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Ein Sammler leuchtender Augenblicke: In seinen Gedichten begibt sich der 2003 verstorbene Schriftsteller Rainer Malkowski auf die Suche nach der Epiphanie und entzieht sich der Forderung nach ständiger Weiterentwicklung der Form.
In "Hunger und Durst", dem letzten Gedichtband, den er noch vollenden konnte, veröffentlichte Rainer Malkowski ein Gedicht über den Tod seines Vaters: "Ich hasse das Militär - / und dachte, als er zwei Jahre lang / klaglos starb, / stolz: / Wie ein Soldat." Das war 1997. Da hatte der Dichter noch sechs Jahre zu leben. Zu einem schweren Augenleiden war eine Krebserkrankung hinzugetreten. Malkowski hat sein Sterben so angenommen, wie er in den Versen über seinen Vater schrieb. In einem seiner letzten Gedichte bat er darum, seine "Urteilskraft" möge ihn "im Nebel der Medikamente" nicht verlassen. Diese Bitte wurde ihm erfüllt. Das Einverständnis mit dem Sterbenmüssen reichte bis in seinen Tod am 1. September 2003. Der Kreis hatte sich geschlossen. Denn schon in Malkowskis erstem Buch von 1975 stehen die Zeilen: "Dies ist ein Morgen / zu schön / um nicht an den Tod zu denken."
"Was für ein Morgen" hieß dieser Lyrikband. Mit solch erfrischender Evokation betrat ein Mann von Mitte dreißig die lyrische Szene, auf der die schlechte Laune der Politpoesie herrschte. "Erleichtert, / mit triumphierend geschlossenen Augen", heißt es da, "nehmen wir Abschied von allen Plänen". Man hat Malkowski jener Neuen Subjektivität zugeschlagen, die das linke Projekt in den Alltag von Demo und Biertresen hineinretten wollte. Nichts falscher als das. Malkowski war alles andere als ein Ideologe, er kam aus der Praxis des Lebens. Er hatte nach Tätigkeiten in Verlagen in der Werbung gearbeitet und war bis 1972 Geschäftsführer und Teilhaber der damals größten deutschen Werbeagentur gewesen. An diesem Punkt der Karriere stieg Malkowski aus. Er zog mit seiner Frau in die Stille, nach Oberbayern, nach Brannenburg am Inn. Die lange vorbereitete Entscheidung für das Schreiben war gefallen: "Ich begriff allmählich / für welche nicht / mehr zu unterdrückenden Sätze." Es war die Entscheidung für das Gedicht.
Malkowski war ganz und gar Lyriker. Das bezeugen die neun Bände, die er in einem Vierteljahrhundert erscheinen ließ. Auf über 700 Seiten sind sie nun als "Die Gedichte" zusammengefasst. Zwar schrieb Malkowski auch wunderbar hintergründige Aufzeichnungen als "Hinterkopfgeschichten", so entzückend wie ihr Titel "Im Dunkeln wird man schneller betrunken". Nicht vergessen sei auch seine Prosanachdichtung des Armen Heinrich. Die Geschichte von der Heilung eines Schwerkranken durch Opfer und Liebe war für den Todkranken ein Abwehrzauber.
Der Kern von Malkowskis Werk aber ist die Lyrik. Das Schreiben von Gedichten war ihm Leben. "So kann man leben: / jeden Tag ein paar Sätze aufschreiben. / Andere sind Arzt / oder fahren Omnibus." Malkowski hat kein Doppelleben à la Benn geführt; er hielt es mit Rilke, für den Dichtung und Dasein fast identisch waren. Erstaunlich ist, wie gleich Malkowski sich in den drei Jahrzehnten seines Schreibens geblieben ist. Ausdruck, Thematik und Stil zeigen kaum signifikante Änderungen. Entwicklungsfremdheit sei die "Tiefe des Weisen", hat Gottfried Benn behauptet. Malkowski war kein Weiser, wollte kein Weiser sein. Er trumpfte nie auf, blieb skeptisch und diskret. Er blieb lebenslang ein Staunender, dem das Leben ein Rätsel war. "Vom Rätsel ein Stück" nannte er einen Band von 1980. Da heißt es: "Wenn es dich streift, / bleibt es für immer. / Und flog doch vorbei / und ließ nichts zurück." So spricht niemand, der sich im Besitz der Wahrheit wähnt.
