Mörderische Schreibwelten
Ein spannender Krimi bietet eine Auszeit vom Alltag, die Lesende mit dem wohligen Gefühl genießen können, dass es sich nur um Fiktion handelt und am Ende in der Regel wie im Märchen das „Böse“ besiegt wird und der oder die Schuldige ins Gefängnis wandert. Doch was, wenn
das Gelesene auf geradezu verstörende Weise real existierenden Personen und Gegebenheiten ähnelt?…mehrMörderische Schreibwelten
Ein spannender Krimi bietet eine Auszeit vom Alltag, die Lesende mit dem wohligen Gefühl genießen können, dass es sich nur um Fiktion handelt und am Ende in der Regel wie im Märchen das „Böse“ besiegt wird und der oder die Schuldige ins Gefängnis wandert. Doch was, wenn das Gelesene auf geradezu verstörende Weise real existierenden Personen und Gegebenheiten ähnelt? Genau dieses beklemmende Gefühl bekommt eine Bibliothekarin, die den Nachlass eines verstorbenen Schriftstellers sichtet und in einem unvollendeten Manuskript deutliche und beunruhigende Parallelen zum Fall Lara Hardie, einer jungen vermissten Frau, erkennt. Sie entschließt sich, den ihr bekannten Kriminalbeamten Jason aus Karen Piries Team zu kontaktieren …
Mit dieser ungewöhnlichen Ausgangslage beginnt Karen Piries siebter Fall, der zudem noch unter äußerst ungewöhnlichen Umständen stattfindet: der frühen Phase der Pandemie, als es noch keine Impfstoffe gab und in Schottland ein sehr strenger Lockdown mit Ausgangssperre herrschte. Äußerst spannend war für mich als Bücherfan das Setting: die Literaturwelt mit den angehenden oder bereits etablierten Autor:innen, dem Archivmaterial aus dem Nachlass eines Schriftstellers, einem Schreibkurs und Schreibwettbewerb. Da kommen unwillkürlich Fragen danach auf, wie Menschen zu Schriftsteller:innen werden, wie ein Werk entsteht und ganz besonders natürlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Fiktion und Realität, eine Frage, die angesichts des Vermisstenfalls eine ganz besondere Brisanz gewinnt.
Mir gefiel sehr, dass über das geheimnisvolle unvollendete Manuskript, das die Ermittlungen von Piries und ihrem Team in Gang setzt, nicht nur geredet wird, sondern dass McDermid sich auch die Mühe gemacht hat, es selbst zu verfassen und in voller Länge zu präsentieren. Das ist ihr sehr gut gelungen – der Schreibstil unterscheidet sich spürbar und ich hatte so tatsächlich den Eindruck, dass ich den Text eines anderen Menschen lesen würde. Es handelt sich um eine eiskalte Morderzählung, packend und erschreckend angesichts der Anmaßung und völligen Empathielosigkeit des Täters. Doch bezieht sie sich auch auf reale Geschehnisse? An diesem Punkt gingen meine Spekulationen in alle Richtungen. Hier hatte mich McDermid ganz gepackt und meine Fantasie angeregt – allerdings so sehr, dass ich hinterher vom tatsächlichen Ausgang dieses Kriminalromans leider etwas enttäuscht war.
Nicht enttäuscht und wie bei den anderen Büchern von ihr aufs Neue begeistert haben mich: ihre zwischen den Zeilen spürbare Liebe zu den Menschen (ungewöhnlich im Thrillergenre, wo ich manchmal den Eindruck habe, die Autor:innen würden detaillierte blutige Schilderungen diverser Grausamkeiten förmlich genießen) und ihre engagierte und zugleich schottisch-gemäßigte, sensible Art, diverse aktuelle Themen in ihre Erzählungen einzubinden.
Engagiert, bodenständig und zupackend – so wirkt auf mich die Hauptfigur Karen Pirie, die neben ihrer Arbeit auch schon mal mutige und unorthodoxe Wege geht, um einem Menschen in Not zu helfen, und ähnlich wie sie stelle ich mir auch die Autorin vor. In diesem Roman wuchs mir Karen regelrecht ans Herz. Dass wir Leser:innen auch die private Seite der Ermittlerteammitglieder kennenlernen, erscheint mir in vielen anderen Krimis überflüssig, zu dieser Reihe jedoch passt diese menschliche Seite hervorragend.
Ganz hat McDermid das Potenzial, das diese Geschichte bot, leider nicht ausgeschöpft, aber was sie geliefert hat, war ein kniffliger und herrlich mysteriöser Fall mit überzeugender Auflösung.