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Ende des 19. Jahrhunderts scheint die Welt einen neuen Mittelpunkt zu bekommen, weit weg von ihren bisherigen Zentren: In Panama, dem äußersten Zipfel Kolumbiens, wird ein Kanal gebaut, der die Weltmeere verbinden soll. Frankreich und die Vereinigten Staaten stürzen sich auf diesen Ort, der bis dahin nur für sein entsetzliches Klima und unzählige Tropenkrankheiten bekannt war. Hier ringen Europa und die USA um Reichtum und Macht. Doch nicht nur die Weltpolitik, auch Joseph Conrad, der seefahrende Romancier, entdeckt diesen Ort für sich. Ließ er sich von der Geschichte Kolumbiens und dem Bau…mehr

Produktbeschreibung
Ende des 19. Jahrhunderts scheint die Welt einen neuen Mittelpunkt zu bekommen, weit weg von ihren bisherigen Zentren: In Panama, dem äußersten Zipfel Kolumbiens, wird ein Kanal gebaut, der die Weltmeere verbinden soll. Frankreich und die Vereinigten Staaten stürzen sich auf diesen Ort, der bis dahin nur für sein entsetzliches Klima und unzählige Tropenkrankheiten bekannt war. Hier ringen Europa und die USA um Reichtum und Macht. Doch nicht nur die Weltpolitik, auch Joseph Conrad, der seefahrende Romancier, entdeckt diesen Ort für sich. Ließ er sich von der Geschichte Kolumbiens und dem Bau des Panamakanals zu seinem Roman "Nostromo" inspirieren? In Konkurrenz mit ihm tritt José Altamirano, gebürtiger Kolumbianer, dessen Leben inmitten von Katastrophen und politischen Umbrüchen einen tragikomischen Gegenpart zu dem des weltberühmten Schriftstellers bildet. Altamirano, der sich schuldig fühlt an der Niederlage seines Landes, zieht alle Register, um den großen Romancier zu überbieten. Eine Hommage an die Tradition des Abenteuerromans vom Autor von "Die Informanten".
Autorenporträt
Juan Gabriel Vásquez wurde 1973 in Bogotá geboren und studierte lateinamerikanische Literatur an der Sorbonne. Er hat unter anderem Victor Hugo, E. M. Forster und John Dos Passos übersetzt sowie preisgekrönte Erzählungen und Essays publiziert. Seine Werke wurden bisher in 14 Sprachen übersetzt. Bei Erscheinen seines Romans ›Die Informanten‹ nannte ihn der Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa "eine der originellsten neuen Stimmen der lateinamerikanischen Literatur". Heute lebt Juan Gabriel Vásquez als Schriftsteller mit seiner Frau und zwei Töchtern in Bogotá. Susanne Lange, geboren 1964 in Berlin, lebt in Barcelona. Für ihre Übersetzungen aus dem Spanischen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt das Zuger Übersetzerstipendium für ihre Neuübersetzung des Don Quijote (2003), den Hieronymusring (2007) und den Johann-Heinrich-Voß-Preis (2009). Derzeit ist sie August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u.a. Fernando del Paso, Federico García Lorca, Octavio Paz und Carmen Laforet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2011

