»Der Kampf im Peloton ist voll entbrannt. Alle Helfer versuchen, ihre Kapitäne im entscheidenden Moment in die bestmögliche Position zu bringen. Sie opfern sich selbst. Ein paar Ausreißer können sich lösen und wehren sich mit aller Macht dagegen, vom Hauptfeld wieder eingefangen zu werden. Trotz ihrer gegenseitigen Rivalität müssen die Fahrer in der Fluchtgruppe zusammenarbeiten und ihre Bemühungen aufeinander abstimmen, wenn sie ihren Vorsprung halten wollen. Es wird nur einen Sieger geben, aber niemand kann darauf hoffen, als Erster die Ziellinie zu überqueren, ohne sich auf die Arbeit der anderen zu verlassen.« Als Individualsport, der in Mannschaften ausgeübt wird, führt uns der Radsport zurück zu unseren tiefsten Widersprüchen. Wie jede menschliche Organisation besteht auch das Peloton aus verschiedenen »sozialen Klassen« - von den beschützten, hofierten Kapitänen bis hin zum Velo-Proletariat der Wasserträger. Es ist ein streng hierarchisches Universum geprägt von Machtspielen, Koalitionen auf Zeit und gegenseitiger Hilfe, in dem alle Triebe sich verschärfen und man dennoch irgendwie miteinander auskommen muss. Guillaume Martin, Achter der Tour de France 2021, hat im Laufe seiner Profikarriere gelernt, wie man sich in dieser Welt zu bewegen hat. Und so formuliert der französische Radrennfahrer, der sich durch seine Erzählung »Sokrates auf dem Rennrad« und als Kolumnist von Le Monde einen Namen als »Velosoph« gemacht hat, nun anhand des Pelotons eine Philosophie des Einzelnen in der Gruppe - und findet dabei Antworten auf hochaktuelle Fragen, die weit über den Sport hinausreichen. Wie kann man Teil einer Gruppe sein, ohne seine persönlichen Ambitionen aufzugeben? Ähneln wir in dieser Zeit, in der sich etliche globale Krisen - ökologische, gesundheitliche, ideologische - zuspitzen, nicht auf bedenkliche Weise einem uneinsichtigen Radrennfahrer, der seine eigenen Interessen voranstellt, ohne zu erkennen, dass dies der gesamten Gemeinschaft schadet? Kann uns etwa ausgerechnet der Mikrokosmos des Radsports etwas darüber lehren, was in diesem großen Peloton, das wir Gesellschaft nennen, heute auf dem Spiel steht? . Ein Spitzensportler als Essayist: Frankreichs Tour-de-France-Hoffnung formuliert eine Philosophie des Einzelnen in der Gruppe. . Ein kluges, originelles Sportbuch, das aus dem Rahmen fällt - von einem aktiven Radprofi selbst verfasst. . Eine hochaktuelle Frage (die für Radrennfahrer seit jeher im Kern ihrer Profession steht): Wie kann man zusammenleben und Teil einer Gemeinschaft sein, ohne sich selbst zu opfern und seine persönlichen Ambitionen aufzugeben?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2022"Brutale Animalität"
Radprofi und Philosoph Guillaume Martin über Egoismus und Solidarität
Was tun in einer Gesellschaft, die auf Solidarität angewiesen ist, in der aber genau das Gegenteil, also Egoismus, belohnt wird? Diese Frage, die so elementar für das gegenwärtige Zusammenleben zu sein scheint, da der (liberale) Staat sich eben nicht als vollumfänglicher Unterstützer erweist, seine Aufgaben vielmehr zuhauf von Ehrenämtern, Stiftungen oder anderen Institutionen wie der Kirche übernommen werden, diese Frage kann auch auf den Radsport übertragen werden, folgt man dem französischen Spitzenfahrer und Philosophen Guillaume Martin. Denn als Individualsport, der in Mannschaften ausgeübt wird, steht der Radrennfahrer vor einem Dilemma: Nur einer, der Sieger, erhält den Ruhm. Gewinnen kann der Einzelne aber nur dank der Unterstützung seiner Mitstreiter. Der Radprofi muss also zweierlei zugleich tun: zum Wohlergehen des Pelotons beitragen, ohne sich selbst zu opfern und seine persönlichen Ambitionen aufzugeben. Geht das?
Martin stellt sich dieser Frage in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Essay "Die Gesellschaft des Pelotons - eine Philosophie des Einzelnen in der Gruppe" auf zweierlei Weise. Er blickt zurück auf Erfahrungen seiner Karriere sowie auf die Historie des Radsports und verwebt dies mit anthropologischen und philosophischen Versatzstücken prominenter Denker. So wird beispielsweise der Tour-Sieg Greg LeMonds 1986 auf ein Versprechen seines Kapitäns Bernard Hinault zurückgeführt, der seinem langjährigen Adjutanten zusagte, diesmal ihm zum ersten Sieg zu verhelfen, statt die Frankreich-Rundfahrt zum sechsten Mal in Serie zu gewinnen. Ein klarer Fall von symbolischer Tauschbeziehung, resümiert Martin und führt die Gabentheorie von Marcel Mauss an. Zwischen dem Franzosen Hinault und dem Amerikaner Le Mond entstand ein Schuldverhältnis, das den Kollegen verpflichtete, dem Helfenden bei nächster Gelegenheit noch mehr zu helfen. Martin selbst berichtet von einer in Führung liegenden gemeinsamen Zieleinfahrt mit einem Mannschaftskollegen, der ihm bewusst den Sieg überließ, dafür aber erwartete, dass Martin als Chef der Mannschaft für ihn sorgt: Der auslaufende Vertrag des aus freien Stücken vom Sieg zurückgetretenen Teamkollegen stand zur Verlängerung an.
