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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jean-Philippe Toussaint setzt mit "Die Gefühle" seine Romanreihe über den Zukunftsforscher Jean Detrez fort und macht ihn zum Opfer einer Naturkatastrophe.
Europa zittere, da ist er wieder: Der belgische Romancier Jean-Philippe Toussaint lässt seinen Helden Jean Detrez, Zukunftsforscher in Brüssel, neue Abenteuer erleben, in denen sich Privates und Politisches aufs Dezenteste vermengen. Was Toussaint in "Die Gefühle" als alltäglich, erträglich und dennoch katastrophal aufscheinen lässt, könnte kollektives Schicksal werden: Und wenn Europa eines Tages auf dieselbe armanigraue Weise unterginge, wie Detrez sein Liebesleben vermasselt, diskret, distinguiert, irgendwie desinteressiert?
"Die Gefühle" ist Teil einer Romanreihe Toussaints, deren Auftakt, "Der USB-Stick", der Blockchain-Technologie sowie den Spannungen zwischen EU und China gewidmet war. "Die Gefühle" ist intimer, handelt von Liebe und Tod: Der erste Teil erzählt davon, wie Detrez im Juli 2016 auf einer Tagung mit einer jungen Frau flirtet. Teil zwei schildert Tod und Beerdigung seines Vaters im Winter darauf, berichtet von Detrez' Familie sowie dessen gescheiterten Ehen. Teil drei schließlich ist einer Affäre während des Eyjafjöll-Ausbruchs 2010 gewidmet, der den Luftverkehr in Europa lahmlegte.
Doch die Etikette sagt wenig aus - alle Literatur, die etwas taugt, hat Eros und Thanatos zum Thema. Näher kommt man dem Roman, wenn man sich ansieht, wie Gefühle und Politik ineinandergreifen. Da wäre zunächst die kalauernde Feststellung, dass Detrez schon deshalb als guter Europäer gelten muss, weil er mit Damen vieler Nationen das Bett teilt. Was in seiner Schlichtheit an den Film "L'Auberge Espagnole" (2002) von Cédric Klapisch erinnert, wird beim näheren Hinsehen faszinierend komplex. Die Tagung in Hartwell House, England, etwa besteht aus einer "live challenge", im Laufe derer sich Zukunftsforscher, Politiker und Administratoren die Herausforderungen der EU-Außenpolitik bis 2030 vorstellen. Der Versuch steht doppelt im Schatten: Erstens wurde gerade der Brexit beschlossen, zweitens streiten sich der Organisator Peter Atkins und sein Stargast Scott Adams - ein Eklat, welcher der Veranstaltung einen schalen Beigeschmack verleiht. Vor allem wird Adams als populistische Kassandra inszeniert, die den Wahlsieg Donald Trumps zu Jahresende vorhersagt.
Detrez flüchtet in einen Flirt mit der Estin Enid Eelmäe; allerdings endet die Annäherung unverhofft mit einem alkoholseligen Lebewohl. Stattdessen landet Detrez in den Armen einer Barbekanntschaft, ein emotionales Verpassen, das an Frédéric Moreau, den Helden von Gustave Flauberts "Lehrjahre des Gefühls", erinnert: Bei beiden hat ein historisches Fiasko ein emotionales Pendant. Detrez hingegen erinnert sich an kaum etwas; später findet er das Foto einer barbusigen Schönheit auf seinem Handy und wundert sich, wo es herkommen mag.
Den ersten spiegelt der dritte Teil, in dem das Krisenmanagement um den Vulkanausbruch zu Sonderschichten der EU-Verwaltung führt - und zu einer ebenso intensiven Begegnung zwischen Detrez und der jungen Spanierin Pilar Alcantara. Der Vulkan als Metapher für diese erotische Annäherung ist höchstens ironisch denkbar: Sie mag eruptiv erfolgen, gipfelt aber in einer Groteske, als Detrez und Pilar sich unversehens in einer Pressekonferenz wiederfinden und aus dem Gebäude flüchten müssen, um endlich übereinander herfallen zu können.