Die Kanal-Kapriolen
Juan Gabriel Vásquez erzählt in dem Roman „Die geheime Geschichte Costaguanas“, wie Kolumbien Panama verlor
Der Kolumbianer Juan Gabriel Vásquez leidet an einer besonderen Art von Phantomschmerz. Seit 1999 lebt er in Barcelona, aber seine drei bisherigen Romane aus den Jahren 2004 bis 2011 umkreisen allesamt die Wunden der kolumbianischen Geschichte. Sein jüngstes Werk „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“ handelt von Angst und Gewalt während der Zeit des Drogenkriegs in den 1980ern; es erscheint gerade erst im Original und hat kürzlich den mit 175 000 Dollar dotierten spanischen Literaturpreis Alfaguara erhalten. Vásquez’ Erstling „Die Informanten“ blickte zurück auf die Jahre des Zweites Weltkriegs, in denen tausende Exilanten auf Druck der USA allein ihrer deutschen Wurzeln wegen denunziert wurden; literarisch kühn gebaut, verschränkte er die historische Recherche mit einer Spurensuche über biographische Spätfolgen in den Familien von Opfern und Tätern.
Nachdem „Die Informanten“ im vergangenen Jahr beim Erscheinen hierzulande fast einhellig – und völlig zu Recht – hoch gelobt wurde, ist nun Vásquez’ zweiter Roman „Die geheime Geschichte von Costaguana“ auf Deutsch herausgekommen. Darin schultert der Autor, 1973 geboren, die bisher größte Schnitte kolumbianischer Geschichte: die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und nicht nur das: Der Erzähler, ein fragwürdiger Charakter, der sich wilde Zeitsprünge und kapriziöse Abschweifungen erlaubt, will auch noch umständlich beweisen, dass er und Joseph Conrad, wiewohl tausende Kilometer voneinander entfernt geboren, auf merkwürdige Weise miteinander zu tun haben. Bindeglied zwischen dem kolumbianischen Ich-Erzähler und dem polnisch-britischen Schriftsteller ist Conrads berühmter Roman „Nostromo“. Der spielt in der imaginären Republik Costaguana – und Vásquez’ Hauptfigur José Altamirano weiß zufällig aus erster Hand, dass sich hinter diesem falschen Namen nur sein eigenes Heimatland Kolumbien verbergen kann. Aus Anlass von Conrads Tod 1924 setzt sich Altamirano hin und verfasst im Londoner Exil eine Art Lebensbeichte, die mit der Geburt seines Vaters 1820 anhebt und bis zur Veröffentlichung von „Nostromo“ 1903 reicht. Diese Beichte, an den „richtenden Leser“ gerichtet, macht Vásquez Buch aus.
Wie schon in „Die Informanten“, richtet die große Walze der Geschichte auch hier wieder viel Schaden in wehrlosen, zerbrechlichen Seelen an. Doch vom ersten Roman zum zweiten hat Vásquez den Ton gewechselt, so als wollte er Marx’ berühmtes Zitat über die Wiederkehr der Geschichte noch einmal literarisch bekräftigen. Führte das historische Unglück zuvor in die Tragödie, so wird es jetzt wie eine Farce inszeniert. „Die geheime Geschichte von Costaguana“ ist ein breit orchestrierter Abenteuerroman voll dramatischer Kapriolen, blutender Herzen, sinistrer Intrigen und rauchender Karabiner. Doch obwohl Vásquez beständig in die Vollen greift und kaum den Fuß vom Gas nimmt, geht er zugleich sehr skrupulös mit seinem Material um.
Denn er will weder bloß einen deftigen Historienschinken hinlegen noch in die Umlaufbahn von Garcia Márquez geraten. So durchsetzt er eine bemerkenswert souveräne erzählerische Effekthascherei mit Verweisen auf die Risiken und Nebenwirkungen des Erzählens an sich. Sein Buch handelt vom Glanz und Elend der Geschichte, aber auch vom Glanz und Elend des Wortes, und nicht selten verknüpft er beide Stränge: „Kolumbien ist ein Stück in fünf Akten, das irgendjemand in klassischen Versen zu schreiben versuchte, und doch kam nur plumpe Prosa heraus.“
