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Wer sich mit der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt, stößt immer wieder auf seinen Namen. Ob als Autor literarischer Texte oder von Kinderbüchern, ob als Wissenschaftler und Institutsgründer, als Initiator von Projekten wie der Wehrmachtsausstellung oder als Mäzen – überall setzt Jan Philipp Reemtsma Zeichen, die unübersehbar sind. Entsprechend viel gibt es über ihn zu sagen, von ihm zu kommentieren und für weitere Überlegungen und Analysen nutzbar zu machen. Über 50 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichsten Disziplinen setzen sich mit den Themen auseinander, die…mehr

Produktbeschreibung
Wer sich mit der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt, stößt immer wieder auf seinen Namen. Ob als Autor literarischer Texte oder von Kinderbüchern, ob als Wissenschaftler und Institutsgründer, als Initiator von Projekten wie der Wehrmachtsausstellung oder als Mäzen – überall setzt Jan Philipp Reemtsma Zeichen, die unübersehbar sind. Entsprechend viel gibt es über ihn zu sagen, von ihm zu kommentieren und für weitere Überlegungen und Analysen nutzbar zu machen. Über 50 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichsten Disziplinen setzen sich mit den Themen auseinander, die den vielfältig interessierten Reemtsma beschäftigen. Dabei geht jeder Beiträger von einem Zitat Reemtsmas aus und entwickelt seine Gedanken in direktem Bezug auf den Jubliar. So zieht sich dessen Wirken wie ein roter Faden durch diese Festschrift. Aufsätze über Literatur und Literaturwissenschaft finden sich darin, wie auch über Zivilisationstheorie, Soziologie, Rechtstheorie und Gewaltforschung.
Autorenporträt
Gerd Hankel, Jahrgang 1957, studierte Sprach- und Rechtswissenschaften an den Universitäten Mainz, Granada und Bremen. Seit 1993 ist er freier Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, seit 1998 wissenschaftlicher Angestellter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Er ist Autor zahlreicher Beiträge zum humanitären Völkerrecht, zum Völkerstrafrecht und zum Völkermord in Ruanda, dessen juristische Aufarbeitung er untersuchte.Susanne Fischer, Jahrgang 1960, ist Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Sie arbeitet als geschäftsführender Vorstand der Arno Schmidt Stiftung und betreut zahlreiche Editionen, unter anderem die Neuausgabe von Arno Schmidts »Zettel's Traum« und aktuell die Oevelgönner Ausgabe der Werke Peter Rühmkorfs. Sie publiziert über Literatur,
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2023

Kluges Beispiele
Rekapitulation der Kunst der Kapitulation

Kapitulation. Damit kennen sich die Deutschen aus - nach zwei Weltkriegen. Zumindest meinen das einige. Aktuelles Beispiel ist die Ukraine. Ihr werden gerne Ratschläge erteilt, wie sie am besten vor Russland kapitulieren kann. Zu Ostern kam derlei wieder auf den Märschen der "Friedensbewegung" zur Sprache - im von NATO und EU geschützten Deutschland.

Doch wie kapituliert man eigentlich? Und dann auch noch erfolgreich? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Alexander Kluge geht solchen Fragen in einem Streifzug durch die Kriegsgeschichte nach: "Vertrauen inmitten von Gewalt" lautet der vielsagende Titel seiner "Geschichten zum Thema Kapitulation", erschienen in einer Festschrift für Jan Philipp Reemtsma, herausgegeben von Susanne Fischer, Gerd Hankel und Wolfgang Knöbl ("Die Gegenwart der Gewalt und die Macht der Aufklärung". Zu Klampen Verlag, Springe 2022. 1006 S., geb., 68,- Euro).

An die heutige Gegenwart oder vielleicht sogar Zukunft zwischen Russland und der Ukraine lässt denken, was Kluge von den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden berichtet: Nach dreißig Jahren wechselnden Kriegsglücks seien Ansprüche übrig geblieben, denen keine Besitzstände entsprochen hätten. Eine Nichtberücksichtigung solcher Ansprüche hätte jedoch jede Verhandlung zunichtemachen können. Wie wurde der ersehnte Frieden dann dennoch erreicht?

