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Von Wilhelm Tell bis zur vollendeten Demokratie: Der rhetorische Bürgerkrieg ist vorbei, heute will die Schweiz am liebsten mit sich und ihrer Geschichte im Reinen sein. Das klappt indes nicht reibungslos, wie neue Darstellungen zeigen.
Als "folgenschwersten Eid der Literaturgeschichte" verspottet der deutsche Historiker den Rütlischwur. Mit dieser nicht mehr ganz neuen Pointe eröffnete Volker Reinhardt vor zwei Jahren seine "Kleine Geschichte der Schweiz". Das eher schmale und sehr vergnüglich zu lesende Bändchen war bereits ein Recyclingprodukt, hervorgegangen aus der in der Reihe Beck Wissen mehrfach aufgelegten "Geschichte der Schweiz". Jetzt wurde daraus "Die Geschichte der Schweiz" schlechthin. Sie erschien praktisch gleichzeitig mit Volker Reinhardts hochgelobter Biographie von Machiavelli, der für den Laien doch eher überraschenderweise auch in seiner großen "Geschichte der Schweiz" mehrfach auftaucht. Vor drei Jahren schrieb er über Calvin und die "Tyrannei der Tugend" in Genf.
"In kaum einem anderen Land ist die Gegenwart so nah an der Geschichte wie in der Schweiz": Mit Niklaus von der Flüe, der im fünfzehnten Jahrhundert die Schweiz aus einer staatspolitischen Krise führte, wurde der Beitritt zur Europäischen Union bekämpft. Aber auch gegen ihre neuen "fremden Vögte" war der Mythos Wilhelm Tell sehr viel schlagkräftiger geblieben. Feindbilder funktionieren über Jahrzehnte und manchmal gar Jahrhunderte hinweg: Habsburg, Berlin, Moskau, Brüssel - und zurück nach Berlin? Als Igel fühlt sich die Schweiz seit ihrer Begründung, als Stachelschwein bezeichneten sie die Deutschen im Weltkrieg.
Damals erreichte die Verklärung Tells zum Helden des Widerstands ihren Höhepunkt. Erstmals wurde die politische Fabel mit dem Apfelschuss genauso wie der Rütlischwur um 1470 im Weißen Buch von Sarnen aufgezeichnet. Doch die Tell-Sage geht noch viel weiter zurück und hat skandinavische Ursprünge. Als Schiller sie auf die Bühne brachte, war sie "bereits von der unaufhaltsam fortschreitenden Geschichtswissenschaft bedroht". Auch für den Helden Winkelried, der bei der Schlacht von Sempach die Speere des feindlichen Heeres auf sich zog, finden sich in den historischen Quellen keine Belege. Viele Schriftstücke, die im neunzehnten Jahrhundert zu Gründungsdokumenten der Eidgenossenschaft verklärt wurden, waren bedeutend später entstanden.
Das haben C-14-Untersuchungen zweifelsfrei ergeben: "Selbst das Text-Allerheiligste der Schweiz, der Bundesbrief vom August 1291, ist auf diese Weise seines Ranges weitgehend verlustig gegangen." Einen mythologischen Umgang mit ihrer Geschichte betreibt die Schweiz seit der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Die "geistige Landesverteidigung" als politisches Dogma verfestigte im Zeiten Weltkrieg das Selbstverständnis eines alleinstehenden, von Feinden umgebenen Landes. Es hat 1945 überlebt und den Kalten Krieg geprägt. Dass sich "die Schweiz aus der Geschichte verabschiedet hat", stellte an seinem Ende der Historiker Jean-Rudolph von Salis fest.
Als einziges Land der Welt feierte sie 1989 den Ausbruch des Weltkriegs fünfzig Jahre zuvor. Die Identitätskrise kam mit dem Fall der Berliner Mauer und stürzte die Schweiz in eine tiefe Depression. Deren Sinnbild bleibt die Selbstdarstellung auf der Weltausstellung 1992 unter dem Motto "La Suisse n'existe pas". Den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR lehnte das heillos zerstrittene Land ganz knapp ab, zwischen den Landesteilen tobte ein rhetorischer Bürgerkrieg. Schließlich geriet die Schweiz wegen ihres Verhaltens im Weltkrieg auf die Anklagebank der Weltöffentlichkeit. Zur Aufklärung ihrer Vergangenheit setzte sie die von Jean-François Bergier geleitete Historikerkommission ein.
Seit der Veröffentlichung ihres Schlussberichts gibt es in der Schweiz ein großes Bedürfnis nach neuen Darstellungen der nationalen Geschichte. Auf Französisch sind innerhalb kürzester Zeit mehrere Bücher erschienen. Neben Georges Andreys "Histoire de la Suisse pour les nuls" (First Verlag) mit mehreren zehntausend verkauften Exemplaren schaffte es auch die Journalistin Joëlle Kuntz auf die Bestsellerlisten. Ihre "Schweizer Geschichte - einmal anders" (Verlag Tobler) wurde auf Deutsch übersetzt und ist in zweiter Auflage erhältlich. Gleichzeitig publizierte der emeritierte Genfer Ideenhistoriker Alfred Berchtold eine Studie über den eidgenössischen "Widerstandskämpfer und Weltenbürger" ("Guillaume Tell", Editions Zoé). Sie ist auch ein Versuch, die traditionelle Geschichtsschreibung gegen die Demontage der Mythen zu verteidigen, ohne an die Legenden zu glauben.