José Altamirano, der launige Erzähler, hatte einen fortschrittlich denkenden Vater, einen „Liberalen“, der sich als Journalist früh mit den „Konservativen“ anlegte. Der musste aus Bogotá fliehen und gelangte nach Colón, ins heutige Panama, damals noch ein Teil Kolumbiens, wo er zum begeisterten Propagandisten des französischen Kanalprojekts aufstieg. Im Rückblick suggeriert der Sohn eine gewagte Parallele: Hatte der Vater einst hellsichtig die Grausamkeiten des kolumbianischen „Ancien Régime“ angeklagt, so verschloss er nun die Augen vor den Grausamkeiten der Moderne.
Die Pariser Kanalbaugesellschaft ließ mehr als 20 000 Bauarbeiter an Tropenkrankheiten sterben und bemäntelte diese und andere Wahrheiten, um Investoren nicht zu verschrecken. „Nein, mein Vater sah nichts von all dem“, raunzt der Sohn, „nun hatte ihn endgültig die berühmte kolumbianische Krankheit befallen, die S.B. (selektive Blindheit), auch als P.B. (partielle Blindheit) bekannt und ebenso als R.P.M. (Retinopathie aus politischen Motiven)“.
Vásquez schildert Kolumbiens postkoloniale Geschichte wie ein absurdes Theater ewigen Bruderzwists. Wer gewinnt, der Liberale oder der Konservative? Keiner von beiden – es siegen die USA, die Panamas Abspaltung befördern, um die Kanal-Konzession zum Schleuderpreis einzusacken. So fallen die Kolumbianer, zu sehr mit der blutigen Verwaltung ihrer Unabhängigkeit beschäftigt, einmal mehr dem Kolonialismus zum Opfer.
Der Erzähler José Altamirano versucht Abstand zum Affenzirkus seines Volkes zu halten, will vom schmutzigen Geschäft der Politik zunächst nichts wissen und macht in Familie. Aber er wird eines Besseren belehrt: Raushalten geht nicht und kann sogar Todesopfer im eigenen Haushalt sowie lebenslange Schande nach sich ziehen. Davon legt er mit „seinem“ Roman Zeugnis ab – und zeigt nebenbei einen Fall literarischer Kolonialisation an. Joseph Conrad, berichtet Altamirano, hat „Nostromo“ zwar an seiner Lebensgeschichte orientiert, ihn aber schließlich aus dem Buch herausgeschrieben. Skandal!
Dieser Conrad-Nebenstrang ist eine Hommage – Vasquez hält „Nostromo“ für den mit Abstand besten nicht-spanischsprachigen Roman über Südamerika. Als er vor knapp zehn Jahren eine kurze Biographie über den von ihm verehrten Joseph Conrad schrieb, entdeckte er ein paar überraschend direkte kolumbianische Verbindungen. Und nahm die stille Herausforderung an, Conrad und Kolumbien einmal explizit zusammenzubringen. Es ist ihm gelungen, wenn auch nicht ohne Gewalt. Die enorme Fahrt, die seine Erzählung aufnimmt, täuscht am Ende kaum darüber hinweg, dass manche Fäden der buntscheckigen Meta-Historien-Revision nur sehr lose in die Geschichte eingeflochten sind.
Charmant entschuldigt sich José Altamirano schon vorweg für solche Luftmaschen und schiefen Nähte, aber schließlich fallen die Fabrikationsfehler doch auf Vásquez zurück. Dem misslingen, wie vielen Regisseuren von Superproduktionen, insbesondere intime Szenen von Liebe, Verlust, Trauer und Sorge. Für eine pure Farce nimmt er sie zu ernst, fürs Drama bleiben sie zu oberflächlich. Am Ende bringt der Autor seinen Tripeldecker – Kolumbien, Kanal, Conrad – noch so eben ins Ziel, ohne dass ihm der ganze Bausatz um die Ohren fliegt. „Der Leser weiß nicht“, ruft José Altamirano aus dem Cockpit, „welch unmenschliche Anstrengungen ich unternommen habe, um meinem Bericht einen mehr oder weniger geordneten Anschein zu geben (ich schließe nicht aus, dass ich bei dem Versuch gescheitert bin).“ Der Leser fühlt mit. Aber ihn schwindelt doch ein wenig.
MERTEN WORTHMANN
JUAN GABRIEL VÁSQUEZ: Die geheime Geschichte Costaguanas. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2011. 335 Seiten, 22,95 Euro.
„Meinen Vater hatte endgültig
die kolumbianische Krankheit
befallen, die partielle Blindheit“
Der neue Roman des Kolumbianers Juan Gabriel Vásquez führt zurück in die Zeit, als der Panama-Kanal gebaut und Panama als selbständiger Staat von Kolumbien abgetrennt wurde: eine Postkarte (um 1920) zeigt die Panama-Hüte, die Kolumbien wegschwammen, in der Gatun-Schleuse des Kanals. Foto: Corbis
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2011

