Die frühen Christen bildeten keineswegs eine homogene Gruppe, geschweige denn eine Kirche. Von ihrem Wirken in der Welt, aber auch von den Irritationen, die sie bei Zeitgenossen auslösten, handelt dieses Buch. Es soll zugleich die modernen Leser irritieren: Die antiken Christen sind durch eine lebendige Erinnerung und durch ein gemeinsames textliches Erbe - die Bibel - eng mit der heutigen Welt verbunden, selbst für diejenigen, die dem christlichen Glauben fernstehen. Allenthalben stoßen wir auf Kirchengebäude, christliche Feiertage rhythmisieren unsere Zeit, weite Teile der Kunst sind durch christliche Motive geprägt, selbst noch in der Persiflage. Doch die sichtbare Nähe kann eine scheinbare sein.
Vieles an den frühen Christen ist uns fremd und weit entfernt von dem, was heute als Christentum gilt. Dieser doppelten Irritation - aus der Sicht der Heutigen und der antiken Zeitgenossen - geht der Autor des vorliegenden Buches nach und lässt uns die Fremdheit eines nur scheinbar vertrauten Christentums erkennen. Zugleich fragt er danach, wie eine kleine, sozial schwache Gruppe aus der Peripherie sich ausbreiten konnte und welchen Herausforderungen ihre Angehörigen sich gegenübersahen.
So legt er auch keine lineare Geschichte vom Urchristentum zur Großkirche vor. Es wird vielmehr deutlich, dass die Geschichte der Christen keiner zwingenden inneren Logik folgt und auch nicht durch höhere Kräfte bestimmt scheint. Stattdessen lassen zahlreiche Beispiele erkennen, wie sich frühe Christen in bestimmten Situationen um Problemlösungen bemühten und unterschiedliche Wege diskutierten - von denen sich manche aber nie durchsetzten. Was wir erkennen, ist mithin auch keine folgerichtige Entwicklung, sondern eine tastende, gleichsam experimentelle Bewegung, die sich oft hinter späteren Dogmen und Konzilsbeschlüssen verbirgt.
Vieles an den frühen Christen ist uns fremd und weit entfernt von dem, was heute als Christentum gilt. Dieser doppelten Irritation - aus der Sicht der Heutigen und der antiken Zeitgenossen - geht der Autor des vorliegenden Buches nach und lässt uns die Fremdheit eines nur scheinbar vertrauten Christentums erkennen. Zugleich fragt er danach, wie eine kleine, sozial schwache Gruppe aus der Peripherie sich ausbreiten konnte und welchen Herausforderungen ihre Angehörigen sich gegenübersahen.
So legt er auch keine lineare Geschichte vom Urchristentum zur Großkirche vor. Es wird vielmehr deutlich, dass die Geschichte der Christen keiner zwingenden inneren Logik folgt und auch nicht durch höhere Kräfte bestimmt scheint. Stattdessen lassen zahlreiche Beispiele erkennen, wie sich frühe Christen in bestimmten Situationen um Problemlösungen bemühten und unterschiedliche Wege diskutierten - von denen sich manche aber nie durchsetzten. Was wir erkennen, ist mithin auch keine folgerichtige Entwicklung, sondern eine tastende, gleichsam experimentelle Bewegung, die sich oft hinter späteren Dogmen und Konzilsbeschlüssen verbirgt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2018Des Bischofs Thron war gar zu hoch
Als noch nicht klar war, was die Mehrheitskirche ist: Der Althistoriker Hartmut Leppin führt geschichtenreich in die vielfältige Welt der frühen Christen ein.
Der römische Prokonsul in Karthago suchte im Jahre 180 einen Prozess gegen einige angeklagte Christen gütlich zu beenden, indem er ihnen eine goldene Brücke baute und sagte: "Auch wir sind religiös, und unsere Religion (religio) ist einfach. Wir schwören beim Genius unseres Herrn des Imperators, was auch ihr tun müsst." Die Christen betonten, einem unsichtbaren Gott zu dienen und den Imperator anzuerkennen - genauer den "Imperator aller Könige und Völker". Den geforderten kultischen Akt verweigerten sie und wurden darum enthauptet.