Auf solche Weisen bilden sich im Mikrokosmos Peloton Abhängigkeitsverhältnisse, es kommt zu Machtspielen und zu kurzzeitigen Koalitionen, die ausschließlich durch die heterogenen Interessen der Individuen geprägt sind. Ziel aller Protagonisten ist es, aus dem Leben in der Gemeinschaft den größtmöglichen Vorteil zu ziehen. Letztlich haben wir es demnach auch beim Radsport mit einem knallharten Business zu tun, in dem die Absichten Einzelner nach Nutzen abgewogen oder getauscht werden. Und in der sich beinahe soziale Klassen - also starke Hierarchien - bilden, die schließlich auch mit Hegels Dialektik von Herr und Knecht analogisiert werden können. Martin plädiert deswegen für einen "authentischen Egoismus" und versteht darunter eine demütige, aber singuläre Verfolgung seiner persönlichen Interessen - man soll Akteur seiner selbst bleiben und sich nicht im Kollektiv auflösen. Zu Solidarität, von der Moral des Sports eingefordert, finden die Profis dagegen immer wieder. "Resolidarisierung", wie Martin das nennt, bezeichnet einen fortlaufenden Prozess der Wiederverbindung mit anderen und sich selbst.
Den Profi von Cofidis auf seiner bergigen und exkurslastigen Denketappe zu begleiten, macht Spaß, wirkt mitunter aber etwas verworren. Manchmal hat es den Anschein, als suche der philosophierende Radrennfahrer zwanghaft nach Parallelen zwischen Geistesgeschichte, Alltagsphänomenen und seinem Sport. So verwundert es nicht, dass er fast schon nebenbei versucht, solche Fragen von enormer politischer Tragkraft zu beantworten wie beispielsweise die nach der ausbleibenden Revolution der Unterdrückten oder der vermeintlichen Schwäche einer bloß auf Wahlen fokussierenden Demokratie. Spannender ist, wie man an seinen persönlichen Schilderungen seine Zerrissenheit mit Blick auf die Ausgangsfrage ablesen kann. Auf den ersten Seiten hängt er dem Sport allgemein (oder spricht er doch nur vom Radrennfahren?) eine Ideologie des Kollektivs an, schreibt von der "Unterwerfung des Individuums unter die Gruppe" - und dass der Sport heute eine bestimmte Funktion erfülle: "die Kräfte des Kollektivs an erste Stelle zu setzen und das Streben nach individuellen Zielen zum Schweigen zu bringen". Gewinnen, so Martin dagegen, sei ein großartiges Vergnügen - "mein Vergnügen". Dabei hebt er hervor, als Rennfahrer ein anderer Mensch zu sein, "auf seine brutale Animalität" zurückgeworfen.
Es sind diese intimen Beobachtungen, die es letztlich erlauben, einen authentischen Eindruck über die Gesellschaft des Pelotons zu erhalten - und die uns womöglich mehr über das "große" Peloton, das wir Gesellschaft nennen, verraten als die so zahlreich im Buch gezogenen philosophischen Analogien. FREDERIC ZAUELS
Besprochenes Buch: Guillaume Martin, "Die Gesellschaft des Pelotons - Eine Philosophie des Einzelnen in der Gruppe", aus dem Französischen von Christoph Sanders, Covadonga Verlag, 2022, 192 Seiten, 16,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Radprofi und Philosoph Guillaume Martin über Egoismus und Solidarität
Was tun in einer Gesellschaft, die auf Solidarität angewiesen ist, in der aber genau das Gegenteil, also Egoismus, belohnt wird? Diese Frage, die so elementar für das gegenwärtige Zusammenleben zu sein scheint, da der (liberale) Staat sich eben nicht als vollumfänglicher Unterstützer erweist, seine Aufgaben vielmehr zuhauf von Ehrenämtern, Stiftungen oder anderen Institutionen wie der Kirche übernommen werden, diese Frage kann auch auf den Radsport übertragen werden, folgt man dem französischen Spitzenfahrer und Philosophen Guillaume Martin. Denn als Individualsport, der in Mannschaften ausgeübt wird, steht der Radrennfahrer vor einem Dilemma: Nur einer, der Sieger, erhält den Ruhm. Gewinnen kann der Einzelne aber nur dank der Unterstützung seiner Mitstreiter. Der Radprofi muss also zweierlei zugleich tun: zum Wohlergehen des Pelotons beitragen, ohne sich selbst zu opfern und seine persönlichen Ambitionen aufzugeben. Geht das?