Pantagruel im kleinen Panama

Joseph Conrad hat mich beklaut: Juan Gabriel Vásquez entdeckt in seinem allzu selbstreferenziellen Roman den Chronisten des interozeanischen Kanalbaus.

O Vaterland so klein, gespannt auf einen Isthmus": Auch Zwergstaaten haben ein Recht auf patriotische Poeten. So wie Panama, wo der "Himmel klarer und die Sonne heller" ist als im Rest der Welt, glaubt man den Versen seines Nationaldichters Ricardo Miró. Dass es eine Nation mit Namen Panama je geben würde, hätte zum Zeitpunkt von Mirós Geburt 1883 niemand für möglich gehalten. Da nämlich war das stolze Vaterland nicht mehr als ein vom Darién-Urwald überwuchertes, schlauchförmiges Zipfelchen am Nordende Kolumbiens.

Die "geheime Geschichte" dieses Zwergvaterlands und seiner Geburt erzählt der Kolumbianer Juan Gabriel Vásquez in seinem zweiten Roman. Unter seiner Feder wird das kolumbianische neunzehnte Jahrhundert zur bizarr blutigen Farce. Wie Kleinkinder auf dem Spielplatz streiten sich die beiden verfeindeten Parteien der Liberalen und Konservativen darum, wer mit dem Regieren dran ist. Man zerstampft sich gegenseitig die Sandburgen - aus denen dennoch echtes Blut fließt. Auf dem Höhepunkt der infantilen Prügelei steht eine operettenhafte Revolution von Gnaden der Vereinigten Staaten, die den Urwaldzipfel Panama 1903 unverhofft in die Unabhängigkeit stolpern lässt. Rückwärts hinterher stolpert, unter Walter Benjamins Blick auf Paul Klees Angelus Novus, auch der "Engel der Geschichte". Bei Vásquez gebärdet der sich mal als allegorischer Würger, mal als parodistischer Sponsor des eigenen Romans.

Ihm hinterher stolpert wiederum José Altamirano, der in Romanform die Beichte seines Lebens ablegt, das ihn in die Arme einer französischen Witwe, in die Wirren der panamaischen Unabhängigkeit und schließlich in die Flucht nach Europa trieb. Er ist der Ich-Erzähler des Romans. Nach Panama hat ihn nur die Suche nach seinem Vater gebracht, einem Journalisten, freigeistigen Hallodri und Pfaffenschreck auf der Flucht vor klerikaler Verfolgung. Dieser ist der eigentliche Held: Nach der kolumbianischen Unabhängigkeit enttäuscht von seinen liberalen Idealen, machte sich Miguel Altamirano einst ins neugegründete Karibiknest Colón im Bundesstaat Panama auf - im Glauben, dass die Freiheit der Zivilisation am Isthmus verteidigt wird.

Aus dem rechten Winkel beleuchtet, werden auch Zwerge zu Riesen. So betrachtet, erhält das kleine Panama fast pantragruelische Dimensionen: Rabelais' Eingangsverse "Geneigte Leser, die ihr lest", werden von José Altamirano in ironischen Variationen fortlaufend neu gemischt: als Apostrophen an die "richtenden Leser" oder, als Baudelaire-Zitat, "scheinheiligen Leser", die er von seiner wahren Version der Fakten zu überzeugen sucht. So wächst auch für Vater Altamirano die Durchdringung des Urwald durch den Eisenbahnbau zum "gewaltigen Aufbruch in Richtung Fortschritt". Das anfangs französische Projekt eines Kanals vom Atlantik zum Pazifik steigert sich zur Verheißung einer glorreichen Zukunft nicht nur Kolumbiens. Diese felsenfeste Überzeugungen publiziert Miguel voll Emphase in seinen Artikel. Umgekehrt schrumpfen unter seiner Feder Sturmkatastrophen zu bedeutungslosen Windhäuchlein, tödliche Seuchenepidemien zur saisonbedingten Schnupfenwellen - sehr zur Beruhigung der Pariser Aktionäre, die das Kanal-Abenteuer finanzieren. Bis der Schwindel auffliegt und der quijoteske Reporter seinen eigenen Trugbildern zum Opfer fällt.

All dies ergäbe einen ingeniösen historischen Schelmenroman über Machtgier und Fortschrittswahn - brächte ein adliger polnischer Seefahrer namens Korzeniowski nicht alles durcheinander. Besser bekannt wenig später unter dem Pseudonym Joseph Conrad. Denn Altamirano filius ist überzeugt: Conrad hat ihm die Geschichte seines Lebens gestohlen, ihn seiner Existenz beraubt, zur Randfigur der Geschichte gemacht, in der ihm der stolpernde Engel eigentlich einen Zentralplatz zugeschrieben hatte. Ereignet habe sich dieser Diebstahl im London des Jahres 1904. Dorthin machte sich der Altamirano nach der panamaischen Revolution aus dem Staub - aus Gründen, die kaum nachvollziehbar werden. Dafür ließ er seine Tochter als halbwüchsige Waise in Colón zurück. Nur um dem kränklichen Romancier seine Lebensgeschichte vorzutragen - und sich zu wundern, sie plötzlich in Conrads Südamerika-Roman "Nostromo" wiederzufinden, und Kolumbien unter dem Namen "Costaguana".