Nach Kluges Beobachtung beruhten die jahrelangen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlungen in Osnabrück und Münster auf Kasuistik - auf Beispielen. Andere Argumente hätten auf die Verhandler fremd gewirkt. "Exempla" seien die Währung gewesen, in der die Verhandler getauscht hätten: Beispiele als "großes politisches Geld" oder als "Kleingeld, das herausgegeben wird, um zur Einigung zu gelangen". Der Kurs dieser Währung basierte auf der Festlegung eines "Normaljahrs" im selbst nach Jahrzehnten nicht enden wollenden Krieg, dessen Opferzahl in Relation zur betroffenen Gesamtbevölkerung sogar höher als im Zweiten Weltkrieg ausfallen sollte. Für Europas verwüstete Kriegszone im siebzehnten Jahrhundert wurde mit 1624 ein Jahr zum "Normaljahr" erklärt, in dem die Kampflinien des Konflikts, die Besitzstände und Fronten am 1. Januar ein Ergebnis ausgewiesen hatten, mit dem alle Seiten "noch einigermaßen" leben konnten - wie Kluge diesen "Springpunkt" treffend charakterisiert.

Auch an weiteren Haltepunkten seines Ritts durch die Kapitulationsgeschichte muss man beinahe automatisch an die aktuelle Nachrichtenlage im Osten Europas denken - mal beunruhigt, mal eher mit Grund zur Beruhigung. Da ist etwa Kluges Erinnerung an Tantalos, der nach der griechischen Mythologie gegen die Götter frevelte und damit ihren Fluch auf sein Haus zog, das dann über fünf Generationen hinweg von innerfamiliären Morden beherrscht war. Die mörderische Reihe endete erst mit Agamemnons Tochter Iphigenie, die der Vater eigentlich für günstigen Wind für die Beutefahrt nach Troja opfern wollte. Doch die Götter warfen eine Nebelwolke über den Ort der Freveltat. Aus dieser retteten sie die junge Frau - auf die Krim. Dort erwies sich Iphigenie, in Kluges Worten, als "schusselig": Die Erbinformation, die sie zum Morden vergattert hätte, sei ihrem Gedächtnis entfallen. Die Krim also als ein Ort, an dem auch schon einmal eine Serie des Bösen beendet wurde?

Zeitsprung in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts: wie heute Frühling - in Deutschland 1945 mit weißen Fahnen der Kapitulation. Was Kluge hier zu berichten weiß, wirkt wie ein Déjà-vu des heutigen Ringens um die Sicherheit des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja, auch wenn die konkrete Gefährdungslage in keiner Weise zu vergleichen sein dürfte. Kluge erzählt von den Schächten und Betrieben des Eschweiler Bergwerks-Vereins bei Aachen, wo die Belegschaft bis zu zwanzigtausend Mann umfasst hatte, im April 1945 geschrumpft auf weniger als ein Zehntel - zur Rettung der Gruben in Tag- und Nachtschicht. Schon damals gab es für komplexe, historisch gewachsene Anlagen keine "Stunde null", wie Kluge es zusammenfasst: Die Anlagen hätten sich selbst zerstört, wären voll Wasser gelaufen. Um dies zu verhindern, musste in ihnen kontinuierlich weitergearbeitet werden. Die Folge bereits in jener Zeit: Unter Tage arbeiteten die Kriegsgegner zusammen. Über Tage gingen die Kämpfe weiter.

Dies führt zu einer weiteren, in die Geschichte vor dem Menschen zurückgreifenden Beobachtung von Kluge: In der Evolution seien nur die Wölfe übrig geblieben, bei denen innerhalb des Rudels die Beißhemmung zuverlässig funktioniert habe. Der im Kampf unterlegene Wolf zeige seine Kehle dem deutlich größeren Exemplar, das sich als Sieger aufführe und nur zuzubeißen brauche, um den Unterlegenen zu vernichten. "Das wird er nicht tun", zitiert Kluge einen österreichischen Züchter, der 1945 einem sowjetischen Offizier das Gehege gezeigt habe, um für die Tiere eine Fleischzuteilung von der Besatzungsmacht freigegeben zu bekommen. "Und es gibt keine Ausnahme?", habe der Offizier gefragt. Die Antwort: "Es gibt keine irren Wölfe." Ob dies auch in Moskau gilt? THOMAS SPECKMANN

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