art, wie Luther diese Elemente miteinander verband und von unterschiedlichen Interessengruppen zum Vordenker erhoben wurde. Erst diese Gemengelage führte zur Zuspitzung des Konflikts mit Rom. Vergessen und verdrängt wurden dabei Luthers mystische Wurzeln. Volker Leppin ruft sie anschaulich in Erinnerung und gibt Luther den spätmittelalterlichen Kontext zurück, der ihm von Protestanten wie Katholiken seit Jahrhunderten vorenthalten wird.
Rezensent Stephan Speicher stellt zwei neue Bücher über Luther vor: Volker Leppins "Die fremde Reformation" und Volker Reinhardts "Luther, der Ketzer". Auch wenn er Reinhardt den Vorzug geben mag, kann er doch beide Bücher als Ergänzung empfehlen. Denn Leppin schildert die Reformation eher als Kultur- denn als Religionsgeschichte. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Verhältnis der Deutschen zu den italienischen Geistlichen, erklärt Speicher. Die Italiener hielten die Deutschen für Barbaren, die Deutschen hatten einen Minderwertigkeitskomplex, hielten sich dafür aber moralisch für überlegen. Wie Leppin das erzählt, fand der Rezensent offenbar anregend, Volker Reinhardts Buch, das die theologische Entwicklung der Reformation nachzeichnet findet er allerdings "feiner gearbeitet". Laut Reinhardt war Luther stark von spätmittelalterlichen Theologen geprägt, die bereits den Grundstein für die Ideen der Reformation legten, indem sie - anders als die Kirche mit ihren theologischen Haarspaltereien - das Verhältnis des Einzelnen zu Gott betonten. Dass die Katholische Kirche nach den Konzilen in Konstanz und Basel an den eigenen Vorrechte festhalten musste, findet Speicher verständlich. Dass es darüber zu einem "geistigen Bürgerkrieg" kam, war vielleicht unvermeidlich, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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