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Zeitgeist ohne ästhetische Erfahrung: Tobi Lakmaker erzählt von seiner weiblichen Vergangenheit
"Wenn du bei einem Verlag unterkommen willst, sagst du am besten, dass du eine erfrischende Persönlichkeit hast. Dann horchen sie auf. Die Kunst liegt darin, danach sehr subtil einfließen zu lassen, dass du auch gerne mal was schreiben würdest. Ihr könnt mir ruhig glauben. Bei mir hat das auch geklappt." Diese Sätze sind stellvertretend für Stil und Problematik des Romans "Die Geschichte meiner Sexualität" von Tobi Lakmaker. Er ist 2021 in den Niederlanden von Sofie Lakmaker, geboren 1994 in Amsterdam, veröffentlicht worden - danach wechselte sie das Geschlecht. Der Roman stellt die Fortführung der persönlichen Probleme der Autorin mit anderen Mitteln dar. Es hat den Anschein, als hätte Sofie Lakmaker ein Buch publiziert, um in ihrem Bekannten- und Freundeskreis in Amsterdam im Gespräch zu bleiben oder sich als Sprecherin der Gruppe zu etablieren. Der Ausdruck "Roman" dient dabei eher als juristischer Schutz, um die realen Bezüge zum sozialen Umfeld zu verschleiern.
Gleichaltrige sollen die Möglichkeit bekommen, sich mit einer Person zu identifizieren, sich mit Erfahrungen zu konfrontieren, die sie selbst erlebt haben oder noch erleben könnten. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive. Es geht um eine Heranwachsende, die ihre Liebe zum eigenen Geschlecht entdeckt, Zeitraum ist Schule und Studium. An wenigen Stellen wird bereits der Wunsch artikuliert, das Geschlecht zu wechseln. Ein Schwerpunkt liegt in der Schilderung sexueller Erlebnisse mit Männern wie Frauen, ebenso geht es um Konflikte mit Autoritäten. Der Ort ist Amsterdam, aber auch Reisen spielen eine Rolle. Am Schluss des Buchs wird der Krebstod der Mutter beschrieben.
All diese Ereignisse sind inflationiert erzählt, was bedeutet, dass sie sich in ihrer Bedeutung gegenseitig neutralisieren. Das erzählende Subjekt kann nur schwer Beziehungen herstellen zwischen dem Ereignis und dem Gefühl, das durch die jeweilige Erfahrung ausgelöst wird. Eine Situation mit der dementen Großmutter, die darum bittet, dass die Protagonistin zu einer christlicheren Zeit vorbeikommen möge, obwohl es 15 Uhr ist, wird als "lustig" beschrieben. Lakmaker fehlen häufig die Worte, um ambivalente Erfahrungen adäquat auszudrücken, sie greift auf Phrasen und Floskeln zurück, die meist ironisch gemeint sind und mündlich in Gebrauch sind. Deren Ungenauigkeiten in alltäglichen sozialen Kontakten sind aber in literarischer Form nur schwer zu ertragen. Deshalb handelt es sich bei "Die Geschichte meiner Sexualität" auch weniger um einen literarischen Versuch, sondern eher um ein Buch aus dem Bereich der sozialen Medien.
Ein weiteres Problem besteht in der fehlenden Verallgemeinerbarkeit von Einsichten: "Mein Bruder war an jenem Abend auch da, und der hat einen Bart. Wenn man einen Bart hat, gibt einem jeder alles. Dann kann man nichts mehr falsch machen." Sicher kann ein junger Mensch die Erfahrung gemacht haben, dass Bartträger Privilegien genießen, aber es ist schwer, das als generelle Erkenntnis zu formulieren. Die Einsicht wirkt idiosynkratisch.
"Die Geschichte meiner Sexualität" ist Zielgruppenliteratur: für Leser zwischen fünfzehn und dreißig Jahren, die Orientierung suchen bei der Frage, zu welchem Geschlecht sie gehören wollen. Diese Rat gebende Funktion des Buches wird deutlich durch häufig eingestreute "Tipps" an die Lesegemeinde. Auch diese Hinweise sind teilweise nichtssagend, so etwa, wenn die Protagonistin mit Blick auf ihre Essstörung den Lesern rät, sie sollten das Essen bei sich behalten.
Letztlich handelt es sich um ein Buch ohne Einfälle. Die Protagonistin studiert Philosophie, bei Wittgenstein ist sie der Meinung, dass er "sehr gerne recht haben" wollte. Über die Beschäftigung mit dem "Tractatus logico-philosophicus" heißt es: "Niemand stieg da durch, und das fand ich eigentlich ziemlich lustig." Dann schreibt sie: "Trotzdem ist das meiner Meinung nach ein sehr schönes Buch." Die Gedanken brechen an den Stellen ab, wo weitere Ausführungen nötig gewesen wären. Sie bleiben unerklärt und weisen zurück auf die Persönlichkeit der Protagonistin, auf den Menschen hinter dem Buch, auf die Schriftstellerin. Man muss deren Lebenswelt teilen, um die Gedanken und Gefühle der Erzählerin zu verstehen.
Will man Verbindungen ziehen zu literarischen Traditionen, so wären es Bücher, die das Heranwachsen schildern, die auch von Lakmaker genannt werden, also "David Copperfield" von Charles Dickens oder "Der Fänger im Roggen" von J. D. Salinger. Ähnlichkeiten ergeben sich zur Beatliteratur in der Atemlosigkeit, mit der die Ereignisse geschildert werden, und in der Idee, dass Lebenserfahrung die Grundlage von Literatur ist. Was in "Die Geschichte meiner Sexualität" geschildert wird, haben auch andere Heranwachsende so oder so ähnlich erfahren. Das Buch bietet keine unerhörten Begebenheiten, man könnte es sich als Folge von Kolumnen in einer Zeitschrift vorstellen. Es dokumentiert den Geist der Zeit, ohne ästhetische Erfahrung zu transportieren. THOMAS COMBRINK
Tobi Lakmaker:
"Die Geschichte meiner Sexualität". Roman.
Aus dem Niederländischen von Christa Brunnenkamp. Piper Verlag, München 2022. 224 S., geb., 20,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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