Hartmut Leppin legt in seinem neuen Buch die Bedeutungsschichten frei, die unter diesem Wortwechsel liegen. Die Christen sagten zwar Imperator, meinten aber am Ende doch den wahren Gott und nicht den Kaiser. Der pagane Prokonsul verstand unter "religio" nicht-ethisierte kultische Regeln, die einzuhalten waren, damit das Imperium keinen Schaden nahm. "Religio" bedeutete nicht Glaubenslehren. Doch um solche ging es den Christen, verbunden mit ethischen Überzeugungen, wie man sie in der paganen Antike eher in der Philosophie als in der Religion erwartete.
Die Semantik des Richters und diejenige seiner christlichen Angeklagten war nicht mehr deckungsgleich. Etwas Neues war in die antike Welt getreten: das Christentum, für Leppin ein heute noch quicklebendiger Teil aus dem antiken Erbe. Der Frankfurter Althistoriker möchte gerade deshalb vermeiden, dass seine Leser sich das frühe Christentum als den unmittelbaren Nukleus der heutigen Weltreligion vorstellen. Er zeigt, wie alternativenreich und mitunter fremdartig die Christen von den Anfängen bis in die Zeit Kaiser Konstantins zu Beginn des vierten Jahrhunderts dachten und handelten.
Christen kamen aus allen Schichten, wenn auch selten aus der allerobersten Spitze der Gesellschaft. Sie lebten in den politischen und sozialen Strukturen ihrer Zeit, erwarteten anfangs ein baldiges Ende dieser Welt und sahen gleichwohl Konsequenzen ihres Glaubens für die Formen, in denen sie in dieser Welt leben wollten, als Familienmenschen oder als Asketen (F.A.Z. vom 10. September). Nur dass eines Tages ein Kaiser Christ würde, hätten sie sich nach Leppins zugespitzter These nicht vorstellen können. Der Autor misstraut der modischen Rede von antiken Christentümern, weil auch der Plural klar definierte Identitäten impliziere. Der Buchtitel "Die frühen Christen" schließt alle ein, die sich selbst als Christen sahen oder von anderen so bezeichnet wurden.
Leppin greift mit vollen Händen in die Quellen antiken christlichen Schrifttums, besonders in solche, die nicht die Theologie der späteren Mehrheitskirche repräsentieren, darunter viele "apokryphe" Evangelien, Apostelgeschichten und Apokalypsen, Briefe auf Papyrus, Inschriften, Texte gnostischer Färbung oder Berichte über die Prophetie der Montanisten im zweiten Jahrhundert. Hierin und in der souveränen Auswertung einer Fülle internationaler Forschung von Kirchen- und Profanhistorikern liegen besondere Stärken des Werkes.
Erwartungen einer linearen Meistererzählung werden anfangs unterlaufen, später teils erfüllt. Leppins Nouveau Roman ist für Nichtfachleute vor allem im ersten Viertel vermutlich nicht einfach zu lesen. Viele Texte und Sachverhalte kommen mehrfach in unterschiedlicher Perspektive zur Sprache, nicht immer wird beim ersten Mal erklärt, in welchen Zusammenhang sie gehören. Man muss dieses Kaleidoskop von Fundstücken bewegen, sprich: hin und her blättern. Die vier Teile handeln von der Frage der Identität der frühen Christen zwischen Juden und Heiden, von den Formen ihrer Selbstorganisation, von ihren Alltagspraktiken und von ihrer Stellung zu Staat, Militär und Eliten.
Eine Gesamtdarstellung ist nicht intendiert und nur in manchen Abschnitten ist genauer von den jüdischen und paganen Kontexten die Rede. Man kann sich fragen, ob Bilder von Vielfalt in Leppins Werk gelegentlich dadurch erzeugt werden, dass christliche Ansichten ohne Rücksicht auf ihre Datierung und geographische Zuordnung nebeneinandergestellt werden. So könnte der Eindruck entstehen, jeder einzelne frühe Christ habe diese Pluralität als bunten Strauß von Denkmöglichkeiten in der Hand gehalten. Doch die Ideen etwa der von Leppin oft zitierten syrischen "Didaskalie" aus dem dritten Jahrhundert, die dem Bischof in singulärer Weise eine Art Gottkönigtum zuschreibt, müssen nichts zu tun haben mit den realen Handlungsoptionen einer Christin im Karthago Cyprians, der das Bischofsamt in römischen Rechtsbegriffen konzipierte, oder mit den Vorstellungen eines Hörers der Vorlesungen von Origenes in Palästina, in denen religiöse Erkenntnis gar nicht an klerikale Rangstufen gebunden wurde.