Martin stellt sich dieser Frage in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Essay "Die Gesellschaft des Pelotons - eine Philosophie des Einzelnen in der Gruppe" auf zweierlei Weise. Er blickt zurück auf Erfahrungen seiner Karriere sowie auf die Historie des Radsports und verwebt dies mit anthropologischen und philosophischen Versatzstücken prominenter Denker. So wird beispielsweise der Tour-Sieg Greg LeMonds 1986 auf ein Versprechen seines Kapitäns Bernard Hinault zurückgeführt, der seinem langjährigen Adjutanten zusagte, diesmal ihm zum ersten Sieg zu verhelfen, statt die Frankreich-Rundfahrt zum sechsten Mal in Serie zu gewinnen. Ein klarer Fall von symbolischer Tauschbeziehung, resümiert Martin und führt die Gabentheorie von Marcel Mauss an. Zwischen dem Franzosen Hinault und dem Amerikaner Le Mond entstand ein Schuldverhältnis, das den Kollegen verpflichtete, dem Helfenden bei nächster Gelegenheit noch mehr zu helfen. Martin selbst berichtet von einer in Führung liegenden gemeinsamen Zieleinfahrt mit einem Mannschaftskollegen, der ihm bewusst den Sieg überließ, dafür aber erwartete, dass Martin als Chef der Mannschaft für ihn sorgt: Der auslaufende Vertrag des aus freien Stücken vom Sieg zurückgetretenen Teamkollegen stand zur Verlängerung an.
Auf solche Weisen bilden sich im Mikrokosmos Peloton Abhängigkeitsverhältnisse, es kommt zu Machtspielen und zu kurzzeitigen Koalitionen, die ausschließlich durch die heterogenen Interessen der Individuen geprägt sind. Ziel aller Protagonisten ist es, aus dem Leben in der Gemeinschaft den größtmöglichen Vorteil zu ziehen. Letztlich haben wir es demnach auch beim Radsport mit einem knallharten Business zu tun, in dem die Absichten Einzelner nach Nutzen abgewogen oder getauscht werden. Und in der sich beinahe soziale Klassen - also starke Hierarchien - bilden, die schließlich auch mit Hegels Dialektik von Herr und Knecht analogisiert werden können. Martin plädiert deswegen für einen "authentischen Egoismus" und versteht darunter eine demütige, aber singuläre Verfolgung seiner persönlichen Interessen - man soll Akteur seiner selbst bleiben und sich nicht im Kollektiv auflösen. Zu Solidarität, von der Moral des Sports eingefordert, finden die Profis dagegen immer wieder. "Resolidarisierung", wie Martin das nennt, bezeichnet einen fortlaufenden Prozess der Wiederverbindung mit anderen und sich selbst.
Den Profi von Cofidis auf seiner bergigen und exkurslastigen Denketappe zu begleiten, macht Spaß, wirkt mitunter aber etwas verworren. Manchmal hat es den Anschein, als suche der philosophierende Radrennfahrer zwanghaft nach Parallelen zwischen Geistesgeschichte, Alltagsphänomenen und seinem Sport. So verwundert es nicht, dass er fast schon nebenbei versucht, solche Fragen von enormer politischer Tragkraft zu beantworten wie beispielsweise die nach der ausbleibenden Revolution der Unterdrückten oder der vermeintlichen Schwäche einer bloß auf Wahlen fokussierenden Demokratie. Spannender ist, wie man an seinen persönlichen Schilderungen seine Zerrissenheit mit Blick auf die Ausgangsfrage ablesen kann. Auf den ersten Seiten hängt er dem Sport allgemein (oder spricht er doch nur vom Radrennfahren?) eine Ideologie des Kollektivs an, schreibt von der "Unterwerfung des Individuums unter die Gruppe" - und dass der Sport heute eine bestimmte Funktion erfülle: "die Kräfte des Kollektivs an erste Stelle zu setzen und das Streben nach individuellen Zielen zum Schweigen zu bringen". Gewinnen, so Martin dagegen, sei ein großartiges Vergnügen - "mein Vergnügen". Dabei hebt er hervor, als Rennfahrer ein anderer Mensch zu sein, "auf seine brutale Animalität" zurückgeworfen.
Es sind diese intimen Beobachtungen, die es letztlich erlauben, einen authentischen Eindruck über die Gesellschaft des Pelotons zu erhalten - und die uns womöglich mehr über das "große" Peloton, das wir Gesellschaft nennen, verraten als die so zahlreich im Buch gezogenen philosophischen Analogien. FREDERIC ZAUELS
Besprochenes Buch: Guillaume Martin, "Die Gesellschaft des Pelotons - Eine Philosophie des Einzelnen in der Gruppe", aus dem Französischen von Christoph Sanders, Covadonga Verlag, 2022, 192 Seiten, 16,80 Euro.
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»Martins Werk regt zum Denken an - aber nicht nur. Die anekdotischen Episoden aus seiner und der Karriere großer Radfahrer sind unterhaltsam - auch für Nichtradler.« - Pia Wertheimer, Tagesanzeiger, 20.12.2022