Ihre Bedeutungsschwere erhalten die burlesken Episoden durch Teil zwei, der dem Tod der Liebe und dem Tod tout court gewidmet ist; er gibt der Komik existenzielle Wucht. Detrez senior, Diplomat, Universitätsprofessor und für Forschung zuständiger Kommissar, steht einerseits für ein humanistisches Europa und andererseits für egozentrische "Überheblichkeit". Sein Ableben kurz nach dem Brexit-Votum ist mehr als eine Koinzidenz: "Der Tod eines Menschen fällt manchmal mit dem Ende einer Epoche zusammen." Während "Der USB-Stick" die technologisch-geopolitische Außenfront europäischer Krisen vorführte, zeigt "Die Gefühle" interne Zersetzung. Das heimliche Zentrum beider Romane ist freilich besagter Tod, der den des alten Europas mitmeint. Der Trauerfall hatte "Der USB-Stick" beschlossen, in "Die Gefühle" wird er zum Stützpfeiler der Erzählung.
Apropos Baukunst: Mütterlicherseits besteht die Familie von Detrez aus Architekten, sein Bruder Pierre hat die Renovierung des Berlaymont-Gebäudes, des Sitzes der EU-Kommission, geleitet; Familien- und Institutionengeschichte werden verflochten. Die Umstände der Beerdigung dienen jedoch primär dazu, die Spannungen mit Detrez' Noch-Ehefrau Diane sowie das Verhältnis zu seiner Erstgattin Elisabetta zu inszenieren. Den Schiffbruch mit Diane verbildlicht Toussaint durch einen Wasserschaden: Denn "schweigend kreuzten sich unsere Wege zwischen den Eimern, Blechwannen, Töpfen und Wischlappen im Wohnzimmer. Wir lebten nebeneinanderher, jeder für sich schöpfte Wasser, der Zustand unseres Wohnzimmers war ein Abbild unserer Ehe, die den Bach runterging."
Der Bericht des ersten Treffens - "Von Anfang an war es ein totales Missverständnis gewesen" - lässt ebenso perplex wie das Resümee der ersten Ehe: "Vielleicht hätte ich größere Anstrengungen unternehmen und versuchen sollen, unsere Liebe zu retten, um des Risikos willen, mit Elisabetta eine lang anhaltende Beziehung einzugehen, die Beziehung eines ganzen Lebens" - was in der Tat der Idee einer Ehe entsprochen hätte. Es wirkt wenig seriös, "beim ersten Zwischenfall, bei der ersten Untreue, den Weg des geringsten Widerstands zu nehmen", aber Detrez ist nun einmal "angesaugt von einem ununterbrochenen Strudel von Taumel und Emotionen", dem er kaum Willenskraft entgegensetzt. "Die Zukunft lag für mich unrettbar im Dunkeln." Unser Zukunftsforscher steuert auf Sicht.
Die Verbindung von psychologischer Analyse und historischen Umwälzungen ist eine weitere Parallele zu Flaubert, ebenso das Verfahren: Toussaint erklärt nicht, sondern erzählt scheinbar arglos seine Geschichte. Intimes und Politik stehen nebeneinander, sind zugleich verhakt - wie, das muss der Leser klären. Toussaint gibt diskrete Hinweise, dass er dies tun sollte, etwa dadurch, dass die Handlung von "Der USB-Stick" betont beiläufig als "Reise nach Asien" resümiert wird; der Leser wird zur Suche nach Zusammenhängen aufgefordert. Am Ende liegt die Befürchtung nahe, dass die Protagonisten der EU aussehen könnten wie Detrez und Pilar: "winzige, panische Silhouetten in dieser imposanten Glasarchitektur". Europa hat endlich einen Schriftsteller gefunden, der ihm gerecht wird. Nur: Was als Lektüre köstlich amüsiert, ist als politische Aussicht ein Albtraum. NIKLAS BENDER
Jean-Philippe Toussaint: "Die Gefühle". Roman.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2021. 242 S., geb., 22,- Euro.
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