Die Geschichte der frühen Christen würde, nach Räumen und innerhalb gleicher Räume nach Zeiten gegliedert, mehr Momente linearer Erzählung ermöglichen als Leppin sie bietet. Die zweifellos vorhandene Pluralität läge dann oft erst auf der Makroebene der ganzen Christenheit. Erfrischend ist Leppins Zweifel, ob wir für die ersten dreihundert Jahre ohne weiteres eine Geschichte der "Mehrheitskirche" anhand der später kanonisierten Bibel- und Kirchenvätertexte schreiben dürfen. Wer oder was damals bei Christen in der Mehrheit oder aber marginal war, wissen wir tatsächlich in vielen Bereichen nicht sicher.
Leppin fragt am Ende, ob nicht erst Kaiser Konstantin den um Ortsbischöfe organisierten Christen einen starken Vorrang vor allen anderen Gruppen gegeben habe. Doch sagt er zuvor selbst, dass die im späten zweiten Jahrhundert vielerorts sich durchsetzende Organisation der Stadtgemeinde um einen einzigen, mit starken Befugnissen ausgestatteten Bischof stabilere Strukturen erzeugte als Gemeinden, die ohne Amtsträger auf das stete Wehen des Geistes vertrauten. Schon lange vor Konstantin dürften darum die meisten Christen Bischofsgemeinden angehört haben.
Leppin arbeitet mit Max Webers Kategorien von Autorität und Charisma. Während das klassische Narrativ dem Christentum gern eine Entwicklung vom Charisma zum Amt zuschreibt, gelingt Leppin mühelos der Gegenbeweis: Fortwährend erlangten Menschen Autorität durch Prophetie, organisatorische, asketische oder intellektuelle Leistung, worum sich auch Amtsträger oft bemühten. Umgekehrt konnte Autorität stets bestritten werden. Leppin zitiert Stimmen, die charismatischen Wanderpredigern oder den Bischöfen lebenskluges Misstrauen entgegenbrachten. So erging es Bischof Paul von Samosata, der sich eine Tribüne und einen gar zu hohen Thron bauen ließ, zudem auch noch gern mit einer ganzen Garde von Leibwächtern und schönen Frauen umgab. Da hätte es seiner von Gegnern kritisierten theologischen Ansichten vielleicht gar nicht mehr bedurft: Der Mann wurde abgesetzt.
Leppin erzählt viele solche sprechenden Geschichten. Etwa wie christliche Gemeinden vermieden, Paradiese für Schnorrer zu werden, die christliche Nächstenliebe ausnutzten. Oder die Überlieferung von Jesu Bruder Jakobus, der einige Jahrzehnte lang in Jerusalem eine wichtige Rolle bei Christen einnahm und nach seiner Tötung, angeblich von jüdischer Seite, durch einen anderen Verwandten Jesu ersetzt wurde: Wäre Jerusalem unzerstört geblieben, vielleicht hätte sich ein alternativer Zweig eines stärker jüdischen Christentums noch viel länger halten können.
Diese Bilder früher Christen sind von Respekt und Differenzierung gekennzeichnet, auch in den ausgewogenen Abschnitten über Ehe und Sexualität. Generelle Leibfeindlichkeit könne man antiken Christen nicht unterstellen, auch der Körper habe den meisten Christen als von Gott geschaffen gegolten. Frühe Christen konnten die Ehe positiv bewerten, aber auch die Enthaltung von ehelicher Gemeinschaft als besondere Gabe ansehen. Der Umgang mit Sexualität sei vornehmlich Sache des Einzelnen geworden, das Schamgefühl individualisiert oder theozentriert worden. Den sexuellen Missbrauch von Jungen prangerten pagane Mitglieder der Gesellschaft nach Leppin wohl nur an, wenn es um Kinder frei geborener Bürger ging. Für Sklavenkinder habe sich lange Zeit kaum jemand eingesetzt; nur wenige Philosophen, dann aber die Christen hätten gesehen, dass bestimmte Werte ausnahmslos für alle Menschen gelten und jegliche sexuelle Ausbeutung von Abhängigen verwerflich ist.
Um ein Thema macht das Buch einen Bogen: die Theologie der frühen Christen, die Vielfalt, Streit und Drama in Hülle und Fülle bietet. Doch Leppin respektiert wohl eine Grenze zwischen seinem Fach und demjenigen der Kirchenhistoriker aus Theologischen Fakultäten. Was das innerste Movens für die von Leppin exzellent beschriebenen Sichtweisen der frühen Christen war, deutet er nur an, etwa in dem Kapitel über die christliche Entdeckung der Demut als Tugend angesichts eines transzendenten Gottes.