Dass Conrad nicht das panamaische Colón, sondern wohl eher das kolumbianische Cartagena zu seinem fiktiven Costaguana verballhornt hat; dass "Nostromo" im Milieu der Exilitaliener spielt, die in Altamiranos eigenen Leben kaum eine Rollen spielen - all das scheint sich dem Bestohlenen nicht zu erschließen. Dem Leser leider auch nicht so ganz. Ebensowenig erklärt sich, zu welchem Zweck José sich eigentlich all die Jahre über in Panama aufhielt. Ohne geklärten Beruf, ohne Lebensaufgabe besitzt die nebulöse Erzählerfigur in erster Linie den Sinn, dem Autor Juan Gabriel Vásquez einen Vorwand zu liefern, die Literaturgeschichte ironisch umzuschreiben: um einem apokryphen Großschriftsteller Lateinamerikas zur Geburt zu verhelfen und im Gegenzug augenzwinkernd den Romancier Conrad zu demontieren. Nur wozu? Ganz offenkundig ist der Autor - der reale, der hierin mit dem fiktiven koinzidiert - von einer Fieberkrankheit befallen, die, anders als die grassierende Malaria, vor allem Schriftsteller befällt: der Literatose. Ihr Krankheitsbild wurde erstmals von dem Spanier Enrique Vila-Matas beschrieben. Es manifestiert sich darin, die Wirklichkeit zugunsten der Literatur zu verdrängen, jede eigene Verhaltensweise in literarischen Vorbildern zu spiegeln, bis die Wirklichkeit zur bloßen Imitation der Kunst wird. Das ermüdendste Symptom besteht allerdings darin, die Beschreibung des Krankheitsverlaufs zum Gegenstand der eigenen Literatur zu machen - und der Illusion aufzusitzen, das sei ästhetisch reizvoller als andere Berufskrankheiten.

In diesem chronischen Literatose-Anfall liegt der Geburtsfehler der "geheimen Geschichte Costaguanas". Sind die satirischen Schilderung der Peripetien Panamas, ihr verblendeter Protagonist Altamirano senior und die daraus ersponnene, zutiefst pessimistische Modellgeschichte Kolumbiens scharfsinnig und vergnüglich, flaut der Erzählfluss ab, sobald sich die Handlung in die Literatose rutscht, oder besser gesagt: in ein Hauptseminar über Selbstreferenzialität, Intertextualität und Mise en abyme in der lateinamerikanischen Literaturgeschichte. Conrad wie der von ihm bestohlene Erzähler bleiben Produkt einer fleischlosen Bildungsbeflissenheit. Es ist ein Jammer, dass Vásquez in Conrads fiktivem Costaguana verspielt, was er in seinem realen, lebendigen und sprachlich - auch dank der glänzenden Übersetzung - farbschillernden Isthmus von Amerika so kunstvoll aufbaut.

FLORIAN BORCHMEYER

Juan Gabriel Vásquez: "Die geheime Geschichte Costaguanas". Roman.

Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2011. 336 S., geb., 22,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Schade, schade, seufzt Florian Borchmeyer. Hätte sich der Autor ganz auf seine lebendige, den Rezensenten auch sprachlich überzeugende, als historischer Schelmenroman angelegte Geschichte Panamas beschränkt, Borchmeyer wäre zufrieden gewesen. Dass Juan Gabriel Vasquez seinen Roman mittels einer nebulösen Erzählerfigur zur sinnfreien Umdichtung der Literaturgeschichte ausbaut, kann er dem Autor nicht verzeihen. Für ihn liegt der Fall klar: Vasquez und sein Buch leiden an Literatose. Alle Symptome sprechen laut Borchmeyer für ein pathologisches Verständnis von Selbstreferentialität, Intertextualität und Mise en abyme in der lateinamerikanischen Literaturgeschichte, vulgo: fleischlose Bildungsbeflissenheit. Nichts für Borchmeyer.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Mit Nachfolgern wie Vásquez kann García Márquez sich getrost zur Ruhe setzen.«

Martin Ebel, Die Literarische Welt