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Alles sehr vernünftig und umsichtig: John Barton rennt mit seiner Geschichte der Bibel bei deutschen Lesern wohl einige offene Türen ein.
Von Johann Hinrich Claussen
Allen Klagen über den Untergang des christlichen Abendlands zum Trotz herrscht an guten neuen Büchern über die Bibel kein Mangel. Regelmäßig erscheinen schöne Kinderausgaben, gut verständliche Einführungen und anregende Sachbücher zu einzelnen Aspekten des Buchs der Bücher. Nun erreicht Deutschland ein Werk aus England, mit dem der angesehene Bibelwissenschaftler und anglikanische Priester John Barton eine Summe seiner Lebensarbeit gezogen und eine Geschichte der Bibel für ein allgemeines Publikum geschrieben hat. Er will in ihm nicht nur die Genesis der einzelnen Texte sowie des Kanons erzählen, sondern die ganze Geschichte der Bibel bis zur Gegenwart: wie sie geschrieben, zusammengestellt, gelesen, übersetzt, gedeutet wurde und bis heute gewirkt hat.
Das ist ein extrem ambitioniertes Vorhaben, das eigentlich nur von einem Autoren-Team in einem mehrbändigen Kompendium zu schaffen wäre. Wer all dies allein und in einem einzigen Buch unterbringen will, muss mutige Entscheidungen fällen, streng zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden, eigene Thesen wagen und originelle Akzente setzen. Dann würde man ihm verzeihen, dass er notwendigerweise vieles, was auch wissenswert wäre, übergeht. Zudem muss er sein Vorhaben als schriftstellerische Aufgabe begreifen, seinen Stoff gestalten, Spannungsbögen aufbauen, mal erzählen, dann diskutieren, einiges andeuten, anderes gezielt auslassen. Wer sich solch einen individuellen Zugriff nicht zutraut, dem bleibt wenig anderes, als Vollständigkeit anzustreben. Diese aber ist bekanntlich bei kreativen Vorhaben unbedingt zu vermeiden. Außerdem wird man sie eh nie erreichen.
Damit ist das Problem dieses ebenso gelehrten wie sympathischen Buches beschrieben. Zwar bietet Barton einen zuverlässigen Kurzabriss der Religions- und Literaturgeschichte Israels, des Judentums und des Christentums, erklärt Traditionen der Übersetzung, Deutung und Kritik, überlegt, was der Sinn der Bibel sein könnte, und navigiert dabei mit beneidenswerter Sicherheit über die Weltmeere der Exegese. Aber es fehlt der eigenständige Zugriff. Wer die Bibel lesen und anderen öffnen will, braucht eine Fragestellung. Es ist kein Zufall, dass Martin Luther seine Auseinandersetzungen mit der Bibel nicht als "Lektüre" beschrieb, sondern lieber davon sprach, dass er bei der Heiligen Schrift "anklopfe", sie "belagere" und "bestürme" wie eine Festung. Barton dagegen scheint sich weniger als Eroberer denn als Kartograph zu verstehen, der alles ordentlich verzeichnen möchte.
Das bietet Anlass für eine kleine Entmythologisierung, die deutsche Sachbuchautoren entlasten mag: Nicht alle Angelsachsen verfassen hinreißend erzählte Non-Fiction. Barton schreibt wie viele hiesige Theologieprofessoren auch: vernünftig, informativ, umständlich, unanschaulich, immer mit Rücksicht auf das, was die Kollegen sagen könnten. Er erzählt keine eigene Geschichte. Er positioniert sich nicht einmal bei dieser Frage: Sind die biblischen Bücher sehr alt und damit nah am erzählten Geschehen, wie Theologen früher behaupteten, oder wurden sie viel später verfasst, wie kritische Forscher heute sagen? Barton schreibt dazu: "Die Bücher des Alten Testaments entstanden wahrscheinlich zwischen dem 9. und dem 2. Jahrhundert v. Chr. Das heißt nicht zwingend, dass die Berichte über frühere Zeiten reine Fiktion sind, aber es macht es schwierig, biblische Angaben als belastbare historische Belege zu verwenden." Das ist allzu diplomatisch.
Da Barton originelle Einseitigkeiten scheut, schaut man ungnädig auf das, was bei ihm fehlt. Das ist neben vielen Einzelheiten fast alles, was nicht zur westeuropäischen Tradition gehört, zum Beispiel das Bibelverständnis der alten Kirchen des Nahen Ostens oder moderner christlicher Gemeinschaften, aber auch der Koran, den man doch als drittes Testament auffassen müsste. Besonders schmerzt, dass all die Bilder, Lieder, Gedichte, Romane und Filme, die sich biblischen Inspirationen verdanken, nicht berücksichtigt werden. Auch die politische Machtgeschichte der Heiligen Schrift hätte man in einem Buch mit diesem Titel erwartet. Vor allem aber vermisst man Sinn dafür, dass die Bibel ein Lebensbuch für Fromme und gar nicht so Fromme sein kann, dass Menschen ihr Leben für sie hingeben oder sich aus vollem Herzen gegen sie auflehnen. Deshalb gewinnt man keine Ahnung von der Wut und dem Trost der Propheten, von Hiobs Verzweiflung oder dem Zauber der Josephs- und der Ruth-Geschichte. Es fehlt der Sinn für das religiöse, existentielle und ästhetische Charisma der Bibel. Dieser Mangel wird dadurch verstärkt, dass die Übersetzer fast durchgängig nach der katholischen Einheitsübersetzung zitieren.
Dennoch, es ist kein schlechtes Buch. Es ist nur für einen anderen Kontext geschrieben. Mit pädagogischem und pastoralem Geschick versucht Barton, konservative Anglikaner und Evangelikale davon zu überzeugen, dass die moderne Bibelwissenschaft ein besseres Verständnis eröffnen kann. Vorsichtig erklärt er, dass die Bibel kein Monolith ist und manche Dogmen in ihr nicht zu finden sind. In Deutschland lernt man das im Konfirmandenund Religionsunterricht. So hat man den Eindruck, als wolle Barton für sein ursprüngliches Publikum behutsam Türen auftun, die hierzulande längst offen stehen. Die Geschichte der Bibel ist eine Abfolge dramatischer Umwälzungen, tragischer Abbrüche und revolutionärer Neuanfänge. Wer sich an das irrwitzige Vorhaben macht, diese ganze Geschichte zu erzählen, sollte sich nicht zu moderat und professoral geben, sondern einen Schuss Wahnsinn mitbringen.
John Barton: "Die Geschichte der Bibel". Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart.
Aus dem Englischen von J. Hagestedt und K. Schuler. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 717 S., geb., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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