Worum ging es den frühen Christen letztlich? Das Markusevangelium lässt den Hauptmann unter dem Kreuz sagen: Dieser Mensch ist wahrhaft Gottes Sohn gewesen. Was das eigentlich heißt, welche neue Ahnung von Gott und welches neue Bild der Menschen daraus zu entwickeln wäre, und wie sich ein Leben führen ließe, das dem allen halbwegs gerecht wird - mit diesen offenen theologischen Fragen würde man ziemlich nahe an das gelangen, was nachdenkliche Christen antreibt, heute wie in den Anfängen, von denen dieses lesenswerte Buch erzählt.
ROLAND KANY
Hartmut Leppin: "Die frühen Christen". Von den Anfängen bis Konstantin.
C. H. Beck Verlag, München 2018. 512 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als noch nicht klar war, was die Mehrheitskirche ist: Der Althistoriker Hartmut Leppin führt geschichtenreich in die vielfältige Welt der frühen Christen ein.
Der römische Prokonsul in Karthago suchte im Jahre 180 einen Prozess gegen einige angeklagte Christen gütlich zu beenden, indem er ihnen eine goldene Brücke baute und sagte: "Auch wir sind religiös, und unsere Religion (religio) ist einfach. Wir schwören beim Genius unseres Herrn des Imperators, was auch ihr tun müsst." Die Christen betonten, einem unsichtbaren Gott zu dienen und den Imperator anzuerkennen - genauer den "Imperator aller Könige und Völker". Den geforderten kultischen Akt verweigerten sie und wurden darum enthauptet.
Hartmut Leppin legt in seinem neuen Buch die Bedeutungsschichten frei, die unter diesem Wortwechsel liegen. Die Christen sagten zwar Imperator, meinten aber am Ende doch den wahren Gott und nicht den Kaiser. Der pagane Prokonsul verstand unter "religio" nicht-ethisierte kultische Regeln, die einzuhalten waren, damit das Imperium keinen Schaden nahm. "Religio" bedeutete nicht Glaubenslehren. Doch um solche ging es den Christen, verbunden mit ethischen Überzeugungen, wie man sie in der paganen Antike eher in der Philosophie als in der Religion erwartete.
Die Semantik des Richters und diejenige seiner christlichen Angeklagten war nicht mehr deckungsgleich. Etwas Neues war in die antike Welt getreten: das Christentum, für Leppin ein heute noch quicklebendiger Teil aus dem antiken Erbe. Der Frankfurter Althistoriker möchte gerade deshalb vermeiden, dass seine Leser sich das frühe Christentum als den unmittelbaren Nukleus der heutigen Weltreligion vorstellen. Er zeigt, wie alternativenreich und mitunter fremdartig die Christen von den Anfängen bis in die Zeit Kaiser Konstantins zu Beginn des vierten Jahrhunderts dachten und handelten.
Christen kamen aus allen Schichten, wenn auch selten aus der allerobersten Spitze der Gesellschaft. Sie lebten in den politischen und sozialen Strukturen ihrer Zeit, erwarteten anfangs ein baldiges Ende dieser Welt und sahen gleichwohl Konsequenzen ihres Glaubens für die Formen, in denen sie in dieser Welt leben wollten, als Familienmenschen oder als Asketen (F.A.Z. vom 10. September). Nur dass eines Tages ein Kaiser Christ würde, hätten sie sich nach Leppins zugespitzter These nicht vorstellen können. Der Autor misstraut der modischen Rede von antiken Christentümern, weil auch der Plural klar definierte Identitäten impliziere. Der Buchtitel "Die frühen Christen" schließt alle ein, die sich selbst als Christen sahen oder von anderen so bezeichnet wurden.
Leppin greift mit vollen Händen in die Quellen antiken christlichen Schrifttums, besonders in solche, die nicht die Theologie der späteren Mehrheitskirche repräsentieren, darunter viele "apokryphe" Evangelien, Apostelgeschichten und Apokalypsen, Briefe auf Papyrus, Inschriften, Texte gnostischer Färbung oder Berichte über die Prophetie der Montanisten im zweiten Jahrhundert. Hierin und in der souveränen Auswertung einer Fülle internationaler Forschung von Kirchen- und Profanhistorikern liegen besondere Stärken des Werkes.