2010 brachte Thomas Maissen - wie Volker Reinhardt - seine "Kleine Geschichte der Schweiz" (Verlag Hier und Jetzt) heraus. Sie wurde von Peter von Matt und der Kritik als Standardwerk gelobt. Maissen ist Schweizer und lehrt in Heidelberg, der Norddeutsche Reinhardt ist Professor an der Universität Fribourg. Beide Werke sind sehr stark auf die Gründungsmythen der helvetischen Geschichte konzentriert. Ihre Dekonstruktion war das epochale und konfliktträchtige Unterfangen der Nachkriegskultur - unter Beteiligung von Max Frisch. Jetzt ist sie fast offizielle Geschichte geworden.
"Nicht schon wieder!": Mit einem Stoßseufzer beginnt die Rezension von Volker Reinhardts drittem Streich in der "Neuen Zürcher Zeitung". Seine "Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute" ist plakativ aufgemacht und mehr als 500 Seiten lang, mit roten Titeln, bei jedem Kapitelanfang nickt das Matterhorn auf eineinhalb Seiten dem geneigten Leser zu. Auf dem Umschlag weht eine Schweizer Fahne im Wind. Das Cover des eleganten "kleinen" Essays - ohne Fußnoten und Anmerkungen - mit Schloss Chillon am Genfer See und den Alpen illustrierte wohl eher unbewusst einen Aspekt, der Reinhardt gegenüber Maissen auszeichnet: Er hat auf selbstverständlichere Art und Weise die gesamte Schweiz im Blick. In anderen Punkten ist seine Darstellung weniger ergiebig als jene des Kollegen.
Wie auch immer: "Den hochgesteckten Anspruch, ,die' Geschichte der Schweiz zu erzählen, löst er nicht ein", kritisiert die NZZ. Ihr Rezensent rügt die "schlecht reproduzierten, fast allesamt bereits vorliegenden Büchern entnommenen Abbildungen". Kurzum: "Solche Bücher könnten auch von Wissenschaftsjournalisten verfasst werden, vorausgesetzt natürlich, sie beherrschten das Handwerk und würden ausreichend finanziert." Der etwas merkwürdige Vergleich mit den Journalisten zielt auf die "Emigration zahlreicher akademischer und anderswie qualifizierter Arbeitskräfte in die Schweiz", Reinhardts Landsleute werden als Zielpublikum ausgemacht: "Leser, die mit der Materie wenig vertraut sind und wohl auch nicht allzu tief in diese eintauchen wollen." Ja, "dieses Buch wurde für einen deutschen Markt hergestellt" - auf welchem alle drei Schweiz-Titel des Historikers lieferbar sind.
Dass es auch für den Band "Schweiz" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt einen Markt geben möge, ist ihm sehr zu wünschen. Als Herausgeberin zeichnet Rita Schneider-Sliwa, die in Aachen studierte, in den Vereinigten Staaten arbeitete und heute an der Universität Basel wirkt. Sie hat zahlreiche Mitarbeiter gewinnen können, die glücklicherweise von akademischen Institutionen finanziert werden. Behandelt werden die traditionellen Bereiche der Länderkunde; den Alpen wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Banken. Den historischen Überblick, der Maissen und Reinhardt bestätigt, leistet Georg Kreis: "Geschichte der Schweiz - ein Mythos?" Kreis, Mitglied der Bergier-Kommission, befasst sich auch mit Europa: "Die Rechte (SVP) ist eine entschiedene Beitrittsgegnerin, die Linke ist eine engagierte Beitrittsbefürworterin, während die beiden Mitteparteien schwanken." Diese Einschätzung trifft nicht mehr wirklich zu.
Wichtiger allerdings ist, dass es auch den Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz nicht mehr gibt. Der Druck von außen hat das Land zusammengeschweißt wie einst im Krieg. Die Ablehnung Europas ist in den französischsprachigen Kantonen inzwischen genauso virulent. Und der Vormarsch der Mundart wird nicht mehr als nationales Ärgernis und Diskriminierung der Minderheiten bekämpft. Das exzellente Buch des in Berlin lebenden früheren Westschweizer TV-Korrespondenten und Chefredakteurs José Ribeaud ("La Suisse plurilingue se dégulingue", F.A.Z. von 7. Juni 2010) wurde von einem renommierten Verlag in Zürich vollständig übersetzt. Aber nicht veröffentlicht: Für die Kritik an der Deutschschweiz gäbe es weder Leser noch Käufer, wurde dem Autor beschieden.
Der Röschtigraben wird zugeschüttet, dafür errichtet die Schweiz rund ums ganze Land eine unsichtbare Sprach-Mauer: Mit dem Dialekt schottet sie sich nicht nur von Deutschland ab, Peer Steinbrück hatte den Indianern in ihrem "Réduit" mit der Kavallerie gedroht. Die Schweizerische Volkspartei will im einst separatistischen Jura die Mundart im frankophonen Kindergarten einführen. Für José Ribeau ist sie zum neuen eidgenössischen Tabu geworden: Die Kritik an ihr ist so unmöglich wie in früheren Zeiten jene an Wilhelm Tell. Sogar das Bankgeheimnis ist tot: Maissen datiert sein Ende auf den 13. März 2009. Volker Reinhardt sieht in seinem Schlusskapitel bereits die neuen Mythen blühen: das Rote Kreuz und der Gotthard. Er führt seine Datentafel bis zum Verbot neuer Minarette. "Die Schweiz ist sich einig über die Geschichte und überwiegend im Reinen mit ihr", stellt er fest: "Schulen und Medien vermitteln das Bild eines bruchlosen Verlaufs mit dem vorgegebenen Endziel der vollendeten Demokratie."
JÜRG ALTWEGG.
Volker Reinhardt: "Die Geschichte der Schweiz". Von den Anfängen bis heute.
Verlag C.H. Beck, München 2011. 512 S., Abb., geb., 34,95 [Euro].
Rita Schneider-Sliwa (Hrsg.): "Schweiz". Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik.
WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011. 240 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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