Staunen war auch für ihn der Anfang aller Wahrnehmung. In einer seiner wenigen theoretischen Verlautbarungen, seiner Rede zum Breitbach-Preis, fand Malkowski die Formel: "Wahrnehmung als Ereignis - das ist es, was im Bewusstsein des Autors vorangegangen sein muss, damit das Gedicht entstehen kann."
Ich wüsste keinen neueren Lyriker, dem die Wahrnehmung so wichtig gewesen wäre wie Rainer Malkowski. Er war ein Erotiker des Sehens. Umso mehr, je schwerer die Gläser wurden, die er tragen musste. Fast neidvoll bewunderte er den Insektenforscher Fabre: "Was die Mühe lohnt, / konnte er / mit bloßem Auge entdecken." Das schrieb er am Eingang zu seinem Band "Ein Tag für Impressionisten". Doch bei aller Sympathie für Naturforscher oder Maler wusste er um das Privileg der poetischen Erkenntnis. Denn selbst bei den Malern sah er das Problem, dass sie etwas "anschauen, ohne es zu erkennen". Malkowski setzte auf jenes schwer Auffindbare, "das schon da war / mit der Deutlichkeit des Schmerzes".
Das Verborgene, das plötzlich schmerzhaft deutlich aufscheint, ist die Epiphanie. Malkowski war geradezu süchtig nach epiphanischen Momenten. Er war ein Sammler der leuchtenden Augenblicke. "Heute, das war, / als ich aus dem Haus trat / die Sekunde / Erwartung des Schönen." Für den Erzähler mag es die Stunde der wahren Erkenntnis geben. Für den Lyriker geht es um kürzere Intervalle, um die Momente, die kommen und gehen, ohne sich zu einem System oder einer Lehre zu verfestigen. Er muss immer neu ansetzen, er kommt nicht ans Ende. Er braucht neun Bände, siebenhundert Gedichte. Doch ihm genügen die kleinsten Anlässe, die heterogensten Details, um sich des Universums zu vergewissern.
In "Die Herkunft der Uhr", seinem unvollendet gebliebenen neunten Band, gibt es etwa den "Augenblick", der von der Beobachtung einer Fliege ausgeht. Sie lässt sich auf einem Brief nieder, darin über die Fliegen im Sommer geklagt wird: "und in derselben Sekunde / in der sie wieder abhebt, / höre ich, / wie Klaus und Carla im Nebenzimmer über das Universum sprechen".
So rückt dem Lyriker für eine Sekunde das Universum nahe. Im Gedicht spricht nicht die Tiefe des Weisen, sondern das Staunen des ewigen Kindes. In diesem Sinne ist Entwicklungsfremdheit ein Signum von Malkowskis Poesie. Bei kaum einem seiner Gedichte möchte man mit Gründen vermuten, in welchem der letzten Jahrzehnte es entstanden ist. Das Epiphanische transzendiert die Zeit. Es hält die Verse frisch. Wo sie den leuchtenden Moment verfehlen - wie möchte es bei Hunderten von Gedichten auch anders sein -, gibt es bemühte Etüden, privatistische Notizen, vorschnelle Verallgemeinerungen. Kurz: Ermüdendes.
Mancher Liebhaber der Lyrik mag sich auch daran stoßen, dass Malkowski nicht sonderlich an Formen und ihrer Entwicklung interessiert war. Er folgte der eigenen "Einladung ins Freie" der Poesie. Der Typus des freirhythmischen reimlosen Gedichts blieb dominant. Erst der sechzigjährige, der späte Malkowski probiert wieder auch Strophe und Reim. Zumeist ironisch oder milde sarkastisch. Doch der Reim fasst nichts mehr zusammen. Er löst auf. In "Ein Bild von Gerstl" heißt es von den zwei Schwestern, die dort figurieren: "Vier Augen schauen her, / sie schauen dich ganz leer, / doch was aus ihnen spricht, / du weißt es nicht." Die angeschaute Welt reagiert negativ, ja aggressiv. Sie erscheint leer und sinnlos, nicht mehr fassbar, nicht mehr erkennbar.
Dem todkranken Dichter mag auch das eigene Werk zweifelhaft geworden sein: "Aber davon ist jetzt nicht / die Rede." Doch diesem Satz geht ein anderer voraus, und der ist für uns entscheidend: "Das Lebenswerk, denken ein paar / von den andern, / bleibt." Dem Werk Rainer Malkowskis, darin so viele Epiphanien aufleuchten, wünschen wir viele Leser, die ebenso denken. Man muss es lieben.
HARALD HARTUNG
Rainer Malkowski: "Die Gedichte". Mit einem Nachwort von Nico Bleutge. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 768 S., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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