Erwartungen einer linearen Meistererzählung werden anfangs unterlaufen, später teils erfüllt. Leppins Nouveau Roman ist für Nichtfachleute vor allem im ersten Viertel vermutlich nicht einfach zu lesen. Viele Texte und Sachverhalte kommen mehrfach in unterschiedlicher Perspektive zur Sprache, nicht immer wird beim ersten Mal erklärt, in welchen Zusammenhang sie gehören. Man muss dieses Kaleidoskop von Fundstücken bewegen, sprich: hin und her blättern. Die vier Teile handeln von der Frage der Identität der frühen Christen zwischen Juden und Heiden, von den Formen ihrer Selbstorganisation, von ihren Alltagspraktiken und von ihrer Stellung zu Staat, Militär und Eliten.
Eine Gesamtdarstellung ist nicht intendiert und nur in manchen Abschnitten ist genauer von den jüdischen und paganen Kontexten die Rede. Man kann sich fragen, ob Bilder von Vielfalt in Leppins Werk gelegentlich dadurch erzeugt werden, dass christliche Ansichten ohne Rücksicht auf ihre Datierung und geographische Zuordnung nebeneinandergestellt werden. So könnte der Eindruck entstehen, jeder einzelne frühe Christ habe diese Pluralität als bunten Strauß von Denkmöglichkeiten in der Hand gehalten. Doch die Ideen etwa der von Leppin oft zitierten syrischen "Didaskalie" aus dem dritten Jahrhundert, die dem Bischof in singulärer Weise eine Art Gottkönigtum zuschreibt, müssen nichts zu tun haben mit den realen Handlungsoptionen einer Christin im Karthago Cyprians, der das Bischofsamt in römischen Rechtsbegriffen konzipierte, oder mit den Vorstellungen eines Hörers der Vorlesungen von Origenes in Palästina, in denen religiöse Erkenntnis gar nicht an klerikale Rangstufen gebunden wurde.
Die Geschichte der frühen Christen würde, nach Räumen und innerhalb gleicher Räume nach Zeiten gegliedert, mehr Momente linearer Erzählung ermöglichen als Leppin sie bietet. Die zweifellos vorhandene Pluralität läge dann oft erst auf der Makroebene der ganzen Christenheit. Erfrischend ist Leppins Zweifel, ob wir für die ersten dreihundert Jahre ohne weiteres eine Geschichte der "Mehrheitskirche" anhand der später kanonisierten Bibel- und Kirchenvätertexte schreiben dürfen. Wer oder was damals bei Christen in der Mehrheit oder aber marginal war, wissen wir tatsächlich in vielen Bereichen nicht sicher.
Leppin fragt am Ende, ob nicht erst Kaiser Konstantin den um Ortsbischöfe organisierten Christen einen starken Vorrang vor allen anderen Gruppen gegeben habe. Doch sagt er zuvor selbst, dass die im späten zweiten Jahrhundert vielerorts sich durchsetzende Organisation der Stadtgemeinde um einen einzigen, mit starken Befugnissen ausgestatteten Bischof stabilere Strukturen erzeugte als Gemeinden, die ohne Amtsträger auf das stete Wehen des Geistes vertrauten. Schon lange vor Konstantin dürften darum die meisten Christen Bischofsgemeinden angehört haben.
Leppin arbeitet mit Max Webers Kategorien von Autorität und Charisma. Während das klassische Narrativ dem Christentum gern eine Entwicklung vom Charisma zum Amt zuschreibt, gelingt Leppin mühelos der Gegenbeweis: Fortwährend erlangten Menschen Autorität durch Prophetie, organisatorische, asketische oder intellektuelle Leistung, worum sich auch Amtsträger oft bemühten. Umgekehrt konnte Autorität stets bestritten werden. Leppin zitiert Stimmen, die charismatischen Wanderpredigern oder den Bischöfen lebenskluges Misstrauen entgegenbrachten. So erging es Bischof Paul von Samosata, der sich eine Tribüne und einen gar zu hohen Thron bauen ließ, zudem auch noch gern mit einer ganzen Garde von Leibwächtern und schönen Frauen umgab. Da hätte es seiner von Gegnern kritisierten theologischen Ansichten vielleicht gar nicht mehr bedurft: Der Mann wurde abgesetzt.
Leppin erzählt viele solche sprechenden Geschichten. Etwa wie christliche Gemeinden vermieden, Paradiese für Schnorrer zu werden, die christliche Nächstenliebe ausnutzten. Oder die Überlieferung von Jesu Bruder Jakobus, der einige Jahrzehnte lang in Jerusalem eine wichtige Rolle bei Christen einnahm und nach seiner Tötung, angeblich von jüdischer Seite, durch einen anderen Verwandten Jesu ersetzt wurde: Wäre Jerusalem unzerstört geblieben, vielleicht hätte sich ein alternativer Zweig eines stärker jüdischen Christentums noch viel länger halten können.
Diese Bilder früher Christen sind von Respekt und Differenzierung gekennzeichnet, auch in den ausgewogenen Abschnitten über Ehe und Sexualität. Generelle Leibfeindlichkeit könne man antiken Christen nicht unterstellen, auch der Körper habe den meisten Christen als von Gott geschaffen gegolten. Frühe Christen konnten die Ehe positiv bewerten, aber auch die Enthaltung von ehelicher Gemeinschaft als besondere Gabe ansehen. Der Umgang mit Sexualität sei vornehmlich Sache des Einzelnen geworden, das Schamgefühl individualisiert oder theozentriert worden. Den sexuellen Missbrauch von Jungen prangerten pagane Mitglieder der Gesellschaft nach Leppin wohl nur an, wenn es um Kinder frei geborener Bürger ging. Für Sklavenkinder habe sich lange Zeit kaum jemand eingesetzt; nur wenige Philosophen, dann aber die Christen hätten gesehen, dass bestimmte Werte ausnahmslos für alle Menschen gelten und jegliche sexuelle Ausbeutung von Abhängigen verwerflich ist.
Um ein Thema macht das Buch einen Bogen: die Theologie der frühen Christen, die Vielfalt, Streit und Drama in Hülle und Fülle bietet. Doch Leppin respektiert wohl eine Grenze zwischen seinem Fach und demjenigen der Kirchenhistoriker aus Theologischen Fakultäten. Was das innerste Movens für die von Leppin exzellent beschriebenen Sichtweisen der frühen Christen war, deutet er nur an, etwa in dem Kapitel über die christliche Entdeckung der Demut als Tugend angesichts eines transzendenten Gottes.
Worum ging es den frühen Christen letztlich? Das Markusevangelium lässt den Hauptmann unter dem Kreuz sagen: Dieser Mensch ist wahrhaft Gottes Sohn gewesen. Was das eigentlich heißt, welche neue Ahnung von Gott und welches neue Bild der Menschen daraus zu entwickeln wäre, und wie sich ein Leben führen ließe, das dem allen halbwegs gerecht wird - mit diesen offenen theologischen Fragen würde man ziemlich nahe an das gelangen, was nachdenkliche Christen antreibt, heute wie in den Anfängen, von denen dieses lesenswerte Buch erzählt.
ROLAND KANY
Hartmut Leppin: "Die frühen Christen". Von den Anfängen bis Konstantin.
C. H. Beck Verlag, München 2018. 512 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Althistoriker Hartmut Leppin führt geschichtenreich in die vielfältige Welt der frühen Christen ein (...) (ein) lesenswertes Buch"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Roland Kany
"Eine facettenreiche Geschichte der frühen Christen zusammenfügen. Sie führt nicht nur die "Fremdheit des Vertrauten" vor Augen, sondern erzeugt zugleich ein vertieftes Verständnis für diese Zeit und die in ihr handelnden Menschen."
Theologische Revue, Heike Grieser
"Leppin wertet die vielfältigen Quellen brillant und tiefgründig aus und beleuchtet die mannigfachen Spannungen in den frühen Christengemeinden anschaulich."
h-soz-kult. Daniel Vaucher
"Leppin beschreibt souverän die Entwicklung der frühchristlichen Gemeinden."
Zeitschrift für Politik, Rainer Miehe
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Roland Kany
"Eine facettenreiche Geschichte der frühen Christen zusammenfügen. Sie führt nicht nur die "Fremdheit des Vertrauten" vor Augen, sondern erzeugt zugleich ein vertieftes Verständnis für diese Zeit und die in ihr handelnden Menschen."
Theologische Revue, Heike Grieser
"Leppin wertet die vielfältigen Quellen brillant und tiefgründig aus und beleuchtet die mannigfachen Spannungen in den frühen Christengemeinden anschaulich."
h-soz-kult. Daniel Vaucher
"Leppin beschreibt souverän die Entwicklung der frühchristlichen Gemeinden."
Zeitschrift für Politik, Rainer Miehe